sociale Züge, je nach Rasse, Geschichte, Volksgeist, überlieferter Vermögens- und Ein- kommensverteilung, je nach den verschiedenen Institutionen.
Wohlstand und Lebenshaltung ist allerwärts außerordentlich gestiegen; aber in den einzelnen Ländern nehmen daran die verschiedenen Klassen sehr verschieden teil. Auch ist Vermehrung und Verbilligung der Produktion in den einzelnen wirtschaftlichen Zweigen eine sehr verschiedene; in Gewerbe und Verkehr liegen, wie wir sahen, die Glanzseiten. Allgemeiner aber sind die Wirkungen auf vermehrte Berührung aller Menschen, auf größere Kenntnisse, gestiegene Beweglichkeit. Die feineren Lebensgenüsse sind allgemein gewachsen, das Leben ist im ganzen verschönert, ästhetisch gehoben. Ebenso ist alles Wirtschaftsleben, auch das im Hause, auf dem Bauernhofe, rationalisiert, ist von naturwissenschaftlichen Kenntnissen mehr beherrscht, ist rühriger, energischer geworden; es ist freilich auch unendlich komplizierter geworden, ist durch die Verknüpfung mit an- deren Wirtschaften von Gesamtursachen abhängiger, leichter gestört, von Krisen leichter heimgesucht. Indem man immer mehr für die Zukunft, für die Ferne produziert, ist Irrtum leichter möglich. Aber dafür hat man größere Vorräte, welche besseren Aus- gleich zwischen verschiedenen Orten und Zeiten gestatten. Man wird über Not, Krisen, Störungen im ganzen doch besser Herr als früher. Je höher die Technik steigt, desto mehr kann sie den Zufall beherrschen. Alle fortschreitende Technik stellt Siege des Geistes über die Natur dar.
Aber aller Fortschritt in der Naturbeherrschung ist nur dauernd von Segen, wenn der Mensch sich selbst beherrscht, wenn die Gesellschaft die neue revolutionierte Gestaltung des Wirtschaftslebens nach den ewigen sittlichen Idealen zu ordnen weiß. Daran fehlt es noch. Unvermittelt steht das Alte und das Neue nebeneinander; alles gärt und brodelt; die alten Ordnungen lösen sich auf, die neuen sind noch nicht gefunden. Der Fleiß, die Arbeitsamkeit sind außerordentlich gestiegen, aber auch der Erwerbstrieb, die Hastigkeit, die Habsucht, die Genußsucht, die Neigung den Konkurrenten tot zu schlagen, die Frivolität, das cynische, materialistische Leben in den Tag hinein. Vornehme Ge- sinnung, religiöser Sinn, feines Empfinden ist bei den führenden wirtschaftlichen Kreisen nicht im Fortschritt. Das innere Glück ist weder bei den Reichen durch ihren maßlosen Genuß, noch bei dem Mittelstande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden, entsprechend gestiegen. Ein großer Techniker selbst konnte vor einigen Jahren unsere überstolze Zeit mit den nicht unwahren Worten charakterisieren: "Genußmenschen ohne Liebe und Fachmenschen ohne Geist, dies Nichts bildet sich ein, auf einer in der Geschichte unerreichten Höhe der Menschheit zu stehen!"
Immer ist ihm zu erwidern: alles wahre menschliche Glück liegt in dem Gleich- gewicht zwischen den Trieben und den Idealen, zwischen den Hoffnungen und der prak- tischen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufschwunges, gestiegenen Luxus', zunehmender Bedürfnisse, welche das Lebensideal bescheidener Genüg- samkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbstbehauptung zurück- gestellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher und harmonischer Menschen haben. Aber es wird nicht ausschließen, daß eine künftige beruhigtere Zeit auf Grund der technischen Fortschritte doch mehr subjektives Glücksgefühl erzeugen wird. Und in Bezug auf die Gesellschaft möchte ich sagen: sie baue sich mit der neuen Technik ein neues, unendlich besseres Wohnhaus, habe aber die neuen sittlichen Lebensordnungen für die richtige Benutzung desselben noch nicht gefunden; das sei die große Aufgabe der Gegenwart. Und, möchte ich beifügen: wir müssen heute neben den technischen Bau- meistern den Männern danken und ihnen folgen, die uns lehren, den technischen Fort- schritt richtig im sittlichen Geiste, im Gesamtinteresse aller zu nützen!
