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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die psychologischen und körperlichen Folgen der Wohnweise.
körperlich schwächere, aber nervös ausgebildetere liefert, bleibt eine notwendige Wirkung
der gegensätzlichen Lebensweise.

Stadt und Land als differenzierte Wohnplätze sind das notwendige Ergebnis des
höheren, komplizierteren Staats- und Wirtschafts- und Geisteslebens; sie und die von
ihnen gestempelten Menschen ergänzen sich. Die ersten erheblichen Städte wurden die
Mittelpunkte der Kantone und Territorien, die Großstädte die der Provinzen und Reiche,
in welchen deren Regierung und Wirtschaftsleben sich zusammenfaßt. Das mußte
bestimmte Folgen für die Bewohner haben. Ebenso ist klar, daß die Kunst, die höhere
Technik, die Litteratur, die Wissenschaft, das heutige Geld- und Kreditwesen, die höchste
Arbeitsteilung vorzugsweise in der Großstadt gedeiht. Aber wie gewisse Fertigkeiten
und gewisse Tugenden, so wachsen die Laster in diesen großen Centralpunkten. Es liegt,
je größer die Städte sind, die Gefahr um so näher, daß zeitweise die intellektuelle und
technische Kultur in ihnen auf Kosten der moralischen wächst, daß das Familienleben
mehr als sonst durch das Einzelwohnen von Männern und Frauen zurückgedrängt, die
Geschlechtsbedürfnisse außer der Ehe befriedigt werden. Es hört für so viele die wohl-
thätige Kontrolle des Nachbarn in der Großstadt auf. Schon der großstädtische Straßen-
verkehr erfordert Energie, Gewandtheit, ja Rücksichtslosigkeit, und so wird der moralisch
haltlose Teil der Großstädter rücksichts- und schamlos, neugierig und herzlos, materia-
listisch und genußsüchtig, zumal in Zeiten fieberhaften Erwerbslebens und materialistischer
Lebensanschauung. Dazu kommen schlechte Wohnungsverhältnisse, ein Übermaß teils
von Arbeit, teils von entnervenden Genüssen, die Berührung mit dem massenhaft
angesammelten Verbrecher- und Hetärentum.

In den Epochen des gesteigerten atemlosen Lebens der Großstädte verhalten sich
die Mittel- und Kleinstädte zu diesen vielfach ähnlich wie früher das platte Land zu
jenen. Zumal in den Kleinstädten kann ruhiges Behagen, beschränkte Gemütlichkeit,
konservative Sitte fast ebenso wie auf dem Dorfe herrschen; freilich bleibt immer eine
mannigfaltigere Mischung socialer Elemente; es sind auch in der kleinen Stadt meist
eine Anzahl gebildeter, studierter Leute, einige rührige Handels- und Gewerbsleute.
Dadurch ist sie dem gewöhnlichen Dorfe überlegen, das in seinem moralischen und
intellektuellen Niveau unter Umständen ausnahmsweise ebenso sinken kann wie die
traurigsten Teile der Großstadt. Gewöhnlich bewahren es Kirche und Schule und der
genossenschaftliche Geist der Selbstverwaltung davor. Die Entwickelung von Charakteren
und starken moralischen Gefühlen gelingt in der kleinen Stadt und auf dem Lande
wohl stets leichter als in der Großstadt; vielleicht am meisten auf dem einsamen Hofe,
wo jedenfalls die konservativste, stabilste, unter Umständen freilich auch die zurück-
gebliebenste Bevölkerung haust.

Die wichtigste gesellschaftliche Folge der ganzen Siedlung haben wir im bisherigen
übrigens nicht berührt; ihr wenden wir uns nunmehr zu: der Organisation der Gebiets-
abschnitte und der auf ihnen lebenden Menschen zu socialen Organen, zu Gebiets-
körperschaften.

