Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
gliedern nur dann unbedingt zu beklagen ist, wenn auch zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und wenn für die schwindenden Verwandtschaftsbande nicht andere neue der Freundschaft, der Berufsgenossenschaft, der Geselligkeit, des geschäftlichen Zusammenwirkens träten.
Es ist leider an dieser Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts- geschichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Ehescheidungsrechtes, der väterlichen Gewalt, der Rechtsstellung der Frauen, der Kinder und der dienenden Kräfte in der Familie zu schildern, in welchem der Übergang von der patriarchalischen zur neuen Familie sich vollzog. Er setzt schon in den späteren Epochen der antiken Kultur- staaten und dann wieder in den letzten 5--6 Jahrhunderten ein, hat die verschiedensten Schwankungen erfahren, ist vom Christentum, der Philosophie, der Litteratur, allen geistigen und sittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Resultat war damals und neuerdings wieder dasselbe: die Familienglieder sollen freier, unabhängiger werden; aus dem Gewalt- soll ein sittliches Genossenverhältnis werden; die freie Aus- bildung der Individualität soll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens, die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.
Das schönste Blatt aus dieser Geschichte ist die successive Erhebung der Frauen- stellung: schon bei den Römern verwandelt sich die starre Manusgewalt des Mannes in das Verhältnis eines consortium omnis vitae. Bei den Germanen war die Gattin bereits nach Tacitus die laborum periculorumque socia des Mannes. Der Sachsen- spiegel sagt: dat wip ist des mannes genotinne. Aber erst eigentlich in den letzten hundert Jahren hat Sitte und Recht diesem Ziele sich ernstlich genähert, es freilich nach der radikalen Auffassung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte, auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozesse werden immer wieder Rückschritte gemacht, entstehen Mißbildungen, Dissonanzen zwischen den praktischen Bedürfnissen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua- listischen Tendenzen; der Fortschritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden, daß er wenigstens möglich sei, daß vor allem die Loslösung des nun nur noch der Konsumtionswirtschaft dienenden Familienhaushaltes von der Organisation der technischen Produktion eine berechtigte Differenzierung sei, darüber möchte ich noch ein Wort sagen.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwischen Familien- und Produktions- interesse zur Zeit der patriarchalischen Familie leichter zu lösen waren als später. Sie waren es aber vor allem auch, weil die Ansprüche des Familienlebens noch so gar geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach mit seinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweise in Rußland thut. Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menschen waren elende, kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhause des 14.--16. Jahrhunderts hatte man kaum Zimmer, in denen aufrecht zu stehen, ein Fest zu feiern war; das fand im Stadt- oder Gildehause statt. Erst seit dem 16.--18. Jahrhundert erhielten zuerst die oberen Klassen und dann auch der Mittelstand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit so viel Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch wesentlich erleichtert durch die Scheidung der Wohngelasse und der Produktionsstätten. Erst im 18. und 19. Jahr- hundert entstand mit Hülfe der fortschreitenden Technik und Kunst, unterstützt durch Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur- wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern, Badezimmern, Klosets, Wasser- und Gasleitung und all' dem anderen Komfort. Die Mehrzahl der Kulturmenschen wohnt seit einigen Generationen besser als je zuvor. Und wenn die großstädtische Menschenanhäufung für die unteren Klassen die Ansprüche teil- weise wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißstand empfunden wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß sie in ihren Wohn- räumen zugleich ihre Geschäfte besorgen und arbeiten müssen, daß ihre Familienwohnungen nicht isoliert von denen anderer sind, so beweist das nur, wie hoch die Ansprüche gegen frühere Zeiten gestiegen sind, wo fast alle Menschen mit Vieh und Ungeziefer zusammen zu hausen gewohnt waren.
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau, zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten.
Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts- geſchichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Eheſcheidungsrechtes, der väterlichen Gewalt, der Rechtsſtellung der Frauen, der Kinder und der dienenden Kräfte in der Familie zu ſchildern, in welchem der Übergang von der patriarchaliſchen zur neuen Familie ſich vollzog. Er ſetzt ſchon in den ſpäteren Epochen der antiken Kultur- ſtaaten und dann wieder in den letzten 5—6 Jahrhunderten ein, hat die verſchiedenſten Schwankungen erfahren, iſt vom Chriſtentum, der Philoſophie, der Litteratur, allen geiſtigen und ſittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Reſultat war damals und neuerdings wieder dasſelbe: die Familienglieder ſollen freier, unabhängiger werden; aus dem Gewalt- ſoll ein ſittliches Genoſſenverhältnis werden; die freie Aus- bildung der Individualität ſoll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens, die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.
Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen- ſtellung: ſchon bei den Römern verwandelt ſich die ſtarre Manusgewalt des Mannes in das Verhältnis eines consortium omnis vitae. Bei den Germanen war die Gattin bereits nach Tacitus die laborum periculorumque socia des Mannes. Der Sachſen- ſpiegel ſagt: dat wip iſt des mannes genotinne. Aber erſt eigentlich in den letzten hundert Jahren hat Sitte und Recht dieſem Ziele ſich ernſtlich genähert, es freilich nach der radikalen Auffaſſung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte, auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozeſſe werden immer wieder Rückſchritte gemacht, entſtehen Mißbildungen, Diſſonanzen zwiſchen den praktiſchen Bedürfniſſen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua- liſtiſchen Tendenzen; der Fortſchritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden, daß er wenigſtens möglich ſei, daß vor allem die Loslöſung des nun nur noch der Konſumtionswirtſchaft dienenden Familienhaushaltes von der Organiſation der techniſchen Produktion eine berechtigte Differenzierung ſei, darüber möchte ich noch ein Wort ſagen.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions- intereſſe zur Zeit der patriarchaliſchen Familie leichter zu löſen waren als ſpäter. Sie waren es aber vor allem auch, weil die Anſprüche des Familienlebens noch ſo gar geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach mit ſeinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweiſe in Rußland thut. Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menſchen waren elende, kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhauſe des 14.—16. Jahrhunderts hatte man kaum Zimmer, in denen aufrecht zu ſtehen, ein Feſt zu feiern war; das fand im Stadt- oder Gildehauſe ſtatt. Erſt ſeit dem 16.—18. Jahrhundert erhielten zuerſt die oberen Klaſſen und dann auch der Mittelſtand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit ſo viel Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch weſentlich erleichtert durch die Scheidung der Wohngelaſſe und der Produktionsſtätten. Erſt im 18. und 19. Jahr- hundert entſtand mit Hülfe der fortſchreitenden Technik und Kunſt, unterſtützt durch Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur- wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern, Badezimmern, Kloſets, Waſſer- und Gasleitung und all’ dem anderen Komfort. Die Mehrzahl der Kulturmenſchen wohnt ſeit einigen Generationen beſſer als je zuvor. Und wenn die großſtädtiſche Menſchenanhäufung für die unteren Klaſſen die Anſprüche teil- weiſe wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißſtand empfunden wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß ſie in ihren Wohn- räumen zugleich ihre Geſchäfte beſorgen und arbeiten müſſen, daß ihre Familienwohnungen nicht iſoliert von denen anderer ſind, ſo beweiſt das nur, wie hoch die Anſprüche gegen frühere Zeiten geſtiegen ſind, wo faſt alle Menſchen mit Vieh und Ungeziefer zuſammen zu hauſen gewohnt waren.
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Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau,
zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und
wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der
Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten.
Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts-
geſchichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Eheſcheidungsrechtes,
der väterlichen Gewalt, der Rechtsſtellung der Frauen, der Kinder und der dienenden
Kräfte in der Familie zu ſchildern, in welchem der Übergang von der patriarchaliſchen zur
neuen Familie ſich vollzog. Er ſetzt ſchon in den ſpäteren Epochen der antiken Kultur-
ſtaaten und dann wieder in den letzten 5—6 Jahrhunderten ein, hat die verſchiedenſten
Schwankungen erfahren, iſt vom Chriſtentum, der Philoſophie, der Litteratur, allen
geiſtigen und ſittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Reſultat war
damals und neuerdings wieder dasſelbe: die Familienglieder ſollen freier, unabhängiger
werden; aus dem Gewalt- ſoll ein ſittliches Genoſſenverhältnis werden; die freie Aus-
bildung der Individualität ſoll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens,
die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.
Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen-
ſtellung: ſchon bei den Römern verwandelt ſich die ſtarre Manusgewalt des Mannes
in das Verhältnis eines consortium omnis vitae. Bei den Germanen war die Gattin
bereits nach Tacitus die laborum periculorumque socia des Mannes. Der Sachſen-
ſpiegel ſagt: dat wip iſt des mannes genotinne. Aber erſt eigentlich in den letzten
hundert Jahren hat Sitte und Recht dieſem Ziele ſich ernſtlich genähert, es freilich
nach der radikalen Auffaſſung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte,
auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozeſſe werden immer
wieder Rückſchritte gemacht, entſtehen Mißbildungen, Diſſonanzen zwiſchen den praktiſchen
Bedürfniſſen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua-
liſtiſchen Tendenzen; der Fortſchritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden,
daß er wenigſtens möglich ſei, daß vor allem die Loslöſung des nun nur noch der
Konſumtionswirtſchaft dienenden Familienhaushaltes von der Organiſation der techniſchen
Produktion eine berechtigte Differenzierung ſei, darüber möchte ich noch ein Wort ſagen.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions-
intereſſe zur Zeit der patriarchaliſchen Familie leichter zu löſen waren als ſpäter. Sie
waren es aber vor allem auch, weil die Anſprüche des Familienlebens noch ſo gar
geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach
mit ſeinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweiſe in Rußland thut.
Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menſchen waren elende,
kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhauſe des 14.—16. Jahrhunderts hatte man
kaum Zimmer, in denen aufrecht zu ſtehen, ein Feſt zu feiern war; das fand im Stadt-
oder Gildehauſe ſtatt. Erſt ſeit dem 16.—18. Jahrhundert erhielten zuerſt die oberen
Klaſſen und dann auch der Mittelſtand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit ſo viel
Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch weſentlich erleichtert durch
die Scheidung der Wohngelaſſe und der Produktionsſtätten. Erſt im 18. und 19. Jahr-
hundert entſtand mit Hülfe der fortſchreitenden Technik und Kunſt, unterſtützt durch
Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur-
wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern,
Badezimmern, Kloſets, Waſſer- und Gasleitung und all’ dem anderen Komfort. Die
Mehrzahl der Kulturmenſchen wohnt ſeit einigen Generationen beſſer als je zuvor. Und
wenn die großſtädtiſche Menſchenanhäufung für die unteren Klaſſen die Anſprüche teil-
weiſe wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißſtand empfunden
wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß ſie in ihren Wohn-
räumen zugleich ihre Geſchäfte beſorgen und arbeiten müſſen, daß ihre Familienwohnungen
nicht iſoliert von denen anderer ſind, ſo beweiſt das nur, wie hoch die Anſprüche gegen
frühere Zeiten geſtiegen ſind, wo faſt alle Menſchen mit Vieh und Ungeziefer zuſammen
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/264>, abgerufen am 16.02.2025.
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