Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Familienverfassung der Jägerstämme. tretende, durch Sitte und Recht einigermaßen geordnete Einteilung der Horde ist nichtdie nach Ehegruppen, sondern vielmehr die nach dem Alter. Die Gleichalterigen nennen sich alle mit Namen, die unserm Bruder und Schwester entsprechen, die Jüngern reden alle Erwachsenen mit solchen an, die für uns Vater und Mutter bedeuten. Auch Spuren einer Sippeneinteilung sind oft vorhanden, und damit sind gewisse Schranken des Ge- schlechtsverkehrs verbunden, wie sie heute auch den rohesten Stämmen nicht fehlen. Es sind die Schranken zwischen Eltern und Kindern, vor allem zwischen Mutter und Kind, die zwischen Geschwistern, d. h. zwischen den Kindern derselben Mutter, teilweise auch schon zwischen Vettern und Basen ersten und zweiten Grades. War hierdurch eine beliebige Geschlechtsvermischung schon in frühester Zeit aus- Wie die Furcht vor Incest (Begattung von Eltern und Kindern), vor der Ge- Wo die Nahrungsgewinnung eine leichtere war, die Menschen in etwas größerer Näheres Zusammenwohnen, bessere Ernährung, sociale Differenzierung, wirtschaft- Die Familienverfaſſung der Jägerſtämme. tretende, durch Sitte und Recht einigermaßen geordnete Einteilung der Horde iſt nichtdie nach Ehegruppen, ſondern vielmehr die nach dem Alter. Die Gleichalterigen nennen ſich alle mit Namen, die unſerm Bruder und Schweſter entſprechen, die Jüngern reden alle Erwachſenen mit ſolchen an, die für uns Vater und Mutter bedeuten. Auch Spuren einer Sippeneinteilung ſind oft vorhanden, und damit ſind gewiſſe Schranken des Ge- ſchlechtsverkehrs verbunden, wie ſie heute auch den roheſten Stämmen nicht fehlen. Es ſind die Schranken zwiſchen Eltern und Kindern, vor allem zwiſchen Mutter und Kind, die zwiſchen Geſchwiſtern, d. h. zwiſchen den Kindern derſelben Mutter, teilweiſe auch ſchon zwiſchen Vettern und Baſen erſten und zweiten Grades. War hierdurch eine beliebige Geſchlechtsvermiſchung ſchon in früheſter Zeit aus- Wie die Furcht vor Inceſt (Begattung von Eltern und Kindern), vor der Ge- Wo die Nahrungsgewinnung eine leichtere war, die Menſchen in etwas größerer Näheres Zuſammenwohnen, beſſere Ernährung, ſociale Differenzierung, wirtſchaft- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0249" n="233"/><fw place="top" type="header">Die Familienverfaſſung der Jägerſtämme.</fw><lb/> tretende, durch Sitte und Recht einigermaßen geordnete Einteilung der Horde iſt nicht<lb/> die nach Ehegruppen, ſondern vielmehr die nach dem Alter. Die Gleichalterigen nennen<lb/> ſich alle mit Namen, die unſerm Bruder und Schweſter entſprechen, die Jüngern reden<lb/> alle Erwachſenen mit ſolchen an, die für uns Vater und Mutter bedeuten. Auch Spuren<lb/> einer Sippeneinteilung ſind oft vorhanden, und damit ſind gewiſſe Schranken des Ge-<lb/> ſchlechtsverkehrs verbunden, wie ſie heute auch den roheſten Stämmen nicht fehlen. Es<lb/> ſind die Schranken zwiſchen Eltern und Kindern, vor allem zwiſchen Mutter und Kind,<lb/> die zwiſchen Geſchwiſtern, d. h. zwiſchen den Kindern derſelben Mutter, teilweiſe auch<lb/> ſchon zwiſchen Vettern und Baſen erſten und zweiten Grades.</p><lb/> <p>War hierdurch eine beliebige Geſchlechtsvermiſchung ſchon in früheſter Zeit aus-<lb/> geſchloſſen, ſo blieb allerdings häufig der Verkehr zwiſchen denen, welche nicht unter dem<lb/> Verbote ſtanden, um ſo freier. Aber die Auswahl konnte in kleinen Horden von 20<lb/> bis 100 Perſonen nicht groß ſein. Daher ſehr früh die Sitte, aus nahen, verwandten,<lb/> ſprachgleichen Nachbarhorden ſich ein Weib zu holen, was die Mannesherrſchaft in der<lb/> Geſchlechtsgruppe befeſtigte. Die Nachbarhorden wurden ſo verknüpft, konnten, wie<lb/> erwähnt, zu einem Stamme zuſammenwachſen. Und es konnte nun die Scheu vor<lb/> blutsnahen Geſchlechtsverbindungen leicht dahin führen und hat bei unzähligen Stämmen<lb/> dazu geführt, daß die bisher getrennten Horden ſich als Sippen eines einheitlichen<lb/> Stammes fühlten und jeden Geſchlechtsverkehr innerhalb der Horde oder Sippe verboten.