Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Wenn man näher zusieht, so war mit solcher Generalisierung freilich weit übers Ziel hinausgeschossen, so war nie die ganze Volkswirtschaft, sondern nur ein Teil der- selben mit dem Schlagworte der freien Erwerbsordnung richtig bezeichnet. Auch zur Zeit des Merkantilismus hatte der Staat nicht die Güterproduktion und den Handel in die Hand genommen, sondern sie der freien Thätigkeit der Privaten, freilich unter mancherlei teils veralteten, teils neuen Schranken überlassen. Die großen Gesetzgeber, welche die Volkswirtschaft im Sinne der freien Erwerbsordnung gestaltet hatten, wie z. B. Napoleon I., Hardenberg, hatten wohl Rechts- und Steuergleichheit, freiere Kon- kurrenz, einen freien inneren Markt und Verkehr geschaffen, Stadt und Land gleichgestellt, Adels- und Zunftprivilegien beseitigt, aber sie hatten zugleich die staatliche Gewalt, die Macht der Polizei außerordentlich gesteigert. Während man Gewerbefreiheit und freies Grundeigentum herstellte, hatte man in ganz Westeuropa, zumal in England und Frank- reich, den Verlust alter Einnahmen durch Steuern ersetzt, hauptsächlich den gesteigerten Staatsbedarf durch weitgehende Ausbildung der indirekten Steuern, der Zölle und handels- politischen Maßnahmen befriedigt und damit alles privatwirtschaftliche Getriebe in größere Abhängigkeit vom Staate gebracht als früher. Während man einige staatliche Betriebe auflöste, Domänen und Forsten an Private verkaufte, hatte man andere große staatliche Wirtschaftsinstitute und Einrichtungen, den Chausseebau, die Fluß- und Hafenregulierung, die Staatspost, die großen centralen Banken geschaffen oder weiter ausgebildet. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die gesetzliche Neuordnung des Gemeindelebens mit ihrem Ehrendienste, ihren großen wirtschaftlichen Aufgaben, die beginnende Arbeiter- schutz-, Sanitäts- und Wohnungsgesetzgebung und -polizei griff sofort oder bald tief in die persönliche und wirtschaftliche Freiheit ein, der Staatshaushalt wurde in vielen Staaten erst jetzt recht ein weitgehender Regulator der Privatwirtschaften, dehnte sich gerade in der Zeit des wirtschaftlichen Liberalismus riesenhaft aus. Und auch darüber konnte man sich nicht täuschen, daß die neue liberale Erwerbsordnung vielfach nicht von selbst, sondern gerade durch zwingende, hart einschneidende Staatsgesetze, durch die neuen reformierenden Agrar-, Gewerbe- und Berggesetze, durch das neue Arbeitsrecht, die alles mögliche, was bisher üblich war, verboten, ins Leben trat. Ebensowenig dachte man im praktischen Leben irgendwo daran, auf die allgemeine Leitung der Volkswirtschaft durch Handels- und Verkehrspolitik, durch gewerbliches Schulwesen, durch Prämien und anderes zu verzichten.
So konnte also auch in der Blütezeit der freien Erwerbsordnung, auch da, wo sie am reinsten ins Leben trat, nirgends davon die Rede sein, daß ein bloß privates, ganz freies Marktgetriebe die Volkswirtschaft ausgemacht hätte. Staat und Gemeinde, Finanz und Polizei, Steuern und Wirtschaftspolitik, Recht und Ordnung griffen stets und überall in das Getriebe ein; nur das Maß der Eingriffe, die Stelle und die Art derselben hatte gewechselt. Es war zunächst eine Änderung vollzogen, welche die ver- alteten Rechts- und Wirtschaftsinstitute und ihre Schranken nach und nach beseitigte (1789--1870) und welche daher wohl als ein Sieg der wirtschaftlichen Freiheit, der größeren wirtschaftlichen Konkurrenz bezeichnet werden konnte. Es war eine Bewegung, welche mit Recht vielfach die ältere wirtschaftliche Staatsthätigkeit eingeschränkt, auch den freien Verkehr von Staat zu Staat gefördert hatte. Aber die große Umbildung hatte von Anfang an doch auch die staatliche, centrale Wirtschaft wie die der Gemeinden gestärkt. Und sie hatte in dem Maße, wie die neuen volkswirtschaftlichen Gebilde sich vollendeten, wie die socialen und wirtschaftlichen Kämpfe wuchsen, gezeigt, daß die freie Erwerbsordnung für eine große Zahl von Menschen steigende Abhängigkeit und materielle Unfreiheit bedeutet, daß neue Schutzmaßregeln für sie nötig sind, daß Staat, Gemeinde, Zwangskorporationen und Vereine durch neue Ordnungen wieder die einzelnen binden und beschränken, durch Übernahme neuer Funktionen wieder einen zunehmenden Teil des Wirtschaftslebens für sich in Anspruch nehmen müssen.
