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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die neuere Ausdehnung des Hofsystems. Ältere Dorfgröße.
wesentlich aus der späteren Zeit, als neben den älteren Sommerdeichen die das ganze
Feld dauernd schützenden Winterdeiche entstanden. Was die deutsche Separation und
Güterzusammenlegung an ausgebauten Ritter- und Bauernhöfen geschaffen, ist ein Er-
gebnis unseres Jahrhunderts. Und ein Vermessungssystem wie das amerikanische, das
alles Land in Quadrate zerschneidet, deren Grenzen zugleich Wege sind, das überhaupt
keine Dörfer mehr kennt, sondern nur viereckige Farmen mit dem Hofe in der Mitte
derselben, ist nur in einer Zeit hoher Technik und ausgebildeten Verkehrswesens denkbar.
Wenn das spätrömische System der kaiserlichen Agrimensoren damit Ähnlichkeit hat, so
waren damals in Italien auch die Voraussetzungen ähnlich. Heute fehlt das Hofsystem
hier wie in Spanien und allen Mittelmeerländern.

Der künftige volle Sieg dieses Systems in den alten Gebieten des Dorfsystems ist nicht
zu erwarten, so sehr da und dort heute durch Ausbau an landwirtschaftlichen Produktions-
kosten gespart werden könnte. Es wird heute das isolierte Wohnen durch Posten, Eisen-
bahnen und Telegraphen, durch verbesserte Polizei und Justiz erleichtert. Ein Teil der
in den Städten übermäßig neben und über einander gehäuften Menschen drängt wohl
nach Licht, Luft und Raum in freierer Siedlung, aber nicht nach isoliertem Wohnen.
Es wird sich in dieser Beziehung wohl noch manches verschieben; aber die Dörfer der
alten Kulturländer werden nicht ganz verschwinden, schon weil zu große Werte in ihnen
stecken, die durch Auflösung zerstört würden, weil die bestehenden Sitten zu fest sitzen,
und auch zu viele andere wirtschaftliche und menschliche Motive dagegen sind.

Auf die Größe der heutigen Dörfer kommen wir nachher. Über die Größe derselben
im 15. Jahrhundert und später führe ich für 58 Pfälzer Orte nach Eulenburg an, daß

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hatten. Ähnlich hat schon Mone nachgewiesen, daß die badischen Dörfer, welche jetzt
80--300 Familien besitzen, im 15. Jahrhundert meist 10--30 hatten; von 30 badischen
Städten und Dörfern berechnet er 1530 eine durchschnittliche Bevölkerung von 419,
1852 von 1310 Seelen. Von den russischen Dörfern meldet uns Keußler, sie hätten
im 16. Jahrhundert meist 15--120 Einwohner, selten schon die letztere Zahl gehabt,
während jetzt größere Dörfer die Regel seien.

97. Die Entwickelung des Städtewesens vom Mittelalter bis
gegen 1800
. Weit vorgreifend haben wir so den Gang der Siedlung auf dem Lande
bis zur Gegenwart zu zeichnen gesucht. Ihr steht nun die Städtebildung gegenüber,
die von der antiken sich dadurch unterscheidet, daß sie nicht so enge mit der Staats-
bildung zusammenhängt, daß sie, obwohl auch von militärisch-administrativen und
kirchlichen Einflüssen berührt, doch mehr wirtschaftlichen Ursachen, hauptsächlich dem
Bedürfnis von Handel und Gewerbe entspringt. Als der Übergang und die Vor-
bedingung für höhere Kultur erscheint aber die Zeit der neueren Städtebildung ebenso
wie die der antiken. Es ist im Altertum wie in der neueren Zeit für alle Völker
Jahrhunderte lang die wichtigste volkswirtschaftliche Organisationsfrage, wo und wie das
fehlende städtische Leben zu erzeugen sei.

Die 96 angeblichen Städte (poleis), welche der bekannte Geograph Ptolomäus
im 2. Jahrhundert n. Chr. für Deutschland aufzählt, waren wohl Fürstensitze, Stammes-
befestigungen, Versammlungsorte; daneben bestanden vielleicht einige dichtere Siedlungen
an Salzquellen und Furten. Die ersten eigentlichen Städte, die die Germanen sahen
und haßten, waren die 50 römischen Grenzkastelle und die befestigten Donau- und
Rheinstädte. Unsere Vorfahren bezeichneten sie als "Burgen", wie bis ins 13. Jahr-
hundert jeder größere und befestigte Ort hieß. Die städtischen Mauern erschienen den
Germanen, sagt Ammianus Marcellinus, als die Mauern eines Grabes; sie zerstörten

