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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
privaten Rache durch den Richterspruch der Ältesten, der Fürsten: das große Princip wird
proklamiert, daß im Staate nicht der Faustkampf, sondern die Gerechtigkeit herrschen solle,
daß alle Reibungen und Kämpfe im Inneren nur innerhalb enger Schranken sich be-
thätigen dürfen. Und solches scheint da doppelt nötig, wo man aller Kräfte nach außen
bedarf. Die sociale Zucht, die Unterordnung der einzelnen unter gemeinsame Zwecke,
die Zusammenfassung der Kräfte gelingt in erster Linie durch den Kampf und den Krieg
mit anderen Stämmen und Gemeinwesen. Die Stämme, deren Lebensweise körperliche
Kraft und Ausbildung des Mutes begünstigte, in denen kühne Kriegshäuptlinge aus
den freiwilligen Beutezügen heraus ein allgemeines Zwangsprincip der kriegerischen
Organisation herzustellen wußten, wurden fähig, die Mittelpunkte von Stammes-
bündnissen zu werden, schwächere Nachbarn zu vernichten oder zu unterwerfen, Reste
halb aufgeriebener Stämme sich in verschiedener Form einzuverleiben. Solches war nur
möglich durch Aufrichtung einer befehlenden Gewalt, durch Gehorsam, Disciplin, kriege-
rische Übung, Vorratssammlung, Schutzbauten, kurz durch eine gesellschaftliche Einrichtung,
die eine königliche Gewalt überhaupt für alle Lebensgebiete schuf, in ihre Hand einen
Machtapparat legte, der fähig war, Recht zu sprechen, Frieden zu stiften, gemeinsame
Zwecke aller Art zu verfolgen. "Daß sich das politische Staatswesen aus dem Kriegs-
wesen entwickelt hat", sagt Tylor, "unterliegt keinem Zweifel. Eine konstitutionelle
Regierung ist eine Einrichtung, durch welche eine Nation vermittelst der Maschinerie
eines Militärdespotismus sich selbst regiert." Jedenfalls ist durch nichts so sehr als
durch die militärische Organisation der Einfluß der Autoritäten in der Gesellschaft
gesteigert, das Princip einer einheitlich-befehlenden Gewalt über gehorchende Massen
ausgebildet worden, hat durch nichts so sehr die rechtsprechende Gewalt die nötige
Macht und Exekutive erhalten, so daß wir heute, den Kernpunkt aller staatlichen
Organisation in der Kriegshoheit und Justizhoheit sehend, nicht fehlgehen, wenn wir
sagen: alle höhere Gesellschaftsentwickelung geht aus von der Friedensgemeinschaft nach
innen und von der Kampfesgemeinschaft nach außen.

Die Siedlungs- und Wirtschaftsgemeinschaft schließt sich direkt an
die primitiven Bluts-, Friedens- und Kriegsgemeinschaften an. Auch so lange diese
noch unstet von Ort zu Ort zogen, je nachdem die Möglichkeit der Ernährung, der
Sieg oder die Niederlage sie weiter trieb, hatten sie zeitweise gemeinsam bestimmte
Gaue, Thäler, Ebenen inne. Aber die Beziehungen zum Boden wurden erst dauernd
und tiefgreifend, als sie den Acker-, Garten- und Wasserbau, als sie gegen Feinde durch
Wall und Graben sich dauernd zu schützen, Häuser zu bauen, den Boden zu teilen
gelernt hatten. Mit der festen Siedlung, diesem so überaus wichtigen wirtschaftlichen,
stets ursprünglich durch die Gemeinschaft vorgenommenen Akte entstehen die dauernden
Nachbarschaftsbeziehungen, das Heimatsgefühl, die Vaterlandsliebe. Die gesamten
Glieder eines Stammes sehen sich nun seltener, die am selben Orte wohnenden häufiger;
neben die Beziehungen der Bluts- treten die der Ortsgemeinschaft; es bilden sich für
wirtschaftliche, für Schutz-, für Verkehrs- und andere Zwecke die Orts- und Nachbar-
verbände; die Gebietskörperschaften umfassen bald Leute verschiedenen Blutes; aus dem
Stamme wird der mit einem bestimmten Lande verknüpfte Staat. Wir kommen unten
beim Siedlungswesen und den Gebietskörperschaften hierauf zurück.

