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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Schrift und ihre gesellschaftliche Wirkung.

7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift bedeutet
eines der wichtigsten und tiefgreifendsten Mittel, das gesellschaftliche Dasein auf höhere
Stufen zu erheben.

Während die Schrift zuerst ein Geheimnis der Priester und der Herrscher darstellt
und ihr einflußreichstes geistiges Machtmittel bildet, gewinnt schon das Bürgertum in
den Staaten des Orients teil daran. Es wird üblich, daß die Eltern und die Haus-
lehrer der Vornehmen den Kindern Unterricht im Lesen und Schreiben erteilen. Und
bald sehen wir besondere Anstalten entstehen, welche den Unterricht systematisch für viele
erteilen. So hatten die Israeliten Knabenschulen, um die Kenntnis der heiligen Sprache
und die Kunde des Gesetzes zu erhalten, die Athener hatten neben ihren Redner- und
Philosophen- einfache Knabenschulen; ein Gesetz, das auf Solon zurückgeführt wurde, ge-
stattete dem Sohne, den Vater zu belangen, der ihn nicht gehörig hatte unterrichten
lassen. Das ältere Mittelalter kam über die Kirchen- und Klosterschulen für eine kleine
Minderheit nicht hinaus; erst vom 13. und 14. Jahrhundert an kamen dazu die
deutschen und lateinischen Stadtschulen. Die Reformation erfaßte den Gedanken des
allgemeinen Volksunterrichts, aber bis in unsere Tage scheiterte er an der Schwierigkeit
der Kosten und der Schuleinrichtungen. Erst die preußischen Edikte von 1717 und
1736 sprachen den staatlichen Schulzwang aus; die Gebildeten zweifelten noch das ganze
18. Jahrhundert, ob den unteren Klassen dadurch nicht mehr geschadet als genützt
werde, ob die Mädchen dadurch nicht liederlich würden. Erst das 19. Jahrhundert hat
die Volsschule allen zugänglich gemacht, die Analphabeten in den meisten Kulturstaaten
fast ganz beseitigt. Und über der Volksschule steht heute, seit lange vorbereitet, ein
geschlossenes System der mittleren und höheren Schulen, das nun zusammen mit jener
einen der wichtigsten Zweige nationaler Organisation und Verwaltung in jedem Staate
darstellt. Für die Geschichte der socialen Schichtung der Völker ist es eines der wich-
tigsten Momente, wie die einzelnen Stände und Klassen zu jeder Zeit mit Schulen aus-
gestattet waren, an dem Schrifttum teilnahmen oder von ihm ausgeschlossen waren.

Die ältesten Schriften- und Büchersammlungen gehen auf Ägypten und Assyrien
zurück. In Griechenland hatten die großen Philosophen solche; später war die Bibliothek
in Alexandrien berühmt. Die ersten öffentlichen Bibliotheken in Rom gründeten Asinius
Pollio und Augustus. Die Aufgabe ging in christlicher Zeit auf die Klöster, in neuerer
auf die Fürsten über. Umfangreiche und zahlreiche Stadt- und Schulbibliotheken hat
erst das 19. Jahrhundert gesehen, wie es auch erst die großen Bibliotheken der Haupt-
städte und Universitäten auf den Rang der Alexandrinischen wieder erhob, den unteren
Klassen durch die Volksbibliotheken die entsprechende geistige Nahrung zuführte.

