Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtschaft.
hat selbständige Organe, ein selbständiges Vermögen, eine eigene Kasse, sie hat eine
Sphäre freier Thätigkeit, wenn sie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-
cisierten Rechtssphäre gegenübersteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.

Die heutige Gemeinde ist keine geschlossene Genossenschaft, die beliebig die Auf-
nahme verweigern, den Abzug erschweren kann. Sie muß nach den Grundsätzen der
heutigen Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den
Staatsgesetzen sich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,
eine ganz selbständige Wirtschaftspolitik verfolgen; sie kann in ihren Gliedern nicht mehr
den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus
erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden sind häufig heute an anderem Orte geboren,
was freilich nicht ausschließt, daß die meisten älteren, am Orte schon Jahre lang An-
sässigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde so enge verwachsen, daß aus dem
Kreise dieser heraus eine gesunde Kommunalverwaltung entsteht, wie sie unsere neueren
Städteordnungen und Gemeindegesetze herzustellen suchen. Die Gemeindeverfassung jedes
Landes ist nicht bloß politisch und social von der größten Bedeutung, sondern auch
wirtschaftlich. Wo ein gesundes, kräftiges Kommunalleben besteht, wo die gebildeten
und besitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterstande herab, zum unbezahlten
Ehrendienste für die Gemeinde herangezogen werden, da entsteht in der Bürgerschaft ein
kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klassen die Interessen der unteren
aus eigener Anschauung kennen, da erhält der egoistische Erwerbstrieb der einzelnen sein
notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einsicht in
den engen Zusammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander
und die Abhängigkeit aller von der gemeinsamen guten oder schlechten Lokalverwaltung.

Die wirtschaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde sind nicht mehr dieselben
wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute
eine viel selbständigere Wirtschaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide
haben nicht mehr bloß lokale Interessen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-
politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn sind die Dorf-
wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, sondern durch das enge Wohnen, durch die
Fortschritte der Technik, durch das zunehmende geistige Leben, durch die wachsende Be-
deutung gemeinsamer Veranstaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität
und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen ist gewachsen, und damit haben sich
die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, so viel sie andererseits an größere Verbände
und den Staat abgegeben haben.

Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde sei ein wirtschaftlicher
Nachbarverband, der Staat ein Herrschaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das
Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre
gegenseitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu
können. Aber auch der Staat wirtschaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundsätzen
und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide sind wesensverwandte
Gebietskörperschaften; nur das ist richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-
organisation voransteht, bei der Gemeinde die gemeinsamen wirtschaftlichen Aufgaben.

Wir werden unten noch davon zu sprechen haben, wie neuerdings die wirtschaft-
lichen Gemeindeaufgaben gewachsen sind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigste:
die Regulierung des Trinkwassers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-
wesen, die Pflasterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-
und Schulverwaltung, die Armenunterstützung, das sind die wichtigsten der neueren
wirtschaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meist stehen darunter drei voran: das
Wege- und Verkehrswesen, das Schulwesen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im
Jahre 1883--84 gaben die sämtlichen preußischen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark
65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anstalten, 62 für Unterricht,
36 für Armenwesen, zusammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke kosteten
folgende Summen: 18 Mill. die staatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das
Schuldenwesen; der Rest verteilte sich auf verschiedene Aufgaben.

Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft.
hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eine
Sphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-
ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.

Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf-
nahme verweigern, den Abzug erſchweren kann. Sie muß nach den Grundſätzen der
heutigen Freizügigkeit und Niederlaſſungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den
Staatsgeſetzen ſich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,
eine ganz ſelbſtändige Wirtſchaftspolitik verfolgen; ſie kann in ihren Gliedern nicht mehr
den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus
erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden ſind häufig heute an anderem Orte geboren,
was freilich nicht ausſchließt, daß die meiſten älteren, am Orte ſchon Jahre lang An-
ſäſſigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde ſo enge verwachſen, daß aus dem
Kreiſe dieſer heraus eine geſunde Kommunalverwaltung entſteht, wie ſie unſere neueren
Städteordnungen und Gemeindegeſetze herzuſtellen ſuchen. Die Gemeindeverfaſſung jedes
Landes iſt nicht bloß politiſch und ſocial von der größten Bedeutung, ſondern auch
wirtſchaftlich. Wo ein geſundes, kräftiges Kommunalleben beſteht, wo die gebildeten
und beſitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterſtande herab, zum unbezahlten
Ehrendienſte für die Gemeinde herangezogen werden, da entſteht in der Bürgerſchaft ein
kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klaſſen die Intereſſen der unteren
aus eigener Anſchauung kennen, da erhält der egoiſtiſche Erwerbstrieb der einzelnen ſein
notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einſicht in
den engen Zuſammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander
und die Abhängigkeit aller von der gemeinſamen guten oder ſchlechten Lokalverwaltung.

Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben
wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute
eine viel ſelbſtändigere Wirtſchaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide
haben nicht mehr bloß lokale Intereſſen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-
politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn ſind die Dorf-
wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, ſondern durch das enge Wohnen, durch die
Fortſchritte der Technik, durch das zunehmende geiſtige Leben, durch die wachſende Be-
deutung gemeinſamer Veranſtaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität
und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen iſt gewachſen, und damit haben ſich
die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, ſo viel ſie andererſeits an größere Verbände
und den Staat abgegeben haben.

Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher
Nachbarverband, der Staat ein Herrſchaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das
Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre
gegenſeitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu
können. Aber auch der Staat wirtſchaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundſätzen
und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide ſind weſensverwandte
Gebietskörperſchaften; nur das iſt richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-
organiſation voranſteht, bei der Gemeinde die gemeinſamen wirtſchaftlichen Aufgaben.

Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft-
lichen Gemeindeaufgaben gewachſen ſind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigſte:
die Regulierung des Trinkwaſſers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-
weſen, die Pflaſterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-
und Schulverwaltung, die Armenunterſtützung, das ſind die wichtigſten der neueren
wirtſchaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meiſt ſtehen darunter drei voran: das
Wege- und Verkehrsweſen, das Schulweſen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im
Jahre 1883—84 gaben die ſämtlichen preußiſchen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark
65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anſtalten, 62 für Unterricht,
36 für Armenweſen, zuſammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke koſteten
folgende Summen: 18 Mill. die ſtaatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das
Schuldenweſen; der Reſt verteilte ſich auf verſchiedene Aufgaben.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0331" n="315"/><fw place="top" type="header">Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirt&#x017F;chaft.</fw><lb/>
hat &#x017F;elb&#x017F;tändige Organe, ein &#x017F;elb&#x017F;tändiges Vermögen, eine eigene Ka&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ie hat eine<lb/>
Sphäre freier Thätigkeit, wenn &#x017F;ie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-<lb/>
ci&#x017F;ierten Rechts&#x017F;phäre gegenüber&#x017F;teht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.</p><lb/>
          <p>Die heutige Gemeinde i&#x017F;t keine ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, die beliebig die Auf-<lb/>
nahme verweigern, den Abzug er&#x017F;chweren kann. Sie muß nach den Grund&#x017F;ätzen der<lb/>
heutigen Freizügigkeit und Niederla&#x017F;&#x017F;ungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den<lb/>
Staatsge&#x017F;etzen &#x017F;ich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,<lb/>
eine ganz &#x017F;elb&#x017F;tändige Wirt&#x017F;chaftspolitik verfolgen; &#x017F;ie kann in ihren Gliedern nicht mehr<lb/>
den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus<lb/>
erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden &#x017F;ind häufig heute an anderem Orte geboren,<lb/>
was freilich nicht aus&#x017F;chließt, daß die mei&#x017F;ten älteren, am Orte &#x017F;chon Jahre lang An-<lb/>
&#x017F;ä&#x017F;&#x017F;igen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde &#x017F;o enge verwach&#x017F;en, daß aus dem<lb/>
Krei&#x017F;e die&#x017F;er heraus eine ge&#x017F;unde Kommunalverwaltung ent&#x017F;teht, wie &#x017F;ie un&#x017F;ere neueren<lb/>
Städteordnungen und Gemeindege&#x017F;etze herzu&#x017F;tellen &#x017F;uchen. Die Gemeindeverfa&#x017F;&#x017F;ung jedes<lb/>
Landes i&#x017F;t nicht bloß politi&#x017F;ch und &#x017F;ocial von der größten Bedeutung, &#x017F;ondern auch<lb/>
wirt&#x017F;chaftlich. Wo ein ge&#x017F;undes, kräftiges Kommunalleben be&#x017F;teht, wo die gebildeten<lb/>
und be&#x017F;itzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiter&#x017F;tande herab, zum unbezahlten<lb/>
Ehrendien&#x017F;te für die Gemeinde herangezogen werden, da ent&#x017F;teht in der Bürger&#x017F;chaft ein<lb/>
kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Kla&#x017F;&#x017F;en die Intere&#x017F;&#x017F;en der unteren<lb/>
aus eigener An&#x017F;chauung kennen, da erhält der egoi&#x017F;ti&#x017F;che Erwerbstrieb der einzelnen &#x017F;ein<lb/>
notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Ein&#x017F;icht in<lb/>
den engen Zu&#x017F;ammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander<lb/>
und die Abhängigkeit aller von der gemein&#x017F;amen guten oder &#x017F;chlechten Lokalverwaltung.</p><lb/>
          <p>Die wirt&#x017F;chaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde &#x017F;ind nicht mehr die&#x017F;elben<lb/>
wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute<lb/>
eine viel &#x017F;elb&#x017F;tändigere Wirt&#x017F;chaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide<lb/>
haben nicht mehr bloß lokale Intere&#x017F;&#x017F;en, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-<lb/>
politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn &#x017F;ind die Dorf-<lb/>
wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, &#x017F;ondern durch das enge Wohnen, durch die<lb/>
Fort&#x017F;chritte der Technik, durch das zunehmende gei&#x017F;tige Leben, durch die wach&#x017F;ende Be-<lb/>
deutung gemein&#x017F;amer Veran&#x017F;taltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität<lb/>
und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen i&#x017F;t gewach&#x017F;en, und damit haben &#x017F;ich<lb/>
die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, &#x017F;o viel &#x017F;ie anderer&#x017F;eits an größere Verbände<lb/>
und den Staat abgegeben haben.</p><lb/>
          <p>Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde &#x017F;ei ein wirt&#x017F;chaftlicher<lb/>
Nachbarverband, der Staat ein Herr&#x017F;chaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das<lb/>
Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre<lb/>
gegen&#x017F;eitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu<lb/>
können. Aber auch der Staat wirt&#x017F;chaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrund&#x017F;ätzen<lb/>
und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide &#x017F;ind we&#x017F;ensverwandte<lb/>
Gebietskörper&#x017F;chaften; nur das i&#x017F;t richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-<lb/>
organi&#x017F;ation voran&#x017F;teht, bei der Gemeinde die gemein&#x017F;amen wirt&#x017F;chaftlichen Aufgaben.</p><lb/>