86. Schlußergebnisse. Liegt in der vorstehenden Würdigung des Maschinen- zeitalters schon gewissermaßen eine solche der technischen Entwickelung im ganzen, so sind doch noch einige ergänzende Schlußworte über das Verhältnis von Technik und Volks- wirtschaft überhaupt und über ihre Beziehungen zum geistig-moralischen Leben, sowie zu den volkswirtschaftlichen Institutionen hinzuzufügen.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 15
Allgemeine Würdigung des Maſchinenzeitalters.
ſociale Züge, je nach Raſſe, Geſchichte, Volksgeiſt, überlieferter Vermögens- und Ein- kommensverteilung, je nach den verſchiedenen Inſtitutionen.
Wohlſtand und Lebenshaltung iſt allerwärts außerordentlich geſtiegen; aber in den einzelnen Ländern nehmen daran die verſchiedenen Klaſſen ſehr verſchieden teil. Auch iſt Vermehrung und Verbilligung der Produktion in den einzelnen wirtſchaftlichen Zweigen eine ſehr verſchiedene; in Gewerbe und Verkehr liegen, wie wir ſahen, die Glanzſeiten. Allgemeiner aber ſind die Wirkungen auf vermehrte Berührung aller Menſchen, auf größere Kenntniſſe, geſtiegene Beweglichkeit. Die feineren Lebensgenüſſe ſind allgemein gewachſen, das Leben iſt im ganzen verſchönert, äſthetiſch gehoben. Ebenſo iſt alles Wirtſchaftsleben, auch das im Hauſe, auf dem Bauernhofe, rationaliſiert, iſt von naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen mehr beherrſcht, iſt rühriger, energiſcher geworden; es iſt freilich auch unendlich komplizierter geworden, iſt durch die Verknüpfung mit an- deren Wirtſchaften von Geſamturſachen abhängiger, leichter geſtört, von Kriſen leichter heimgeſucht. Indem man immer mehr für die Zukunft, für die Ferne produziert, iſt Irrtum leichter möglich. Aber dafür hat man größere Vorräte, welche beſſeren Aus- gleich zwiſchen verſchiedenen Orten und Zeiten geſtatten. Man wird über Not, Kriſen, Störungen im ganzen doch beſſer Herr als früher. Je höher die Technik ſteigt, deſto mehr kann ſie den Zufall beherrſchen. Alle fortſchreitende Technik ſtellt Siege des Geiſtes über die Natur dar.
Aber aller Fortſchritt in der Naturbeherrſchung iſt nur dauernd von Segen, wenn der Menſch ſich ſelbſt beherrſcht, wenn die Geſellſchaft die neue revolutionierte Geſtaltung des Wirtſchaftslebens nach den ewigen ſittlichen Idealen zu ordnen weiß. Daran fehlt es noch. Unvermittelt ſteht das Alte und das Neue nebeneinander; alles gärt und brodelt; die alten Ordnungen löſen ſich auf, die neuen ſind noch nicht gefunden. Der Fleiß, die Arbeitſamkeit ſind außerordentlich geſtiegen, aber auch der Erwerbstrieb, die Haſtigkeit, die Habſucht, die Genußſucht, die Neigung den Konkurrenten tot zu ſchlagen, die Frivolität, das cyniſche, materialiſtiſche Leben in den Tag hinein. Vornehme Ge- ſinnung, religiöſer Sinn, feines Empfinden iſt bei den führenden wirtſchaftlichen Kreiſen nicht im Fortſchritt. Das innere Glück iſt weder bei den Reichen durch ihren maßloſen Genuß, noch bei dem Mittelſtande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden, entſprechend geſtiegen. Ein großer Techniker ſelbſt konnte vor einigen Jahren unſere überſtolze Zeit mit den nicht unwahren Worten charakteriſieren: „Genußmenſchen ohne Liebe und Fachmenſchen ohne Geiſt, dies Nichts bildet ſich ein, auf einer in der Geſchichte unerreichten Höhe der Menſchheit zu ſtehen!“
Immer iſt ihm zu erwidern: alles wahre menſchliche Glück liegt in dem Gleich- gewicht zwiſchen den Trieben und den Idealen, zwiſchen den Hoffnungen und der prak- tiſchen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufſchwunges, geſtiegenen Luxus’, zunehmender Bedürfniſſe, welche das Lebensideal beſcheidener Genüg- ſamkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbſtbehauptung zurück- geſtellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher und harmoniſcher Menſchen haben. Aber es wird nicht ausſchließen, daß eine künftige beruhigtere Zeit auf Grund der techniſchen Fortſchritte doch mehr ſubjektives Glücksgefühl erzeugen wird. Und in Bezug auf die Geſellſchaft möchte ich ſagen: ſie baue ſich mit der neuen Technik ein neues, unendlich beſſeres Wohnhaus, habe aber die neuen ſittlichen Lebensordnungen für die richtige Benutzung desſelben noch nicht gefunden; das ſei die große Aufgabe der Gegenwart. Und, möchte ich beifügen: wir müſſen heute neben den techniſchen Bau- meiſtern den Männern danken und ihnen folgen, die uns lehren, den techniſchen Fort- ſchritt richtig im ſittlichen Geiſte, im Geſamtintereſſe aller zu nützen!