In Italien war zur Kaiserzeit die Kunst des Lesens und Schreibens wenigstens
in den Großstädten sehr verbreitet: es gab ein billiges und bequemes Material, die
zubereiteten Blätter einer Pflanze, eine große Klasse von Lohn- und Sklavenschreibern,
die von Unternehmern beschäftigt waren, einen ausgebildeten Buchhandel. In den
Schreibstuben der Unternehmer wurden Bücher abgeschrieben, Urkunden ausgefertigt,
Briefe diktiert. Rom erhielt sich stets als Büchermarkt. Aber im übrigen beschränkte
sich nach der Völkerwanderung die Schriftkunde während eines Jahrtausends auf die
Kleriker, die eben damit die geistige Herrschaft von Staat und Gesellschaft in Händen
hatten. Erst mit dem Aufkommen der Städte und des Bürgertums vom 13. Jahr-
hundert an entsteht wieder ein weltliches Schrifttum mit Lohnschreibern, Handschriften-
handel und Vervielfältigung. Die chinesische Erfindung der Papierverfertigung aus
Baumwolle verbreitete sich seit den Kreuzzügen von den Arabern nach Europa. Die
deutschen Papiermühlen entstehen von 1347--1500. Mit dem steigenden Verkauf der
Bücher und Flugblätter auf den Messen sann man auf mechanische Mittel der Verviel-
fältigung, schnitt erst die gangbarsten Schriften auf Holzplatten; Guttenberg erfand
1440 die einzelnen Holzlettern und damit die Buchdruckerei. Ein lesendes Publikum
und billiges Papier kam der großen Erfindung entgegen. Die Buchdruckerei wird der
große Hebel einer neuen Epoche des geistigen Lebens, einer vertausendfachten Wirkung
des Schrifttums. Es entsteht der moderne Bücherdruck und die Presse, eine staatliche

Die Schrift und ihre geſellſchaftliche Wirkung.

7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift bedeutet
eines der wichtigſten und tiefgreifendſten Mittel, das geſellſchaftliche Daſein auf höhere
Stufen zu erheben.

Während die Schrift zuerſt ein Geheimnis der Prieſter und der Herrſcher darſtellt
und ihr einflußreichſtes geiſtiges Machtmittel bildet, gewinnt ſchon das Bürgertum in
den Staaten des Orients teil daran. Es wird üblich, daß die Eltern und die Haus-
lehrer der Vornehmen den Kindern Unterricht im Leſen und Schreiben erteilen. Und
bald ſehen wir beſondere Anſtalten entſtehen, welche den Unterricht ſyſtematiſch für viele
erteilen. So hatten die Israeliten Knabenſchulen, um die Kenntnis der heiligen Sprache
und die Kunde des Geſetzes zu erhalten, die Athener hatten neben ihren Redner- und
Philoſophen- einfache Knabenſchulen; ein Geſetz, das auf Solon zurückgeführt wurde, ge-
ſtattete dem Sohne, den Vater zu belangen, der ihn nicht gehörig hatte unterrichten
laſſen. Das ältere Mittelalter kam über die Kirchen- und Kloſterſchulen für eine kleine
Minderheit nicht hinaus; erſt vom 13. und 14. Jahrhundert an kamen dazu die
deutſchen und lateiniſchen Stadtſchulen. Die Reformation erfaßte den Gedanken des
allgemeinen Volksunterrichts, aber bis in unſere Tage ſcheiterte er an der Schwierigkeit
der Koſten und der Schuleinrichtungen. Erſt die preußiſchen Edikte von 1717 und
1736 ſprachen den ſtaatlichen Schulzwang aus; die Gebildeten zweifelten noch das ganze
18. Jahrhundert, ob den unteren Klaſſen dadurch nicht mehr geſchadet als genützt
werde, ob die Mädchen dadurch nicht liederlich würden. Erſt das 19. Jahrhundert hat
die Volsſchule allen zugänglich gemacht, die Analphabeten in den meiſten Kulturſtaaten
faſt ganz beſeitigt. Und über der Volksſchule ſteht heute, ſeit lange vorbereitet, ein
geſchloſſenes Syſtem der mittleren und höheren Schulen, das nun zuſammen mit jener
einen der wichtigſten Zweige nationaler Organiſation und Verwaltung in jedem Staate
darſtellt. Für die Geſchichte der ſocialen Schichtung der Völker iſt es eines der wich-
tigſten Momente, wie die einzelnen Stände und Klaſſen zu jeder Zeit mit Schulen aus-
geſtattet waren, an dem Schrifttum teilnahmen oder von ihm ausgeſchloſſen waren.