3. Die Wirtschaft der Gebietskörperschaften: Staat und Gemeinde.
Allgemeines: Siehe die ganze S. 254 angeführte Litteratur über Siedlungs- und Wohnweise.
Dann: Schmoller, Städtische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik. J. f. G.V. 1884 u.
U. U. 1898; -- Ders., Der deutsche Beamtenstaat des 16.--18. Jahrh. J. f. G.V. 1894 u. U. U. --

Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft. 1893 u. 1898. -- Levasseur, Statistique de la superficie
et de la population des contrees de la terre. Bulletin de l'institut intern. de stat.
1887.
Dorf und Grundherrschaft: Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues. 1859 und öfter. --

G. Haussen, Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältnisse in Schleswig und Holstein. 1861; -- Ders., Agrarhistorische Untersuchungen. 2 Bde.
1880--84. --
Judeich, Die Grundentlastung in Deutschland. 1863. -- Nasse, Über die mittel-
alterliche Feldgemeinschaft und die Einhegungen des 16. Jahrhunderts in England. 1869. --
H. S.
Maine, Village communities in East and West. 1871. --
Laveleye, De la propriete et de
ses formes primitives.
1874. Deutsch von Bücher: "Ureigentum". 1879. --
Keußler, Zur Ge-

Die pſychologiſchen und körperlichen Folgen der Wohnweiſe.
körperlich ſchwächere, aber nervös ausgebildetere liefert, bleibt eine notwendige Wirkung
der gegenſätzlichen Lebensweiſe.

Stadt und Land als differenzierte Wohnplätze ſind das notwendige Ergebnis des
höheren, komplizierteren Staats- und Wirtſchafts- und Geiſteslebens; ſie und die von
ihnen geſtempelten Menſchen ergänzen ſich. Die erſten erheblichen Städte wurden die
Mittelpunkte der Kantone und Territorien, die Großſtädte die der Provinzen und Reiche,
in welchen deren Regierung und Wirtſchaftsleben ſich zuſammenfaßt. Das mußte
beſtimmte Folgen für die Bewohner haben. Ebenſo iſt klar, daß die Kunſt, die höhere
Technik, die Litteratur, die Wiſſenſchaft, das heutige Geld- und Kreditweſen, die höchſte
Arbeitsteilung vorzugsweiſe in der Großſtadt gedeiht. Aber wie gewiſſe Fertigkeiten
und gewiſſe Tugenden, ſo wachſen die Laſter in dieſen großen Centralpunkten. Es liegt,
je größer die Städte ſind, die Gefahr um ſo näher, daß zeitweiſe die intellektuelle und
techniſche Kultur in ihnen auf Koſten der moraliſchen wächſt, daß das Familienleben
mehr als ſonſt durch das Einzelwohnen von Männern und Frauen zurückgedrängt, die
Geſchlechtsbedürfniſſe außer der Ehe befriedigt werden. Es hört für ſo viele die wohl-
thätige Kontrolle des Nachbarn in der Großſtadt auf. Schon der großſtädtiſche Straßen-
verkehr erfordert Energie, Gewandtheit, ja Rückſichtsloſigkeit, und ſo wird der moraliſch
haltloſe Teil der Großſtädter rückſichts- und ſchamlos, neugierig und herzlos, materia-
liſtiſch und genußſüchtig, zumal in Zeiten fieberhaften Erwerbslebens und materialiſtiſcher
Lebensanſchauung. Dazu kommen ſchlechte Wohnungsverhältniſſe, ein Übermaß teils
von Arbeit, teils von entnervenden Genüſſen, die Berührung mit dem maſſenhaft
angeſammelten Verbrecher- und Hetärentum.