Wir haben das hier nicht weiter zu verfolgen; wir hatten uns hauptsächlich ein Bild davon zu machen, wie die neuere Ausbildung der Volkswirtschaft in der merkanti- listischen und in der liberalen Epoche mit der zunehmenden Bedeutung des Staats-
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wenn man näher zuſieht, ſo war mit ſolcher Generaliſierung freilich weit übers Ziel hinausgeſchoſſen, ſo war nie die ganze Volkswirtſchaft, ſondern nur ein Teil der- ſelben mit dem Schlagworte der freien Erwerbsordnung richtig bezeichnet. Auch zur Zeit des Merkantilismus hatte der Staat nicht die Güterproduktion und den Handel in die Hand genommen, ſondern ſie der freien Thätigkeit der Privaten, freilich unter mancherlei teils veralteten, teils neuen Schranken überlaſſen. Die großen Geſetzgeber, welche die Volkswirtſchaft im Sinne der freien Erwerbsordnung geſtaltet hatten, wie z. B. Napoleon I., Hardenberg, hatten wohl Rechts- und Steuergleichheit, freiere Kon- kurrenz, einen freien inneren Markt und Verkehr geſchaffen, Stadt und Land gleichgeſtellt, Adels- und Zunftprivilegien beſeitigt, aber ſie hatten zugleich die ſtaatliche Gewalt, die Macht der Polizei außerordentlich geſteigert. Während man Gewerbefreiheit und freies Grundeigentum herſtellte, hatte man in ganz Weſteuropa, zumal in England und Frank- reich, den Verluſt alter Einnahmen durch Steuern erſetzt, hauptſächlich den geſteigerten Staatsbedarf durch weitgehende Ausbildung der indirekten Steuern, der Zölle und handels- politiſchen Maßnahmen befriedigt und damit alles privatwirtſchaftliche Getriebe in größere Abhängigkeit vom Staate gebracht als früher. Während man einige ſtaatliche Betriebe auflöſte, Domänen und Forſten an Private verkaufte, hatte man andere große ſtaatliche Wirtſchaftsinſtitute und Einrichtungen, den Chauſſeebau, die Fluß- und Hafenregulierung, die Staatspoſt, die großen centralen Banken geſchaffen oder weiter ausgebildet. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die geſetzliche Neuordnung des Gemeindelebens mit ihrem Ehrendienſte, ihren großen wirtſchaftlichen Aufgaben, die beginnende Arbeiter- ſchutz-, Sanitäts- und Wohnungsgeſetzgebung und -polizei griff ſofort oder bald tief in die perſönliche und wirtſchaftliche Freiheit ein, der Staatshaushalt wurde in vielen Staaten erſt jetzt recht ein weitgehender Regulator der Privatwirtſchaften, dehnte ſich gerade in der Zeit des wirtſchaftlichen Liberalismus rieſenhaft aus. Und auch darüber konnte man ſich nicht täuſchen, daß die neue liberale Erwerbsordnung vielfach nicht von ſelbſt, ſondern gerade durch zwingende, hart einſchneidende Staatsgeſetze, durch die neuen reformierenden Agrar-, Gewerbe- und Berggeſetze, durch das neue Arbeitsrecht, die alles mögliche, was bisher üblich war, verboten, ins Leben trat. Ebenſowenig dachte man im praktiſchen Leben irgendwo daran, auf die allgemeine Leitung der Volkswirtſchaft durch Handels- und Verkehrspolitik, durch gewerbliches Schulweſen, durch Prämien und anderes zu verzichten.