Die älteſten Schriften- und Bücherſammlungen gehen auf Ägypten und Aſſyrien
zurück. In Griechenland hatten die großen Philoſophen ſolche; ſpäter war die Bibliothek
in Alexandrien berühmt. Die erſten öffentlichen Bibliotheken in Rom gründeten Aſinius
Pollio und Auguſtus. Die Aufgabe ging in chriſtlicher Zeit auf die Klöſter, in neuerer
auf die Fürſten über. Umfangreiche und zahlreiche Stadt- und Schulbibliotheken hat
erſt das 19. Jahrhundert geſehen, wie es auch erſt die großen Bibliotheken der Haupt-
ſtädte und Univerſitäten auf den Rang der Alexandriniſchen wieder erhob, den unteren
Klaſſen durch die Volksbibliotheken die entſprechende geiſtige Nahrung zuführte.

In Italien war zur Kaiſerzeit die Kunſt des Leſens und Schreibens wenigſtens
in den Großſtädten ſehr verbreitet: es gab ein billiges und bequemes Material, die
zubereiteten Blätter einer Pflanze, eine große Klaſſe von Lohn- und Sklavenſchreibern,
die von Unternehmern beſchäftigt waren, einen ausgebildeten Buchhandel. In den
Schreibſtuben der Unternehmer wurden Bücher abgeſchrieben, Urkunden ausgefertigt,
Briefe diktiert. Rom erhielt ſich ſtets als Büchermarkt. Aber im übrigen beſchränkte
ſich nach der Völkerwanderung die Schriftkunde während eines Jahrtauſends auf die
Kleriker, die eben damit die geiſtige Herrſchaft von Staat und Geſellſchaft in Händen
hatten. Erſt mit dem Aufkommen der Städte und des Bürgertums vom 13. Jahr-
hundert an entſteht wieder ein weltliches Schrifttum mit Lohnſchreibern, Handſchriften-
handel und Vervielfältigung. Die chineſiſche Erfindung der Papierverfertigung aus
Baumwolle verbreitete ſich ſeit den Kreuzzügen von den Arabern nach Europa. Die
deutſchen Papiermühlen entſtehen von 1347—1500. Mit dem ſteigenden Verkauf der
Bücher und Flugblätter auf den Meſſen ſann man auf mechaniſche Mittel der Verviel-
fältigung, ſchnitt erſt die gangbarſten Schriften auf Holzplatten; Guttenberg erfand
1440 die einzelnen Holzlettern und damit die Buchdruckerei. Ein leſendes Publikum
und billiges Papier kam der großen Erfindung entgegen. Die Buchdruckerei wird der
große Hebel einer neuen Epoche des geiſtigen Lebens, einer vertauſendfachten Wirkung
des Schrifttums. Es entſteht der moderne Bücherdruck und die Preſſe, eine ſtaatliche