Mit der festen Siedlung und der ersten Bodenverteilung erwachsen innerhalb des
socialen Körpers eine Reihe kleinerer fester gefügter Gemeinschaften, die Familien mit
ihrer Haus- und Hofwirtschaft, die Sippen, d. h. die Geschlechtsverbände, die Grund-
herrschaften, die Ortsgemeinden und Gaue, welche alle in sich nun stärkere Gemeingefühle,
festere Ordnungen der Herrschaft und Genossenschaft ausbilden, wie umgekehrt bestimmte
Gegensätze und Spaltungen mit der Berufs- und Arbeitsteilung, mit der verschiedenen
Stellung und dem verschiedenen Besitz sich ergeben. Und wo vollends der Tausch- und
Geldverkehr sich entwickelt, die Arbeitsteilung weiter voranschreitet, sociale Klassen ent-
stehen, da bilden sich in steigendem Umfang eine Menge vielverzweigter wirtschaftlicher
Beziehungen, Abhängigkeits-, Dienst- und Vertragsverhältnisse, neue dauernde Gruppie-
rungen aller Art neben den tausendfachen täglich erfolgenden vorübergehenden Geschäfts-

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
privaten Rache durch den Richterſpruch der Älteſten, der Fürſten: das große Princip wird
proklamiert, daß im Staate nicht der Fauſtkampf, ſondern die Gerechtigkeit herrſchen ſolle,
daß alle Reibungen und Kämpfe im Inneren nur innerhalb enger Schranken ſich be-
thätigen dürfen. Und ſolches ſcheint da doppelt nötig, wo man aller Kräfte nach außen
bedarf. Die ſociale Zucht, die Unterordnung der einzelnen unter gemeinſame Zwecke,
die Zuſammenfaſſung der Kräfte gelingt in erſter Linie durch den Kampf und den Krieg
mit anderen Stämmen und Gemeinweſen. Die Stämme, deren Lebensweiſe körperliche
Kraft und Ausbildung des Mutes begünſtigte, in denen kühne Kriegshäuptlinge aus
den freiwilligen Beutezügen heraus ein allgemeines Zwangsprincip der kriegeriſchen
Organiſation herzuſtellen wußten, wurden fähig, die Mittelpunkte von Stammes-
bündniſſen zu werden, ſchwächere Nachbarn zu vernichten oder zu unterwerfen, Reſte
halb aufgeriebener Stämme ſich in verſchiedener Form einzuverleiben. Solches war nur
möglich durch Aufrichtung einer befehlenden Gewalt, durch Gehorſam, Disciplin, kriege-
riſche Übung, Vorratsſammlung, Schutzbauten, kurz durch eine geſellſchaftliche Einrichtung,
die eine königliche Gewalt überhaupt für alle Lebensgebiete ſchuf, in ihre Hand einen
Machtapparat legte, der fähig war, Recht zu ſprechen, Frieden zu ſtiften, gemeinſame
Zwecke aller Art zu verfolgen. „Daß ſich das politiſche Staatsweſen aus dem Kriegs-
weſen entwickelt hat“, ſagt Tylor, „unterliegt keinem Zweifel. Eine konſtitutionelle
Regierung iſt eine Einrichtung, durch welche eine Nation vermittelſt der Maſchinerie
eines Militärdespotismus ſich ſelbſt regiert.“ Jedenfalls iſt durch nichts ſo ſehr als
durch die militäriſche Organiſation der Einfluß der Autoritäten in der Geſellſchaft
geſteigert, das Princip einer einheitlich-befehlenden Gewalt über gehorchende Maſſen
ausgebildet worden, hat durch nichts ſo ſehr die rechtſprechende Gewalt die nötige
Macht und Exekutive erhalten, ſo daß wir heute, den Kernpunkt aller ſtaatlichen
Organiſation in der Kriegshoheit und Juſtizhoheit ſehend, nicht fehlgehen, wenn wir
ſagen: alle höhere Geſellſchaftsentwickelung geht aus von der Friedensgemeinſchaft nach
innen und von der Kampfesgemeinſchaft nach außen.