Die neuere Ausdehnung des Hofſyſtems. Ältere Dorfgröße.
weſentlich aus der ſpäteren Zeit, als neben den älteren Sommerdeichen die das ganze
Feld dauernd ſchützenden Winterdeiche entſtanden. Was die deutſche Separation und
Güterzuſammenlegung an ausgebauten Ritter- und Bauernhöfen geſchaffen, iſt ein Er-
gebnis unſeres Jahrhunderts. Und ein Vermeſſungsſyſtem wie das amerikaniſche, das
alles Land in Quadrate zerſchneidet, deren Grenzen zugleich Wege ſind, das überhaupt
keine Dörfer mehr kennt, ſondern nur viereckige Farmen mit dem Hofe in der Mitte
derſelben, iſt nur in einer Zeit hoher Technik und ausgebildeten Verkehrsweſens denkbar.
Wenn das ſpätrömiſche Syſtem der kaiſerlichen Agrimenſoren damit Ähnlichkeit hat, ſo
waren damals in Italien auch die Vorausſetzungen ähnlich. Heute fehlt das Hofſyſtem
hier wie in Spanien und allen Mittelmeerländern.

Der künftige volle Sieg dieſes Syſtems in den alten Gebieten des Dorfſyſtems iſt nicht
zu erwarten, ſo ſehr da und dort heute durch Ausbau an landwirtſchaftlichen Produktions-
koſten geſpart werden könnte. Es wird heute das iſolierte Wohnen durch Poſten, Eiſen-
bahnen und Telegraphen, durch verbeſſerte Polizei und Juſtiz erleichtert. Ein Teil der
in den Städten übermäßig neben und über einander gehäuften Menſchen drängt wohl
nach Licht, Luft und Raum in freierer Siedlung, aber nicht nach iſoliertem Wohnen.
Es wird ſich in dieſer Beziehung wohl noch manches verſchieben; aber die Dörfer der
alten Kulturländer werden nicht ganz verſchwinden, ſchon weil zu große Werte in ihnen
ſtecken, die durch Auflöſung zerſtört würden, weil die beſtehenden Sitten zu feſt ſitzen,
und auch zu viele andere wirtſchaftliche und menſchliche Motive dagegen ſind.

Auf die Größe der heutigen Dörfer kommen wir nachher. Über die Größe derſelben
im 15. Jahrhundert und ſpäter führe ich für 58 Pfälzer Orte nach Eulenburg an, daß

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hatten. Ähnlich hat ſchon Mone nachgewieſen, daß die badiſchen Dörfer, welche jetzt
80—300 Familien beſitzen, im 15. Jahrhundert meiſt 10—30 hatten; von 30 badiſchen
Städten und Dörfern berechnet er 1530 eine durchſchnittliche Bevölkerung von 419,
1852 von 1310 Seelen. Von den ruſſiſchen Dörfern meldet uns Keußler, ſie hätten
im 16. Jahrhundert meiſt 15—120 Einwohner, ſelten ſchon die letztere Zahl gehabt,
während jetzt größere Dörfer die Regel ſeien.

97. Die Entwickelung des Städteweſens vom Mittelalter bis
gegen 1800
. Weit vorgreifend haben wir ſo den Gang der Siedlung auf dem Lande
bis zur Gegenwart zu zeichnen geſucht. Ihr ſteht nun die Städtebildung gegenüber,
die von der antiken ſich dadurch unterſcheidet, daß ſie nicht ſo enge mit der Staats-
bildung zuſammenhängt, daß ſie, obwohl auch von militäriſch-adminiſtrativen und
kirchlichen Einflüſſen berührt, doch mehr wirtſchaftlichen Urſachen, hauptſächlich dem
Bedürfnis von Handel und Gewerbe entſpringt. Als der Übergang und die Vor-
bedingung für höhere Kultur erſcheint aber die Zeit der neueren Städtebildung ebenſo
wie die der antiken. Es iſt im Altertum wie in der neueren Zeit für alle Völker
Jahrhunderte lang die wichtigſte volkswirtſchaftliche Organiſationsfrage, wo und wie das
fehlende ſtädtiſche Leben zu erzeugen ſei.

Die 96 angeblichen Städte (πόλεις), welche der bekannte Geograph Ptolomäus
im 2. Jahrhundert n. Chr. für Deutſchland aufzählt, waren wohl Fürſtenſitze, Stammes-
befeſtigungen, Verſammlungsorte; daneben beſtanden vielleicht einige dichtere Siedlungen
an Salzquellen und Furten. Die erſten eigentlichen Städte, die die Germanen ſahen
und haßten, waren die 50 römiſchen Grenzkaſtelle und die befeſtigten Donau- und
Rheinſtädte. Unſere Vorfahren bezeichneten ſie als „Burgen“, wie bis ins 13. Jahr-
hundert jeder größere und befeſtigte Ort hieß. Die ſtädtiſchen Mauern erſchienen den
Germanen, ſagt Ammianus Marcellinus, als die Mauern eines Grabes; ſie zerſtörten