          <p>Wir werden unten noch davon zu &#x017F;prechen haben, wie neuerdings die wirt&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Gemeindeaufgaben gewach&#x017F;en &#x017F;ind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtig&#x017F;te:<lb/>
die Regulierung des Trinkwa&#x017F;&#x017F;ers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-<lb/>
we&#x017F;en, die Pfla&#x017F;terung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-<lb/>
und Schulverwaltung, die Armenunter&#x017F;tützung, das &#x017F;ind die wichtig&#x017F;ten der neueren<lb/>
wirt&#x017F;chaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und mei&#x017F;t &#x017F;tehen darunter drei voran: das<lb/>
Wege- und Verkehrswe&#x017F;en, das Schulwe&#x017F;en und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im<lb/>
Jahre 1883&#x2014;84 gaben die &#x017F;ämtlichen preußi&#x017F;chen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark<lb/>
65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige An&#x017F;talten, 62 für Unterricht,<lb/>
36 für Armenwe&#x017F;en, zu&#x017F;ammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke ko&#x017F;teten<lb/>
folgende Summen: 18 Mill. die &#x017F;taatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das<lb/>
Schuldenwe&#x017F;en; der Re&#x017F;t verteilte &#x017F;ich auf ver&#x017F;chiedene Aufgaben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0331] Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft. hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eine Sphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä- ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger. Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf- nahme verweigern, den Abzug erſchweren kann. Sie muß nach den Grundſätzen der heutigen Freizügigkeit und Niederlaſſungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den Staatsgeſetzen ſich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt, eine ganz ſelbſtändige Wirtſchaftspolitik verfolgen; ſie kann in ihren Gliedern nicht mehr den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden ſind häufig heute an anderem Orte geboren, was freilich nicht ausſchließt, daß die meiſten älteren, am Orte ſchon Jahre lang An- ſäſſigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde ſo enge verwachſen, daß aus dem Kreiſe dieſer heraus eine geſunde Kommunalverwaltung entſteht, wie ſie unſere neueren Städteordnungen und Gemeindegeſetze herzuſtellen ſuchen. Die Gemeindeverfaſſung jedes Landes iſt nicht bloß politiſch und ſocial von der größten Bedeutung, ſondern auch wirtſchaftlich. Wo ein geſundes, kräftiges Kommunalleben beſteht, wo die gebildeten und beſitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterſtande herab, zum unbezahlten Ehrendienſte für die Gemeinde herangezogen werden, da entſteht in der Bürgerſchaft ein kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klaſſen die Intereſſen der unteren aus eigener Anſchauung kennen, da erhält der egoiſtiſche Erwerbstrieb der einzelnen ſein notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einſicht in den engen Zuſammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander und die Abhängigkeit aller von der gemeinſamen guten oder ſchlechten Lokalverwaltung. Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute eine viel ſelbſtändigere Wirtſchaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide haben nicht mehr bloß lokale Intereſſen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer- politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn ſind die Dorf- wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, ſondern durch das enge Wohnen, durch die Fortſchritte der Technik, durch das zunehmende geiſtige Leben, durch die wachſende Be- deutung gemeinſamer Veranſtaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen iſt gewachſen, und damit haben ſich die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, ſo viel ſie andererſeits an größere Verbände und den Staat abgegeben haben. Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher Nachbarverband, der Staat ein Herrſchaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre gegenſeitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu können. Aber auch der Staat wirtſchaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundſätzen und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide ſind weſensverwandte Gebietskörperſchaften; nur das iſt richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts- organiſation voranſteht, bei der Gemeinde die gemeinſamen wirtſchaftlichen Aufgaben. Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft- lichen Gemeindeaufgaben gewachſen ſind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigſte: die Regulierung des Trinkwaſſers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs- weſen, die Pflaſterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen- und Schulverwaltung, die Armenunterſtützung, das ſind die wichtigſten der neueren wirtſchaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meiſt ſtehen darunter drei voran: das Wege- und Verkehrsweſen, das Schulweſen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im Jahre 1883—84 gaben die ſämtlichen preußiſchen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark 65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anſtalten, 62 für Unterricht, 36 für Armenweſen, zuſammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke koſteten folgende Summen: 18 Mill. die ſtaatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das Schuldenweſen; der Reſt verteilte ſich auf verſchiedene Aufgaben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/331
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/331>, abgerufen am 25.11.2024.