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[13/0029] Die Schrift und ihre geſellſchaftliche Wirkung. 7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift bedeutet eines der wichtigſten und tiefgreifendſten Mittel, das geſellſchaftliche Daſein auf höhere Stufen zu erheben. Während die Schrift zuerſt ein Geheimnis der Prieſter und der Herrſcher darſtellt und ihr einflußreichſtes geiſtiges Machtmittel bildet, gewinnt ſchon das Bürgertum in den Staaten des Orients teil daran. Es wird üblich, daß die Eltern und die Haus- lehrer der Vornehmen den Kindern Unterricht im Leſen und Schreiben erteilen. Und bald ſehen wir beſondere Anſtalten entſtehen, welche den Unterricht ſyſtematiſch für viele erteilen. So hatten die Israeliten Knabenſchulen, um die Kenntnis der heiligen Sprache und die Kunde des Geſetzes zu erhalten, die Athener hatten neben ihren Redner- und Philoſophen- einfache Knabenſchulen; ein Geſetz, das auf Solon zurückgeführt wurde, ge- ſtattete dem Sohne, den Vater zu belangen, der ihn nicht gehörig hatte unterrichten laſſen. Das ältere Mittelalter kam über die Kirchen- und Kloſterſchulen für eine kleine Minderheit nicht hinaus; erſt vom 13. und 14. Jahrhundert an kamen dazu die deutſchen und lateiniſchen Stadtſchulen. Die Reformation erfaßte den Gedanken des allgemeinen Volksunterrichts, aber bis in unſere Tage ſcheiterte er an der Schwierigkeit der Koſten und der Schuleinrichtungen. Erſt die preußiſchen Edikte von 1717 und 1736 ſprachen den ſtaatlichen Schulzwang aus; die Gebildeten zweifelten noch das ganze 18. Jahrhundert, ob den unteren Klaſſen dadurch nicht mehr geſchadet als genützt werde, ob die Mädchen dadurch nicht liederlich würden. Erſt das 19. Jahrhundert hat die Volsſchule allen zugänglich gemacht, die Analphabeten in den meiſten Kulturſtaaten faſt ganz beſeitigt. Und über der Volksſchule ſteht heute, ſeit lange vorbereitet, ein geſchloſſenes Syſtem der mittleren und höheren Schulen, das nun zuſammen mit jener einen der wichtigſten Zweige nationaler Organiſation und Verwaltung in jedem Staate darſtellt. Für die Geſchichte der ſocialen Schichtung der Völker iſt es eines der wich- tigſten Momente, wie die einzelnen Stände und Klaſſen zu jeder Zeit mit Schulen aus- geſtattet waren, an dem Schrifttum teilnahmen oder von ihm ausgeſchloſſen waren. Die älteſten Schriften- und Bücherſammlungen gehen auf Ägypten und Aſſyrien zurück. In Griechenland hatten die großen Philoſophen ſolche; ſpäter war die Bibliothek in Alexandrien berühmt. Die erſten öffentlichen Bibliotheken in Rom gründeten Aſinius Pollio und Auguſtus. Die Aufgabe ging in chriſtlicher Zeit auf die Klöſter, in neuerer auf die Fürſten über. Umfangreiche und zahlreiche Stadt- und Schulbibliotheken hat erſt das 19. Jahrhundert geſehen, wie es auch erſt die großen Bibliotheken der Haupt- ſtädte und Univerſitäten auf den Rang der Alexandriniſchen wieder erhob, den unteren Klaſſen durch die Volksbibliotheken die entſprechende geiſtige Nahrung zuführte. In Italien war zur Kaiſerzeit die Kunſt des Leſens und Schreibens wenigſtens in den Großſtädten ſehr verbreitet: es gab ein billiges und bequemes Material, die zubereiteten Blätter einer Pflanze, eine große Klaſſe von Lohn- und Sklavenſchreibern, die von Unternehmern beſchäftigt waren, einen ausgebildeten Buchhandel. In den Schreibſtuben der Unternehmer wurden Bücher abgeſchrieben, Urkunden ausgefertigt, Briefe diktiert. Rom erhielt ſich ſtets als Büchermarkt. Aber im übrigen beſchränkte ſich nach der Völkerwanderung die Schriftkunde während eines Jahrtauſends auf die Kleriker, die eben damit die geiſtige Herrſchaft von Staat und Geſellſchaft in Händen hatten. Erſt mit dem Aufkommen der Städte und des Bürgertums vom 13. Jahr- hundert an entſteht wieder ein weltliches Schrifttum mit Lohnſchreibern, Handſchriften- handel und Vervielfältigung. Die chineſiſche Erfindung der Papierverfertigung aus Baumwolle verbreitete ſich ſeit den Kreuzzügen von den Arabern nach Europa. Die deutſchen Papiermühlen entſtehen von 1347—1500. Mit dem ſteigenden Verkauf der Bücher und Flugblätter auf den Meſſen ſann man auf mechaniſche Mittel der Verviel- fältigung, ſchnitt erſt die gangbarſten Schriften auf Holzplatten; Guttenberg erfand 1440 die einzelnen Holzlettern und damit die Buchdruckerei. Ein leſendes Publikum und billiges Papier kam der großen Erfindung entgegen. Die Buchdruckerei wird der große Hebel einer neuen Epoche des geiſtigen Lebens, einer vertauſendfachten Wirkung des Schrifttums. Es entſteht der moderne Bücherdruck und die Preſſe, eine ſtaatliche

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/29>, abgerufen am 27.11.2024.