86. Schlußergebniſſe. Liegt in der vorſtehenden Würdigung des Maſchinen- zeitalters ſchon gewiſſermaßen eine ſolche der techniſchen Entwickelung im ganzen, ſo ſind doch noch einige ergänzende Schlußworte über das Verhältnis von Technik und Volks- wirtſchaft überhaupt und über ihre Beziehungen zum geiſtig-moraliſchen Leben, ſowie zu den volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen hinzuzufügen.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 15
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0241"n="225"/><fwplace="top"type="header">Allgemeine Würdigung des Maſchinenzeitalters.</fw><lb/>ſociale Züge, je nach Raſſe, Geſchichte, Volksgeiſt, überlieferter Vermögens- und Ein-<lb/>
kommensverteilung, je nach den verſchiedenen Inſtitutionen.</p><lb/><p>Wohlſtand und Lebenshaltung iſt allerwärts außerordentlich geſtiegen; aber in<lb/>
den einzelnen Ländern nehmen daran die verſchiedenen Klaſſen ſehr verſchieden teil.<lb/>
Auch iſt Vermehrung und Verbilligung der Produktion in den einzelnen wirtſchaftlichen<lb/>
Zweigen eine ſehr verſchiedene; in Gewerbe und Verkehr liegen, wie wir ſahen, die<lb/>
Glanzſeiten. Allgemeiner aber ſind die Wirkungen auf vermehrte Berührung aller<lb/>
Menſchen, auf größere Kenntniſſe, geſtiegene Beweglichkeit. Die feineren Lebensgenüſſe<lb/>ſind allgemein gewachſen, das Leben iſt im ganzen verſchönert, äſthetiſch gehoben. Ebenſo<lb/>
iſt alles Wirtſchaftsleben, auch das im Hauſe, auf dem Bauernhofe, rationaliſiert, iſt<lb/>
von naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen mehr beherrſcht, iſt rühriger, energiſcher geworden;<lb/>
es iſt freilich auch unendlich komplizierter geworden, iſt durch die Verknüpfung mit an-<lb/>
deren Wirtſchaften von Geſamturſachen abhängiger, leichter geſtört, von Kriſen leichter<lb/>
heimgeſucht. Indem man immer mehr für die Zukunft, für die Ferne produziert, iſt<lb/>
Irrtum leichter möglich. Aber dafür hat man größere Vorräte, welche beſſeren Aus-<lb/>
gleich zwiſchen verſchiedenen Orten und Zeiten geſtatten. Man wird über Not, Kriſen,<lb/>
Störungen im ganzen doch beſſer Herr als früher. Je höher die Technik ſteigt, deſto<lb/>
mehr kann ſie den Zufall beherrſchen. Alle fortſchreitende Technik ſtellt Siege des Geiſtes<lb/>
über die Natur dar.</p><lb/><p>Aber aller Fortſchritt in der Naturbeherrſchung iſt nur dauernd von Segen, wenn<lb/>
der Menſch ſich ſelbſt beherrſcht, wenn die Geſellſchaft die neue revolutionierte Geſtaltung<lb/>
des Wirtſchaftslebens nach den ewigen ſittlichen Idealen zu ordnen weiß. Daran fehlt<lb/>
es noch. Unvermittelt ſteht das Alte und das Neue nebeneinander; alles gärt und<lb/>
brodelt; die alten Ordnungen löſen ſich auf, die neuen ſind noch nicht gefunden. Der<lb/>
Fleiß, die Arbeitſamkeit ſind außerordentlich geſtiegen, aber auch der Erwerbstrieb, die<lb/>
Haſtigkeit, die Habſucht, die Genußſucht, die Neigung den Konkurrenten tot zu ſchlagen,<lb/>