So konnte alſo auch in der Blütezeit der freien Erwerbsordnung, auch da, wo ſie am reinſten ins Leben trat, nirgends davon die Rede ſein, daß ein bloß privates, ganz freies Marktgetriebe die Volkswirtſchaft ausgemacht hätte. Staat und Gemeinde, Finanz und Polizei, Steuern und Wirtſchaftspolitik, Recht und Ordnung griffen ſtets und überall in das Getriebe ein; nur das Maß der Eingriffe, die Stelle und die Art derſelben hatte gewechſelt. Es war zunächſt eine Änderung vollzogen, welche die ver- alteten Rechts- und Wirtſchaftsinſtitute und ihre Schranken nach und nach beſeitigte (1789—1870) und welche daher wohl als ein Sieg der wirtſchaftlichen Freiheit, der größeren wirtſchaftlichen Konkurrenz bezeichnet werden konnte. Es war eine Bewegung, welche mit Recht vielfach die ältere wirtſchaftliche Staatsthätigkeit eingeſchränkt, auch den freien Verkehr von Staat zu Staat gefördert hatte. Aber die große Umbildung hatte von Anfang an doch auch die ſtaatliche, centrale Wirtſchaft wie die der Gemeinden geſtärkt. Und ſie hatte in dem Maße, wie die neuen volkswirtſchaftlichen Gebilde ſich vollendeten, wie die ſocialen und wirtſchaftlichen Kämpfe wuchſen, gezeigt, daß die freie Erwerbsordnung für eine große Zahl von Menſchen ſteigende Abhängigkeit und materielle Unfreiheit bedeutet, daß neue Schutzmaßregeln für ſie nötig ſind, daß Staat, Gemeinde, Zwangskorporationen und Vereine durch neue Ordnungen wieder die einzelnen binden und beſchränken, durch Übernahme neuer Funktionen wieder einen zunehmenden Teil des Wirtſchaftslebens für ſich in Anſpruch nehmen müſſen.
Wir haben das hier nicht weiter zu verfolgen; wir hatten uns hauptſächlich ein Bild davon zu machen, wie die neuere Ausbildung der Volkswirtſchaft in der merkanti- liſtiſchen und in der liberalen Epoche mit der zunehmenden Bedeutung des Staats-
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Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wenn man näher zuſieht, ſo war mit ſolcher Generaliſierung freilich weit übers
Ziel hinausgeſchoſſen, ſo war nie die ganze Volkswirtſchaft, ſondern nur ein Teil der-
ſelben mit dem Schlagworte der freien Erwerbsordnung richtig bezeichnet. Auch zur
Zeit des Merkantilismus hatte der Staat nicht die Güterproduktion und den Handel
in die Hand genommen, ſondern ſie der freien Thätigkeit der Privaten, freilich unter
mancherlei teils veralteten, teils neuen Schranken überlaſſen. Die großen Geſetzgeber,
welche die Volkswirtſchaft im Sinne der freien Erwerbsordnung geſtaltet hatten, wie
z. B. Napoleon I., Hardenberg, hatten wohl Rechts- und Steuergleichheit, freiere Kon-
kurrenz, einen freien inneren Markt und Verkehr geſchaffen, Stadt und Land gleichgeſtellt,
Adels- und Zunftprivilegien beſeitigt, aber ſie hatten zugleich die ſtaatliche Gewalt, die
Macht der Polizei außerordentlich geſteigert. Während man Gewerbefreiheit und freies
Grundeigentum herſtellte, hatte man in ganz Weſteuropa, zumal in England und Frank-
reich, den Verluſt alter Einnahmen durch Steuern erſetzt, hauptſächlich den geſteigerten
Staatsbedarf durch weitgehende Ausbildung der indirekten Steuern, der Zölle und handels-
politiſchen Maßnahmen befriedigt und damit alles privatwirtſchaftliche Getriebe in größere
Abhängigkeit vom Staate gebracht als früher. Während man einige ſtaatliche Betriebe