In den Epochen des geſteigerten atemloſen Lebens der Großſtädte verhalten ſich
die Mittel- und Kleinſtädte zu dieſen vielfach ähnlich wie früher das platte Land zu
jenen. Zumal in den Kleinſtädten kann ruhiges Behagen, beſchränkte Gemütlichkeit,
konſervative Sitte faſt ebenſo wie auf dem Dorfe herrſchen; freilich bleibt immer eine
mannigfaltigere Miſchung ſocialer Elemente; es ſind auch in der kleinen Stadt meiſt
eine Anzahl gebildeter, ſtudierter Leute, einige rührige Handels- und Gewerbsleute.
Dadurch iſt ſie dem gewöhnlichen Dorfe überlegen, das in ſeinem moraliſchen und
intellektuellen Niveau unter Umſtänden ausnahmsweiſe ebenſo ſinken kann wie die
traurigſten Teile der Großſtadt. Gewöhnlich bewahren es Kirche und Schule und der
genoſſenſchaftliche Geiſt der Selbſtverwaltung davor. Die Entwickelung von Charakteren
und ſtarken moraliſchen Gefühlen gelingt in der kleinen Stadt und auf dem Lande
wohl ſtets leichter als in der Großſtadt; vielleicht am meiſten auf dem einſamen Hofe,
wo jedenfalls die konſervativſte, ſtabilſte, unter Umſtänden freilich auch die zurück-
gebliebenſte Bevölkerung hauſt.

Die wichtigſte geſellſchaftliche Folge der ganzen Siedlung haben wir im bisherigen
übrigens nicht berührt; ihr wenden wir uns nunmehr zu: der Organiſation der Gebiets-
abſchnitte und der auf ihnen lebenden Menſchen zu ſocialen Organen, zu Gebiets-
körperſchaften.

3. Die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften: Staat und Gemeinde.
Allgemeines: Siehe die ganze S. 254 angeführte Litteratur über Siedlungs- und Wohnweiſe.
Dann: Schmoller, Städtiſche, territoriale und ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. J. f. G.V. 1884 u.
U. U. 1898; — Derſ., Der deutſche Beamtenſtaat des 16.—18. Jahrh. J. f. G.V. 1894 u. U. U. —

Bücher, Entſtehung der Volkswirtſchaft. 1893 u. 1898. — Levaſſeur, Statistique de la superficie
et de la population des contrées de la terre. Bulletin de l’institut intern. de stat.
1887.
Dorf und Grundherrſchaft: Roſcher, Nationalökonomik des Ackerbaues. 1859 und öfter. —

