Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die mittelalterliche Dorfgenossenschaft und ihre Wirtschaft. Privateigentume sich nähernd, blieb sie doch unter einem Agrarrechte, das mehr dieGesamt- als die Einzelinteressen im Auge hatte, auf Erhaltung prästationsfähiger Bauern- nahrungen zielte. Die Genossenschaft hatte keine gemeinsame Kasse; was sie etwa an Bußen ein- Die Ausbildung erst der territorialen, dann der großen nationalen Staatsgewalten, Der psychologische Umbildungsprozeß von dem alten genossenschaftlichen, ohne Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 19
Die mittelalterliche Dorfgenoſſenſchaft und ihre Wirtſchaft. Privateigentume ſich nähernd, blieb ſie doch unter einem Agrarrechte, das mehr dieGeſamt- als die Einzelintereſſen im Auge hatte, auf Erhaltung präſtationsfähiger Bauern- nahrungen zielte. Die Genoſſenſchaft hatte keine gemeinſame Kaſſe; was ſie etwa an Bußen ein- Die Ausbildung erſt der territorialen, dann der großen nationalen Staatsgewalten, Der pſychologiſche Umbildungsprozeß von dem alten genoſſenſchaftlichen, ohne Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 19
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Jeder einzelne Hufner<lb/> mußte wirtſchaften wie der andere; eine Stärke der Sitte, der Gebundenheit, des Gemein-<lb/> gefühls bildete ſich aus, welche die Dorfgenoſſen bis heute vielfach wie eine große Familie<lb/> mit gleichen Vorzügen und Fehlern erſcheinen läßt. Das Eindringen neuer perſönlicher<lb/> Elemente war lange ebenſo erſchwert wie der freie Tauſch- und Geſchäftsverkehr nach<lb/> außen. Die Veräußerung des Grundbeſitzes an Nichtgenoſſen war durch Näherrechte<lb/> der Verwandten und Dorfgenoſſen gehemmt.</p><lb/> <p>Die Ausbildung erſt der territorialen, dann der großen nationalen Staatsgewalten,<lb/> ſowie die der Geldwirtſchaft gab den Anſtoß zur Umbildung dieſer älteren Dorfgenoſſen-<lb/> ſchaft in die neuere Einwohner- und Ortsgemeinde, in welcher die einzelnen bäuerlichen<lb/> Familien auf ſich ſtehen, mehr und mehr für den Verkauf produzieren. Es iſt eine<lb/> Umbildung, welche in vier bis fünf Jahrhunderten langſam durch alle möglichen kleinen<lb/> Änderungen der Staats- und Gemeindeverfaſſung, der Verwaltung und des Wirtſchafts-<lb/> lebens ſich vollzog. Wir kommen auf die moderne Ortsgemeinde unten. Hier iſt nur<lb/> zu erwähnen, daß von der alten Verfaſſung mit ihrer Feldgemeinſchaft auch heute<lb/> noch in vielen europäiſchen Staaten erhebliche Reſte beſtehen. Wo die Gemeinde noch<lb/> Wald und Weide beſitzt, die Ackerſtücke der Dorfgenoſſen noch in alter Gemengelage<lb/> durcheinander liegen, wo damit der faktiſche — wenn nicht der rechtliche — Flurzwang<lb/> noch beſteht, da iſt trotz aller Zunahme des individuellen Eigentums, trotz aller Ein-<lb/> ſchränkung der alten Gemeinſchaft noch ein gut Stück der alten Zuſtände vorhanden.