Die Siedlungs- und Wirtſchaftsgemeinſchaft ſchließt ſich direkt an
die primitiven Bluts-, Friedens- und Kriegsgemeinſchaften an. Auch ſo lange dieſe
noch unſtet von Ort zu Ort zogen, je nachdem die Möglichkeit der Ernährung, der
Sieg oder die Niederlage ſie weiter trieb, hatten ſie zeitweiſe gemeinſam beſtimmte
Gaue, Thäler, Ebenen inne. Aber die Beziehungen zum Boden wurden erſt dauernd
und tiefgreifend, als ſie den Acker-, Garten- und Waſſerbau, als ſie gegen Feinde durch
Wall und Graben ſich dauernd zu ſchützen, Häuſer zu bauen, den Boden zu teilen
gelernt hatten. Mit der feſten Siedlung, dieſem ſo überaus wichtigen wirtſchaftlichen,
ſtets urſprünglich durch die Gemeinſchaft vorgenommenen Akte entſtehen die dauernden
Nachbarſchaftsbeziehungen, das Heimatsgefühl, die Vaterlandsliebe. Die geſamten
Glieder eines Stammes ſehen ſich nun ſeltener, die am ſelben Orte wohnenden häufiger;
neben die Beziehungen der Bluts- treten die der Ortsgemeinſchaft; es bilden ſich für
wirtſchaftliche, für Schutz-, für Verkehrs- und andere Zwecke die Orts- und Nachbar-
verbände; die Gebietskörperſchaften umfaſſen bald Leute verſchiedenen Blutes; aus dem
Stamme wird der mit einem beſtimmten Lande verknüpfte Staat. Wir kommen unten
beim Siedlungsweſen und den Gebietskörperſchaften hierauf zurück.

Mit der feſten Siedlung und der erſten Bodenverteilung erwachſen innerhalb des
ſocialen Körpers eine Reihe kleinerer feſter gefügter Gemeinſchaften, die Familien mit
ihrer Haus- und Hofwirtſchaft, die Sippen, d. h. die Geſchlechtsverbände, die Grund-
herrſchaften, die Ortsgemeinden und Gaue, welche alle in ſich nun ſtärkere Gemeingefühle,
feſtere Ordnungen der Herrſchaft und Genoſſenſchaft ausbilden, wie umgekehrt beſtimmte
Gegenſätze und Spaltungen mit der Berufs- und Arbeitsteilung, mit der verſchiedenen
Stellung und dem verſchiedenen Beſitz ſich ergeben. Und wo vollends der Tauſch- und
Geldverkehr ſich entwickelt, die Arbeitsteilung weiter voranſchreitet, ſociale Klaſſen ent-
ſtehen, da bilden ſich in ſteigendem Umfang eine Menge vielverzweigter wirtſchaftlicher
Beziehungen, Abhängigkeits-, Dienſt- und Vertragsverhältniſſe, neue dauernde Gruppie-
rungen aller Art neben den tauſendfachen täglich erfolgenden vorübergehenden Geſchäfts-

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[8/0024] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. privaten Rache durch den Richterſpruch der Älteſten, der Fürſten: das große Princip wird proklamiert, daß im Staate nicht der Fauſtkampf, ſondern die Gerechtigkeit herrſchen ſolle, daß alle Reibungen und Kämpfe im Inneren nur innerhalb enger Schranken ſich be- thätigen dürfen. Und ſolches ſcheint da doppelt nötig, wo man aller Kräfte nach außen bedarf. Die ſociale Zucht, die Unterordnung der einzelnen unter gemeinſame Zwecke, die Zuſammenfaſſung der Kräfte gelingt in erſter Linie durch den Kampf und den Krieg mit anderen Stämmen und Gemeinweſen. Die Stämme, deren Lebensweiſe körperliche Kraft und Ausbildung des Mutes begünſtigte, in denen kühne Kriegshäuptlinge aus den freiwilligen Beutezügen heraus ein allgemeines Zwangsprincip der kriegeriſchen Organiſation herzuſtellen wußten, wurden fähig, die Mittelpunkte von Stammes- bündniſſen zu werden, ſchwächere Nachbarn zu vernichten oder zu unterwerfen, Reſte halb aufgeriebener Stämme ſich in verſchiedener Form einzuverleiben. Solches war nur möglich durch Aufrichtung einer befehlenden Gewalt, durch Gehorſam, Disciplin, kriege- riſche