G. Hauſſen, Die Aufhebung der Leibeigenſchaft und die Umgeſtaltung der gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältniſſe in Schleswig und Holſtein. 1861; — Derſ., Agrarhiſtoriſche Unterſuchungen. 2 Bde.
1880—84. —
Judeich, Die Grundentlaſtung in Deutſchland. 1863. — Naſſe, Über die mittel-
alterliche Feldgemeinſchaft und die Einhegungen des 16. Jahrhunderts in England. 1869. —
H. S.
Maine, Village communities in East and West. 1871. —
Laveleye, De la propriété et de
ses formes primitives.
1874. Deutſch von Bücher: „Ureigentum“. 1879. —
Keußler, Zur Ge-
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[277/0293] Die pſychologiſchen und körperlichen Folgen der Wohnweiſe. körperlich ſchwächere, aber nervös ausgebildetere liefert, bleibt eine notwendige Wirkung der gegenſätzlichen Lebensweiſe. Stadt und Land als differenzierte Wohnplätze ſind das notwendige Ergebnis des höheren, komplizierteren Staats- und Wirtſchafts- und Geiſteslebens; ſie und die von ihnen geſtempelten Menſchen ergänzen ſich. Die erſten erheblichen Städte wurden die Mittelpunkte der Kantone und Territorien, die Großſtädte die der Provinzen und Reiche, in welchen deren Regierung und Wirtſchaftsleben ſich zuſammenfaßt. Das mußte beſtimmte Folgen für die Bewohner haben. Ebenſo iſt klar, daß die Kunſt, die höhere Technik, die Litteratur, die Wiſſenſchaft, das heutige Geld- und Kreditweſen, die höchſte Arbeitsteilung vorzugsweiſe in der Großſtadt gedeiht. Aber wie gewiſſe Fertigkeiten und gewiſſe Tugenden, ſo wachſen die Laſter in dieſen großen Centralpunkten. Es liegt, je größer die Städte ſind, die Gefahr um ſo näher, daß zeitweiſe die intellektuelle und techniſche Kultur in ihnen auf Koſten der moraliſchen wächſt, daß das Familienleben mehr als ſonſt durch das Einzelwohnen von Männern und Frauen zurückgedrängt, die Geſchlechtsbedürfniſſe außer der Ehe befriedigt werden. Es hört für ſo viele die wohl- thätige Kontrolle des Nachbarn in der Großſtadt auf. Schon der großſtädtiſche Straßen- verkehr erfordert Energie, Gewandtheit, ja Rückſichtsloſigkeit, und ſo wird der moraliſch haltloſe Teil der Großſtädter rückſichts- und ſchamlos, neugierig und herzlos, materia- liſtiſch und genußſüchtig, zumal in Zeiten fieberhaften Erwerbslebens und materialiſtiſcher Lebensanſchauung. Dazu kommen ſchlechte Wohnungsverhältniſſe, ein Übermaß teils von Arbeit, teils von entnervenden Genüſſen, die Berührung mit dem maſſenhaft angeſammelten Verbrecher- und Hetärentum. In den Epochen des geſteigerten atemloſen Lebens der Großſtädte verhalten ſich die Mittel- und Kleinſtädte zu dieſen vielfach ähnlich wie früher das platte Land zu jenen. Zumal in den Kleinſtädten kann ruhiges Behagen, beſchränkte Gemütlichkeit, konſervative Sitte faſt ebenſo wie auf dem Dorfe herrſchen; freilich bleibt immer eine mannigfaltigere Miſchung ſocialer Elemente; es ſind auch in der kleinen Stadt meiſt eine Anzahl gebildeter, ſtudierter Leute, einige rührige Handels- und Gewerbsleute. Dadurch iſt ſie dem gewöhnlichen Dorfe überlegen, das in ſeinem moraliſchen und intellektuellen Niveau unter Umſtänden ausnahmsweiſe ebenſo ſinken kann wie die traurigſten Teile der Großſtadt. Gewöhnlich bewahren es Kirche und Schule und der genoſſenſchaftliche Geiſt der Selbſtverwaltung davor. Die Entwickelung von Charakteren und ſtarken moraliſchen Gefühlen gelingt in der kleinen Stadt und auf dem Lande wohl ſtets leichter als in der Großſtadt; vielleicht am meiſten auf dem einſamen Hofe, wo jedenfalls die konſervativſte, ſtabilſte, unter Umſtänden freilich auch die zurück- gebliebenſte Bevölkerung hauſt. Die wichtigſte geſellſchaftliche Folge der ganzen Siedlung haben wir im bisherigen übrigens nicht berührt; ihr wenden wir uns nunmehr zu: der Organiſation der Gebiets- abſchnitte und der auf ihnen lebenden Menſchen zu ſocialen Organen, zu Gebiets- körperſchaften. 3. Die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften: Staat und Gemeinde. Allgemeines: Siehe die ganze S. 254 angeführte Litteratur über Siedlungs- und Wohnweiſe. Dann: Schmoller, Städtiſche, territoriale und ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. J. f. G.V. 1884 u. U. U. 1898; — Derſ., Der deutſche Beamtenſtaat des 16.—18. Jahrh. J. f. G.V. 1894 u. U. U. — Bücher, Entſtehung der Volkswirtſchaft. 1893 u. 1898. — Levaſſeur, Statistique de la superficie et de la population des contrées de la terre. Bulletin de l’institut intern. de stat. 1887. Dorf und Grundherrſchaft: Roſcher, Nationalökonomik des Ackerbaues. 1859 und öfter. — G. Hauſſen, Die Aufhebung der Leibeigenſchaft und die Umgeſtaltung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältniſſe in Schleswig und Holſtein. 1861; — Derſ., Agrarhiſtoriſche Unterſuchungen. 2 Bde. 1880—84. — Judeich, Die Grundentlaſtung in Deutſchland. 1863. — Naſſe, Über die mittel- alterliche Feldgemeinſchaft und die Einhegungen des 16. Jahrhunderts in England. 1869. — H. S. Maine, Village communities in East and West. 1871. — Laveleye, De la propriété et de ses formes primitives. 1874. Deutſch von Bücher: „Ureigentum“. 1879. — Keußler, Zur Ge-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/293>, abgerufen am 22.11.2024.