<lb/> Aber allerdings ſind ſie überall in voller Auflöſung begriffen. Die Teilung der All-<lb/> mende und Gemeinheiten an die einzelnen, die Güterzuſammenlegung und die Feldweg-<lb/> regulierung haben den Betrieb der einzelnen Bauern mehr oder weniger auf ſich ſelbſt<lb/> geſtellt. Es lag darin eine naturgemäße Entwickelung. Die Ausbildung der Sonder-<lb/> wirtſchaft des Bauern, der ſelbſtändig werden, gewinnen, vorwärts kommen will, war<lb/> jetzt ſo notwendig und heilſam wie einſtens die genoſſenſchaftliche Zucht, die ihn genötigt<lb/> hatte, zu wirtſchaften, zu pflügen, zu ernten, wie die anderen Genoſſen es thaten. In dem<lb/> Maße, wie die Geldwirtſchaft in die Dörfer eindrang, der Bauer anfing, mehr als bisher<lb/> für den Markt zu produzieren, mußte ſein wirtſchaftlicher Erwerbstrieb ſich entwickeln;<lb/> die alten genoſſenſchaftlichen Traditionen ſchrumpften zu einer ſtarren Sitte zuſammen,<lb/> die zunächſt neue Blüten nicht treiben konnte. Rein auf das Herkömmliche beſchränkt,<lb/> hatte der Bauer des 16.—18. Jahrhunderts kein Verſtändnis für genoſſenſchaftliche<lb/> Be- oder Entwäſſerung, für etwaige gemeinſame Unternehmungen; er war jeder Majori-<lb/> ſierung abhold. Erſt die Schule der Geldwirtſchaft, die moderne Umbildung der Dorf-<lb/> verfaſſung, die Schaffung neuer, beſſerer Dorforgane, die Fortſchritte der Technik und<lb/> des Marktes, die Hebung der ganzen Intelligenz brachten es endlich in unſerem Jahr-<lb/> hundert ſo weit, daß der ganz ſelbſtändig gewordene Bauer, der das Rechnen gelernt<lb/> hatte, Verſtändnis für Molkerei-, Maſchinen-, An- und Verkaufs-, Darlehnsgenoſſen-<lb/> ſchaften, für Güterzuſammenlegung und gemeinſame Meliorationen bekam, daß das zur<lb/> Ortsgemeinde gewordene Dorf auch die modernen Aufgaben des Wege-, Schul-, Armen-<lb/> weſens und Ähnliches übernehmen konnte.</p><lb/> <p>Der pſychologiſche Umbildungsprozeß von dem alten genoſſenſchaftlichen, ohne<lb/> Erwerbstrieb wirtſchaftenden, dann der Grundherrſchaft unterworfenen, von ihr vielfach<lb/> gedrückten und dadurch ſtumpf gewordenen Bauern zum ſchlauen Egoiſten und dann zum<lb/> rechnenden Kleinunternehmer, zum freien Grundbeſitzer der neuen Zeit und nun wieder<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 19</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [289/0305]
Die mittelalterliche Dorfgenoſſenſchaft und ihre Wirtſchaft.
Privateigentume ſich nähernd, blieb ſie doch unter einem Agrarrechte, das mehr die
Geſamt- als die Einzelintereſſen im Auge hatte, auf Erhaltung präſtationsfähiger Bauern-
nahrungen zielte.
Die Genoſſenſchaft hatte keine gemeinſame Kaſſe; was ſie etwa an Bußen ein-
nahm, verteilte oder vertrank ſie gemeinſam. Was ſie an Laſten aufzubringen hatte,
legte ſie auf die einzelnen um. Sie hatte urſprünglich keine Organe, die über ihr als
ſelbſtändige Spitze, als Perſonifikation der Korporation ſtanden; Vorſteher, Schöffen,
Gemeindeverſammlung wurden erſt langſam und nach und nach ſeit dem 15.—18. Jahr-
hundert zu einer ſolchen. Aber der genoſſenſchaftliche Geiſt war um ſo ſtärker; er erhielt
durch die Feldgemeinſchaft täglich und ſtündlich neue Nahrung. Jeder einzelne Hufner
mußte wirtſchaften wie der andere; eine Stärke der Sitte, der Gebundenheit, des Gemein-
gefühls bildete ſich aus, welche die Dorfgenoſſen bis heute vielfach wie eine große Familie
mit gleichen Vorzügen und Fehlern erſcheinen läßt. Das Eindringen neuer perſönlicher
Elemente war lange ebenſo erſchwert wie der freie Tauſch- und Geſchäftsverkehr nach
außen. Die Veräußerung des Grundbeſitzes an Nichtgenoſſen war durch Näherrechte
der Verwandten und Dorfgenoſſen gehemmt.