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[263/0279] Die neuere Ausdehnung des Hofſyſtems. Ältere Dorfgröße. weſentlich aus der ſpäteren Zeit, als neben den älteren Sommerdeichen die das ganze Feld dauernd ſchützenden Winterdeiche entſtanden. Was die deutſche Separation und Güterzuſammenlegung an ausgebauten Ritter- und Bauernhöfen geſchaffen, iſt ein Er- gebnis unſeres Jahrhunderts. Und ein Vermeſſungsſyſtem wie das amerikaniſche, das alles Land in Quadrate zerſchneidet, deren Grenzen zugleich Wege ſind, das überhaupt keine Dörfer mehr kennt, ſondern nur viereckige Farmen mit dem Hofe in der Mitte derſelben, iſt nur in einer Zeit hoher Technik und ausgebildeten Verkehrsweſens denkbar. Wenn das ſpätrömiſche Syſtem der kaiſerlichen Agrimenſoren damit Ähnlichkeit hat, ſo waren damals in Italien auch die Vorausſetzungen ähnlich. Heute fehlt das Hofſyſtem hier wie in Spanien und allen Mittelmeerländern. Der künftige volle Sieg dieſes Syſtems in den alten Gebieten des Dorfſyſtems iſt nicht zu erwarten, ſo ſehr da und dort heute durch Ausbau an landwirtſchaftlichen Produktions- koſten geſpart werden könnte. Es wird heute das iſolierte Wohnen durch Poſten, Eiſen- bahnen und Telegraphen, durch verbeſſerte Polizei und Juſtiz erleichtert. Ein Teil der in den Städten übermäßig neben und über einander gehäuften Menſchen drängt wohl nach Licht, Luft und Raum in freierer Siedlung, aber nicht nach iſoliertem Wohnen. Es wird ſich in dieſer Beziehung wohl noch manches verſchieben; aber die Dörfer der alten Kulturländer werden nicht ganz verſchwinden, ſchon weil zu große Werte in ihnen ſtecken, die durch Auflöſung zerſtört würden, weil die beſtehenden Sitten zu feſt ſitzen, und auch zu viele andere wirtſchaftliche und menſchliche Motive dagegen ſind. Auf die Größe der heutigen Dörfer kommen wir nachher. Über die Größe derſelben im 15. Jahrhundert und ſpäter führe ich für 58 Pfälzer Orte nach Eulenburg an, daß hatten. Ähnlich hat ſchon Mone nachgewieſen, daß die badiſchen Dörfer, welche jetzt 80—300 Familien beſitzen, im 15. Jahrhundert meiſt 10—30 hatten; von 30 badiſchen Städten und Dörfern berechnet er 1530 eine durchſchnittliche Bevölkerung von 419, 1852 von 1310 Seelen. Von den ruſſiſchen Dörfern meldet uns Keußler, ſie hätten im 16. Jahrhundert meiſt 15—120 Einwohner, ſelten ſchon die letztere Zahl gehabt, während jetzt größere Dörfer die Regel ſeien. 97. Die Entwickelung des Städteweſens vom Mittelalter bis gegen 1800. Weit vorgreifend haben wir ſo den Gang der Siedlung auf dem Lande bis zur Gegenwart zu zeichnen geſucht. Ihr ſteht nun die Städtebildung gegenüber, die von der antiken ſich dadurch unterſcheidet, daß ſie nicht ſo enge mit der Staats- bildung zuſammenhängt, daß ſie, obwohl auch von militäriſch-adminiſtrativen und kirchlichen Einflüſſen berührt, doch mehr wirtſchaftlichen Urſachen, hauptſächlich dem Bedürfnis von Handel und Gewerbe entſpringt. Als der Übergang und die Vor- bedingung für höhere Kultur erſcheint aber die Zeit der neueren Städtebildung ebenſo wie die der antiken. Es iſt im Altertum wie in der neueren Zeit für alle Völker Jahrhunderte lang die wichtigſte volkswirtſchaftliche Organiſationsfrage, wo und wie das fehlende ſtädtiſche Leben zu erzeugen ſei. Die 96 angeblichen Städte (πόλεις), welche der bekannte Geograph Ptolomäus im 2. Jahrhundert n. Chr. für Deutſchland aufzählt, waren wohl Fürſtenſitze, Stammes- befeſtigungen, Verſammlungsorte; daneben beſtanden vielleicht einige dichtere Siedlungen an Salzquellen und Furten. Die erſten eigentlichen Städte, die die Germanen ſahen und haßten, waren die 50 römiſchen Grenzkaſtelle und die befeſtigten Donau- und Rheinſtädte. Unſere Vorfahren bezeichneten ſie als „Burgen“, wie bis ins 13. Jahr- hundert jeder größere und befeſtigte Ort hieß. Die ſtädtiſchen Mauern erſchienen den Germanen, ſagt Ammianus Marcellinus, als die Mauern eines Grabes; ſie zerſtörten

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/279>, abgerufen am 22.11.2024.