<lb/> Das Princip der ſogenannten Exogamie, d. h. der Zwang für alle Stamm- oder Sippen-<lb/> genoſſen, die geſchlechtliche Verbindung in der Nachbarhorde, im Nachbarſtamme, beziehungs-<lb/> weiſe in den anderen zum Stamme gehörigen Sippen zu ſuchen, war damit entſtanden.<lb/> Es iſt das einer der wichtigſten Wendepunkte in der Geſchichte der Familienverfaſſung,<lb/> es iſt der Keim aller bis heute dauernden Verbote der Verwandtenheiraten; in tauſend-<lb/> fältiger Verſchiedenheit haben es alle nachfolgenden Generationen ausgeſtaltet. Ohne<lb/> ſolche Schranken hätte ein geſittetes Familienleben nie ſich bilden und erhalten können.</p><lb/> <p>Wie die Furcht vor Inceſt (Begattung von Eltern und Kindern), vor der Ge-<lb/> ſchwiſterehe, vor der Blutsmiſchung zu naher Verwandter, vor der Endogamie oder Inzucht<lb/> überhaupt nach und nach entſtanden ſei, iſt eine der großen Kontroverſen der urgeſchicht-<lb/> lichen Forſchung. Wir können auf ſie nicht eingehen. Wir konſtatieren nur, daß ſolche<lb/> Schranken offenbar ſchon in früheſter Zeit ſich zu bilden begannen; wir müſſen annehmen,<lb/> daß ſie aus Inſtinkten und Gefühlen heraus entſtanden, vielleicht zuſammenhingen mit<lb/> der dämmernden Einſicht in die natürlichen und moraliſchen Folgen des Inceſts und der<lb/> blutsnahen Geſchlechtsverbindung; ſie waren das Mittel, den Geſchlechtstrieb im engſten<lb/> Kreiſe zu bändigen, die getrennten Sippen zu verbinden. —</p><lb/> <p>Wo die Nahrungsgewinnung eine leichtere war, die Menſchen in etwas größerer<lb/> Zahl leichter beiſammen bleiben konnten, wie bei begünſtigten Fiſchervölkern und den<lb/> Raſſen, die in ſüdlichem Klima, auf gutem Boden den Hackbau erlernt hatten, da mußte<lb/> das Stammes- und Geſchlechtsleben ebenſo anders werden wie die Wohn- und Wirt-<lb/> ſchaftsweiſe. Da erwuchſen die Stämme und Völker, aus denen die ſpäteren Kultur-<lb/> völker hervorgingen, die alſo für die ganze Entwickelung der Menſchheit, ihrer Kultur<lb/> und ihrer geſellſchaftlichen Einrichtungen eine ganz andere Bedeutung haben, als die<lb/> zerſprengten, iſoliert lebenden Jäger, von denen wir bisher redeten. Die Betreffenden<lb/> ſind teilweiſe ſchon ſeßhaft, bilden Stämme von einigen hundert, ja tauſend Seelen, ſie<lb/> zerfallen faſt alle in Sippen, wohnen in Dörfern zuſammen, haben Sippen- und<lb/> Stammeshäuptlinge, kämpfen mit ihren Nachbarn. Sie haben in weiter Verbreitung<lb/> und ſtärkerer Ausbildung die eben geſchilderten Schranken gegenüber dem Inceſt, der<lb/> Geſchwiſterehe, der Endogamie. Ihre Familienverfaſſung muß aus der der primitiven<lb/> Jäger hervorgegangen ſein; aber ſie iſt bei vielen doch zu Einrichtungen und Gepflogen-<lb/> heiten gekommen, welche von den eben geſchilderten weſentlich abweichen. Sie ſind wegen<lb/> ihrer größeren Kompliziertheit ſchwerer zu verſtehen als die der primitiven Jäger und<lb/> haben deshalb und durch unvollkommene Beobachtung zu viel Irrtum Anlaß gegeben.</p><lb/> <p>Näheres Zuſammenwohnen, beſſere Ernährung, ſociale Differenzierung, wirtſchaft-<lb/> liche und kulturelle Fortſchritte überhaupt werden ſtets zunächſt leicht zur Verſtärkung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [233/0249]
Die Familienverfaſſung der Jägerſtämme.
tretende, durch Sitte und Recht einigermaßen geordnete Einteilung der Horde iſt nicht
die nach Ehegruppen, ſondern vielmehr die nach dem Alter. Die Gleichalterigen nennen
ſich alle mit Namen, die unſerm Bruder und Schweſter entſprechen, die Jüngern reden
alle Erwachſenen mit ſolchen an, die für uns Vater und Mutter bedeuten. Auch Spuren
einer Sippeneinteilung ſind oft vorhanden, und damit ſind gewiſſe Schranken des Ge-
ſchlechtsverkehrs verbunden, wie ſie heute auch den roheſten Stämmen nicht fehlen. Es
ſind die Schranken zwiſchen Eltern und Kindern, vor allem zwiſchen Mutter und Kind,
die zwiſchen Geſchwiſtern, d. h. zwiſchen den Kindern derſelben Mutter, teilweiſe auch
ſchon zwiſchen Vettern und Baſen erſten und zweiten Grades.