Die Ausbildung erſt der territorialen, dann der großen nationalen Staatsgewalten,
ſowie die der Geldwirtſchaft gab den Anſtoß zur Umbildung dieſer älteren Dorfgenoſſen-
ſchaft in die neuere Einwohner- und Ortsgemeinde, in welcher die einzelnen bäuerlichen
Familien auf ſich ſtehen, mehr und mehr für den Verkauf produzieren. Es iſt eine
Umbildung, welche in vier bis fünf Jahrhunderten langſam durch alle möglichen kleinen
Änderungen der Staats- und Gemeindeverfaſſung, der Verwaltung und des Wirtſchafts-
lebens ſich vollzog. Wir kommen auf die moderne Ortsgemeinde unten. Hier iſt nur
zu erwähnen, daß von der alten Verfaſſung mit ihrer Feldgemeinſchaft auch heute
noch in vielen europäiſchen Staaten erhebliche Reſte beſtehen. Wo die Gemeinde noch
Wald und Weide beſitzt, die Ackerſtücke der Dorfgenoſſen noch in alter Gemengelage
durcheinander liegen, wo damit der faktiſche — wenn nicht der rechtliche — Flurzwang
noch beſteht, da iſt trotz aller Zunahme des individuellen Eigentums, trotz aller Ein-
ſchränkung der alten Gemeinſchaft noch ein gut Stück der alten Zuſtände vorhanden.
Aber allerdings ſind ſie überall in voller Auflöſung begriffen. Die Teilung der All-
mende und Gemeinheiten an die einzelnen, die Güterzuſammenlegung und die Feldweg-
regulierung haben den Betrieb der einzelnen Bauern mehr oder weniger auf ſich ſelbſt
geſtellt. Es lag darin eine naturgemäße Entwickelung. Die Ausbildung der Sonder-
wirtſchaft des Bauern, der ſelbſtändig werden, gewinnen, vorwärts kommen will, war
jetzt ſo notwendig und heilſam wie einſtens die genoſſenſchaftliche Zucht, die ihn genötigt
hatte, zu wirtſchaften, zu pflügen, zu ernten, wie die anderen Genoſſen es thaten. In dem
Maße, wie die Geldwirtſchaft in die Dörfer eindrang, der Bauer anfing, mehr als bisher
für den Markt zu produzieren, mußte ſein wirtſchaftlicher Erwerbstrieb ſich entwickeln;
die alten genoſſenſchaftlichen Traditionen ſchrumpften zu einer ſtarren Sitte zuſammen,
die zunächſt neue Blüten nicht treiben konnte. Rein auf das Herkömmliche beſchränkt,
hatte der Bauer des 16.—18. Jahrhunderts kein Verſtändnis für genoſſenſchaftliche
Be- oder Entwäſſerung, für etwaige gemeinſame Unternehmungen; er war jeder Majori-
ſierung abhold. Erſt die Schule der Geldwirtſchaft, die moderne Umbildung der Dorf-
verfaſſung, die Schaffung neuer, beſſerer Dorforgane, die Fortſchritte der Technik und
des Marktes, die Hebung der ganzen Intelligenz brachten es endlich in unſerem Jahr-
hundert ſo weit, daß der ganz ſelbſtändig gewordene Bauer, der das Rechnen gelernt
hatte, Verſtändnis für Molkerei-, Maſchinen-, An- und Verkaufs-, Darlehnsgenoſſen-
ſchaften, für Güterzuſammenlegung und gemeinſame Meliorationen bekam, daß das zur
Ortsgemeinde gewordene Dorf auch die modernen Aufgaben des Wege-, Schul-, Armen-
weſens und Ähnliches übernehmen konnte.
Der pſychologiſche Umbildungsprozeß von dem alten genoſſenſchaftlichen, ohne
Erwerbstrieb wirtſchaftenden, dann der Grundherrſchaft unterworfenen, von ihr vielfach
gedrückten und dadurch ſtumpf gewordenen Bauern zum ſchlauen Egoiſten und dann zum
rechnenden Kleinunternehmer, zum freien Grundbeſitzer der neuen Zeit und nun wieder
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 19
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