auflöſte, Domänen und Forſten an Private verkaufte, hatte man andere große ſtaatliche
Wirtſchaftsinſtitute und Einrichtungen, den Chauſſeebau, die Fluß- und Hafenregulierung,
die Staatspoſt, die großen centralen Banken geſchaffen oder weiter ausgebildet. Die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die geſetzliche Neuordnung des Gemeindelebens
mit ihrem Ehrendienſte, ihren großen wirtſchaftlichen Aufgaben, die beginnende Arbeiter-
ſchutz-, Sanitäts- und Wohnungsgeſetzgebung und -polizei griff ſofort oder bald tief
in die perſönliche und wirtſchaftliche Freiheit ein, der Staatshaushalt wurde in vielen
Staaten erſt jetzt recht ein weitgehender Regulator der Privatwirtſchaften, dehnte ſich
gerade in der Zeit des wirtſchaftlichen Liberalismus rieſenhaft aus. Und auch darüber
konnte man ſich nicht täuſchen, daß die neue liberale Erwerbsordnung vielfach nicht von
ſelbſt, ſondern gerade durch zwingende, hart einſchneidende Staatsgeſetze, durch die neuen
reformierenden Agrar-, Gewerbe- und Berggeſetze, durch das neue Arbeitsrecht, die alles
mögliche, was bisher üblich war, verboten, ins Leben trat. Ebenſowenig dachte man
im praktiſchen Leben irgendwo daran, auf die allgemeine Leitung der Volkswirtſchaft
durch Handels- und Verkehrspolitik, durch gewerbliches Schulweſen, durch Prämien und
anderes zu verzichten.
So konnte alſo auch in der Blütezeit der freien Erwerbsordnung, auch da, wo
ſie am reinſten ins Leben trat, nirgends davon die Rede ſein, daß ein bloß privates,
ganz freies Marktgetriebe die Volkswirtſchaft ausgemacht hätte. Staat und Gemeinde,
Finanz und Polizei, Steuern und Wirtſchaftspolitik, Recht und Ordnung griffen ſtets
und überall in das Getriebe ein; nur das Maß der Eingriffe, die Stelle und die Art
derſelben hatte gewechſelt. Es war zunächſt eine Änderung vollzogen, welche die ver-
alteten Rechts- und Wirtſchaftsinſtitute und ihre Schranken nach und nach beſeitigte
(1789—1870) und welche daher wohl als ein Sieg der wirtſchaftlichen Freiheit, der
größeren wirtſchaftlichen Konkurrenz bezeichnet werden konnte. Es war eine Bewegung,
welche mit Recht vielfach die ältere wirtſchaftliche Staatsthätigkeit eingeſchränkt, auch
den freien Verkehr von Staat zu Staat gefördert hatte. Aber die große Umbildung
hatte von Anfang an doch auch die ſtaatliche, centrale Wirtſchaft wie die der Gemeinden
geſtärkt. Und ſie hatte in dem Maße, wie die neuen volkswirtſchaftlichen Gebilde ſich
vollendeten, wie die ſocialen und wirtſchaftlichen Kämpfe wuchſen, gezeigt, daß die freie
Erwerbsordnung für eine große Zahl von Menſchen ſteigende Abhängigkeit und materielle
Unfreiheit bedeutet, daß neue Schutzmaßregeln für ſie nötig ſind, daß Staat, Gemeinde,
Zwangskorporationen und Vereine durch neue Ordnungen wieder die einzelnen binden
und beſchränken, durch Übernahme neuer Funktionen wieder einen zunehmenden Teil
des Wirtſchaftslebens für ſich in Anſpruch nehmen müſſen.
Wir haben das hier nicht weiter zu verfolgen; wir hatten uns hauptſächlich ein
Bild davon zu machen, wie die neuere Ausbildung der Volkswirtſchaft in der merkanti-
liſtiſchen und in der liberalen Epoche mit der zunehmenden Bedeutung des Staats-
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/318>, abgerufen am 22.11.2024.
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