Übung, Vorratsſammlung, Schutzbauten, kurz durch eine geſellſchaftliche Einrichtung, die eine königliche Gewalt überhaupt für alle Lebensgebiete ſchuf, in ihre Hand einen Machtapparat legte, der fähig war, Recht zu ſprechen, Frieden zu ſtiften, gemeinſame Zwecke aller Art zu verfolgen. „Daß ſich das politiſche Staatsweſen aus dem Kriegs- weſen entwickelt hat“, ſagt Tylor, „unterliegt keinem Zweifel. Eine konſtitutionelle Regierung iſt eine Einrichtung, durch welche eine Nation vermittelſt der Maſchinerie eines Militärdespotismus ſich ſelbſt regiert.“ Jedenfalls iſt durch nichts ſo ſehr als durch die militäriſche Organiſation der Einfluß der Autoritäten in der Geſellſchaft geſteigert, das Princip einer einheitlich-befehlenden Gewalt über gehorchende Maſſen ausgebildet worden, hat durch nichts ſo ſehr die rechtſprechende Gewalt die nötige Macht und Exekutive erhalten, ſo daß wir heute, den Kernpunkt aller ſtaatlichen Organiſation in der Kriegshoheit und Juſtizhoheit ſehend, nicht fehlgehen, wenn wir ſagen: alle höhere Geſellſchaftsentwickelung geht aus von der Friedensgemeinſchaft nach innen und von der Kampfesgemeinſchaft nach außen. Die Siedlungs- und Wirtſchaftsgemeinſchaft ſchließt ſich direkt an die primitiven Bluts-, Friedens- und Kriegsgemeinſchaften an. Auch ſo lange dieſe noch unſtet von Ort zu Ort zogen, je nachdem die Möglichkeit der Ernährung, der Sieg oder die Niederlage ſie weiter trieb, hatten ſie zeitweiſe gemeinſam beſtimmte Gaue, Thäler, Ebenen inne. Aber die Beziehungen zum Boden wurden erſt dauernd und tiefgreifend, als ſie den Acker-, Garten- und Waſſerbau, als ſie gegen Feinde durch Wall und Graben ſich dauernd zu ſchützen, Häuſer zu bauen, den Boden zu teilen gelernt hatten. Mit der feſten Siedlung, dieſem ſo überaus wichtigen wirtſchaftlichen, ſtets urſprünglich durch die Gemeinſchaft vorgenommenen Akte entſtehen die dauernden Nachbarſchaftsbeziehungen, das Heimatsgefühl, die Vaterlandsliebe. Die geſamten Glieder eines Stammes ſehen ſich nun ſeltener, die am ſelben Orte wohnenden häufiger; neben die Beziehungen der Bluts- treten die der Ortsgemeinſchaft; es bilden ſich für wirtſchaftliche, für Schutz-, für Verkehrs- und andere Zwecke die Orts- und Nachbar- verbände; die Gebietskörperſchaften umfaſſen bald Leute verſchiedenen Blutes; aus dem Stamme wird der mit einem beſtimmten Lande verknüpfte Staat. Wir kommen unten beim Siedlungsweſen und den Gebietskörperſchaften hierauf zurück. Mit der feſten Siedlung und der erſten Bodenverteilung erwachſen innerhalb des ſocialen Körpers eine Reihe kleinerer feſter gefügter Gemeinſchaften, die Familien mit ihrer Haus- und Hofwirtſchaft, die Sippen, d. h. die Geſchlechtsverbände, die Grund- herrſchaften, die Ortsgemeinden und Gaue, welche alle in ſich nun ſtärkere Gemeingefühle, feſtere Ordnungen der Herrſchaft und Genoſſenſchaft ausbilden, wie umgekehrt beſtimmte Gegenſätze und Spaltungen mit der Berufs- und Arbeitsteilung, mit der verſchiedenen Stellung und dem verſchiedenen Beſitz ſich ergeben. Und wo vollends der Tauſch- und Geldverkehr ſich entwickelt, die Arbeitsteilung weiter voranſchreitet, ſociale Klaſſen ent- ſtehen, da bilden ſich in ſteigendem Umfang eine Menge vielverzweigter wirtſchaftlicher Beziehungen, Abhängigkeits-, Dienſt- und Vertragsverhältniſſe, neue dauernde Gruppie- rungen aller Art neben den tauſendfachen täglich erfolgenden vorübergehenden Geſchäfts-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/24>, abgerufen am 21.11.2024.