die Frivolität, das cyniſche, materialiſtiſche Leben in den Tag hinein. Vornehme Ge-<lb/>ſinnung, religiöſer Sinn, feines Empfinden iſt bei den führenden wirtſchaftlichen Kreiſen<lb/>
nicht im Fortſchritt. Das innere Glück iſt weder bei den Reichen durch ihren maßloſen<lb/>
Genuß, noch bei dem Mittelſtande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden,<lb/>
entſprechend geſtiegen. Ein großer Techniker ſelbſt konnte vor einigen Jahren unſere<lb/>
überſtolze Zeit mit den nicht unwahren Worten charakteriſieren: „Genußmenſchen ohne<lb/>
Liebe und Fachmenſchen ohne Geiſt, dies Nichts bildet ſich ein, auf einer in der Geſchichte<lb/>
unerreichten Höhe der Menſchheit zu ſtehen!“</p><lb/><p>Immer iſt ihm zu erwidern: alles wahre menſchliche Glück liegt in dem Gleich-<lb/>
gewicht zwiſchen den Trieben und den Idealen, zwiſchen den Hoffnungen und der prak-<lb/>
tiſchen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufſchwunges,<lb/>
geſtiegenen Luxus’, zunehmender Bedürfniſſe, welche das Lebensideal beſcheidener Genüg-<lb/>ſamkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbſtbehauptung zurück-<lb/>
geſtellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher und harmoniſcher Menſchen haben.<lb/>
Aber es wird nicht ausſchließen, daß eine künftige beruhigtere Zeit auf Grund der<lb/>
techniſchen Fortſchritte doch mehr ſubjektives Glücksgefühl erzeugen wird. Und in Bezug<lb/>
auf die Geſellſchaft möchte ich ſagen: ſie baue ſich mit der neuen Technik ein neues,<lb/>
unendlich beſſeres Wohnhaus, habe aber die neuen ſittlichen Lebensordnungen für die<lb/>
richtige Benutzung desſelben noch nicht gefunden; das ſei die große Aufgabe der<lb/>
Gegenwart. Und, möchte ich beifügen: wir müſſen heute neben den techniſchen Bau-<lb/>
meiſtern den Männern danken und ihnen folgen, die uns lehren, den techniſchen Fort-<lb/>ſchritt richtig im ſittlichen Geiſte, im Geſamtintereſſe aller zu nützen!</p><lb/><p>86. <hirendition="#g">Schlußergebniſſe</hi>. Liegt in der vorſtehenden Würdigung des Maſchinen-<lb/>
zeitalters ſchon gewiſſermaßen eine ſolche der techniſchen Entwickelung im ganzen, ſo ſind<lb/>
doch noch einige ergänzende Schlußworte über das Verhältnis von Technik und Volks-<lb/>
wirtſchaft überhaupt und über ihre Beziehungen zum geiſtig-moraliſchen Leben, ſowie<lb/>
zu den volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen hinzuzufügen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hirendition="#aq">I</hi>. 15</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[225/0241]
Allgemeine Würdigung des Maſchinenzeitalters.
ſociale Züge, je nach Raſſe, Geſchichte, Volksgeiſt, überlieferter Vermögens- und Ein-
kommensverteilung, je nach den verſchiedenen Inſtitutionen.
Wohlſtand und Lebenshaltung iſt allerwärts außerordentlich geſtiegen; aber in
den einzelnen Ländern nehmen daran die verſchiedenen Klaſſen ſehr verſchieden teil.