War hierdurch eine beliebige Geſchlechtsvermiſchung ſchon in früheſter Zeit aus-
geſchloſſen, ſo blieb allerdings häufig der Verkehr zwiſchen denen, welche nicht unter dem
Verbote ſtanden, um ſo freier. Aber die Auswahl konnte in kleinen Horden von 20
bis 100 Perſonen nicht groß ſein. Daher ſehr früh die Sitte, aus nahen, verwandten,
ſprachgleichen Nachbarhorden ſich ein Weib zu holen, was die Mannesherrſchaft in der
Geſchlechtsgruppe befeſtigte. Die Nachbarhorden wurden ſo verknüpft, konnten, wie
erwähnt, zu einem Stamme zuſammenwachſen. Und es konnte nun die Scheu vor
blutsnahen Geſchlechtsverbindungen leicht dahin führen und hat bei unzähligen Stämmen
dazu geführt, daß die bisher getrennten Horden ſich als Sippen eines einheitlichen
Stammes fühlten und jeden Geſchlechtsverkehr innerhalb der Horde oder Sippe verboten.
Das Princip der ſogenannten Exogamie, d. h. der Zwang für alle Stamm- oder Sippen-
genoſſen, die geſchlechtliche Verbindung in der Nachbarhorde, im Nachbarſtamme, beziehungs-
weiſe in den anderen zum Stamme gehörigen Sippen zu ſuchen, war damit entſtanden.
Es iſt das einer der wichtigſten Wendepunkte in der Geſchichte der Familienverfaſſung,
es iſt der Keim aller bis heute dauernden Verbote der Verwandtenheiraten; in tauſend-
fältiger Verſchiedenheit haben es alle nachfolgenden Generationen ausgeſtaltet. Ohne
ſolche Schranken hätte ein geſittetes Familienleben nie ſich bilden und erhalten können.
Wie die Furcht vor Inceſt (Begattung von Eltern und Kindern), vor der Ge-
ſchwiſterehe, vor der Blutsmiſchung zu naher Verwandter, vor der Endogamie oder Inzucht
überhaupt nach und nach entſtanden ſei, iſt eine der großen Kontroverſen der urgeſchicht-
lichen Forſchung. Wir können auf ſie nicht eingehen. Wir konſtatieren nur, daß ſolche
Schranken offenbar ſchon in früheſter Zeit ſich zu bilden begannen; wir müſſen annehmen,
daß ſie aus Inſtinkten und Gefühlen heraus entſtanden, vielleicht zuſammenhingen mit
der dämmernden Einſicht in die natürlichen und moraliſchen Folgen des Inceſts und der
blutsnahen Geſchlechtsverbindung; ſie waren das Mittel, den Geſchlechtstrieb im engſten
Kreiſe zu bändigen, die getrennten Sippen zu verbinden. —
Wo die Nahrungsgewinnung eine leichtere war, die Menſchen in etwas größerer
Zahl leichter beiſammen bleiben konnten, wie bei begünſtigten Fiſchervölkern und den
Raſſen, die in ſüdlichem Klima, auf gutem Boden den Hackbau erlernt hatten, da mußte
das Stammes- und Geſchlechtsleben ebenſo anders werden wie die Wohn- und Wirt-
ſchaftsweiſe. Da erwuchſen die Stämme und Völker, aus denen die ſpäteren Kultur-
völker hervorgingen, die alſo für die ganze Entwickelung der Menſchheit, ihrer Kultur
und ihrer geſellſchaftlichen Einrichtungen eine ganz andere Bedeutung haben, als die
zerſprengten, iſoliert lebenden Jäger, von denen wir bisher redeten. Die Betreffenden
ſind teilweiſe ſchon ſeßhaft, bilden Stämme von einigen hundert, ja tauſend Seelen, ſie
zerfallen faſt alle in Sippen, wohnen in Dörfern zuſammen, haben Sippen- und
Stammeshäuptlinge, kämpfen mit ihren Nachbarn. Sie haben in weiter Verbreitung
und ſtärkerer Ausbildung die eben geſchilderten Schranken gegenüber dem Inceſt, der
Geſchwiſterehe, der Endogamie. Ihre Familienverfaſſung muß aus der der primitiven
Jäger hervorgegangen ſein; aber ſie iſt bei vielen doch zu Einrichtungen und Gepflogen-
heiten gekommen, welche von den eben geſchilderten weſentlich abweichen. Sie ſind wegen
ihrer größeren Kompliziertheit ſchwerer zu verſtehen als die der primitiven Jäger und
haben deshalb und durch unvollkommene Beobachtung zu viel Irrtum Anlaß gegeben.
Näheres Zuſammenwohnen, beſſere Ernährung, ſociale Differenzierung, wirtſchaft-
liche und kulturelle Fortſchritte überhaupt werden ſtets zunächſt leicht zur Verſtärkung
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