Auch iſt Vermehrung und Verbilligung der Produktion in den einzelnen wirtſchaftlichen
Zweigen eine ſehr verſchiedene; in Gewerbe und Verkehr liegen, wie wir ſahen, die
Glanzſeiten. Allgemeiner aber ſind die Wirkungen auf vermehrte Berührung aller
Menſchen, auf größere Kenntniſſe, geſtiegene Beweglichkeit. Die feineren Lebensgenüſſe
ſind allgemein gewachſen, das Leben iſt im ganzen verſchönert, äſthetiſch gehoben. Ebenſo
iſt alles Wirtſchaftsleben, auch das im Hauſe, auf dem Bauernhofe, rationaliſiert, iſt
von naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen mehr beherrſcht, iſt rühriger, energiſcher geworden;
es iſt freilich auch unendlich komplizierter geworden, iſt durch die Verknüpfung mit an-
deren Wirtſchaften von Geſamturſachen abhängiger, leichter geſtört, von Kriſen leichter
heimgeſucht. Indem man immer mehr für die Zukunft, für die Ferne produziert, iſt
Irrtum leichter möglich. Aber dafür hat man größere Vorräte, welche beſſeren Aus-
gleich zwiſchen verſchiedenen Orten und Zeiten geſtatten. Man wird über Not, Kriſen,
Störungen im ganzen doch beſſer Herr als früher. Je höher die Technik ſteigt, deſto
mehr kann ſie den Zufall beherrſchen. Alle fortſchreitende Technik ſtellt Siege des Geiſtes
über die Natur dar.
Aber aller Fortſchritt in der Naturbeherrſchung iſt nur dauernd von Segen, wenn
der Menſch ſich ſelbſt beherrſcht, wenn die Geſellſchaft die neue revolutionierte Geſtaltung
des Wirtſchaftslebens nach den ewigen ſittlichen Idealen zu ordnen weiß. Daran fehlt
es noch. Unvermittelt ſteht das Alte und das Neue nebeneinander; alles gärt und
brodelt; die alten Ordnungen löſen ſich auf, die neuen ſind noch nicht gefunden. Der
Fleiß, die Arbeitſamkeit ſind außerordentlich geſtiegen, aber auch der Erwerbstrieb, die
Haſtigkeit, die Habſucht, die Genußſucht, die Neigung den Konkurrenten tot zu ſchlagen,
die Frivolität, das cyniſche, materialiſtiſche Leben in den Tag hinein. Vornehme Ge-
ſinnung, religiöſer Sinn, feines Empfinden iſt bei den führenden wirtſchaftlichen Kreiſen
nicht im Fortſchritt. Das innere Glück iſt weder bei den Reichen durch ihren maßloſen
Genuß, noch bei dem Mittelſtande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden,
entſprechend geſtiegen. Ein großer Techniker ſelbſt konnte vor einigen Jahren unſere
überſtolze Zeit mit den nicht unwahren Worten charakteriſieren: „Genußmenſchen ohne
Liebe und Fachmenſchen ohne Geiſt, dies Nichts bildet ſich ein, auf einer in der Geſchichte
unerreichten Höhe der Menſchheit zu ſtehen!“
Immer iſt ihm zu erwidern: alles wahre menſchliche Glück liegt in dem Gleich-
gewicht zwiſchen den Trieben und den Idealen, zwiſchen den Hoffnungen und der prak-
tiſchen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufſchwunges,
geſtiegenen Luxus’, zunehmender Bedürfniſſe, welche das Lebensideal beſcheidener Genüg-
ſamkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbſtbehauptung zurück-
geſtellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher und harmoniſcher Menſchen haben.
Aber es wird nicht ausſchließen, daß eine künftige beruhigtere Zeit auf Grund der
techniſchen Fortſchritte doch mehr ſubjektives Glücksgefühl erzeugen wird. Und in Bezug
auf die Geſellſchaft möchte ich ſagen: ſie baue ſich mit der neuen Technik ein neues,
unendlich beſſeres Wohnhaus, habe aber die neuen ſittlichen Lebensordnungen für die
richtige Benutzung desſelben noch nicht gefunden; das ſei die große Aufgabe der
Gegenwart. Und, möchte ich beifügen: wir müſſen heute neben den techniſchen Bau-
meiſtern den Männern danken und ihnen folgen, die uns lehren, den techniſchen Fort-
ſchritt richtig im ſittlichen Geiſte, im Geſamtintereſſe aller zu nützen!
86. Schlußergebniſſe. Liegt in der vorſtehenden Würdigung des Maſchinen-
zeitalters ſchon gewiſſermaßen eine ſolche der techniſchen Entwickelung im ganzen, ſo ſind
doch noch einige ergänzende Schlußworte über das Verhältnis von Technik und Volks-
wirtſchaft überhaupt und über ihre Beziehungen zum geiſtig-moraliſchen Leben, ſowie
zu den volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen hinzuzufügen.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 15
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/241>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.