Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Grenzen des technischen Fortschrittes. Sociale Folgen. über der Handarbeit nicht generell hundertfachen Reichtum bedeutet, noch weniger ihnfür beliebig vermehrte Menschenmengen schafft. Und mögen wir uns noch so sehr rühmen, daß die Handarbeit der 1560 Mill. lebenden Menschen nicht ausreichte, um je zu spinnen, zu drucken, zu schleppen, was heute die Maschine spinnt, druckt und schleppt, von Gespinst, von gedruckten Nachrichten und vom gesteigerten Verkehr lebt der Mensch nicht allein. Aus demselben Grunde sind auch alle Specialberechnungen der Steigerung der produktiven Kraft des Menschen in diesem oder jenem Gewerbe, so richtig sie im einzelnen sein mögen, als Beweis fürs Ganze irreführend, so z. B. wenn Michel Chevalier für die Mehlbereitung seit Homer die Steigerung berechnet auf 1 : 144, für die Eisenbereitung seit 4--5 Jahrhunderten auf 1:30, für die Baumwollverarbeitung 1769--1855 auf 1:700. Die Menschen in ihrer Gesamtheit sind deshalb nicht 144 oder 30 oder 700 mal reicher. Man könnte bei aller Anerkennung der riesenhaften Leistungen der modernen Technik sagen, die Ungleichmäßigkeit ihrer Fortschritte sei zunächst das Charakteristische. Könnten wir mit atmosphärischer Luft heizen, und Mehl und Fleisch statt durch die pflanzen- und tierphysiologischen Prozesse durch die chemische Retorte herstellen, dann erst wäre der ideale Zustand geschaffen, den die technischen Optimisten oft heute schon gekommen glauben. -- Natürlich erschöpft sich nun die Beurteilung des heutigen Maschinenzeitalters nicht Das erste, was uns von solchen Folgen in die Augen springt, ist die Thatsache, Die zweite große Folge der neueren Technik und des so sehr verbesserten Verkehrs Grenzen des techniſchen Fortſchrittes. Sociale Folgen. über der Handarbeit nicht generell hundertfachen Reichtum bedeutet, noch weniger ihnfür beliebig vermehrte Menſchenmengen ſchafft. Und mögen wir uns noch ſo ſehr rühmen, daß die Handarbeit der 1560 Mill. lebenden Menſchen nicht ausreichte, um je zu ſpinnen, zu drucken, zu ſchleppen, was heute die Maſchine ſpinnt, druckt und ſchleppt, von Geſpinſt, von gedruckten Nachrichten und vom geſteigerten Verkehr lebt der Menſch nicht allein. Aus demſelben Grunde ſind auch alle Specialberechnungen der Steigerung der produktiven Kraft des Menſchen in dieſem oder jenem Gewerbe, ſo richtig ſie im einzelnen ſein mögen, als Beweis fürs Ganze irreführend, ſo z. B. wenn Michel Chevalier für die Mehlbereitung ſeit Homer die Steigerung berechnet auf 1 : 144, für die Eiſenbereitung ſeit 4—5 Jahrhunderten auf 1:30, für die Baumwollverarbeitung 1769—1855 auf 1:700. Die Menſchen in ihrer Geſamtheit ſind deshalb nicht 144 oder 30 oder 700 mal reicher. Man könnte bei aller Anerkennung der rieſenhaften Leiſtungen der modernen Technik ſagen, die Ungleichmäßigkeit ihrer Fortſchritte ſei zunächſt das Charakteriſtiſche. Könnten wir mit atmoſphäriſcher Luft heizen, und Mehl und Fleiſch ſtatt durch die pflanzen- und tierphyſiologiſchen Prozeſſe durch die chemiſche Retorte herſtellen, dann erſt wäre der ideale Zuſtand geſchaffen, den die techniſchen Optimiſten oft heute ſchon gekommen glauben. — Natürlich erſchöpft ſich nun die Beurteilung des heutigen Maſchinenzeitalters nicht Das erſte, was uns von ſolchen Folgen in die Augen ſpringt, iſt die Thatſache, Die zweite große Folge der neueren Technik und des ſo ſehr verbeſſerten Verkehrs <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0237" n="221"/><fw place="top" type="header">Grenzen des techniſchen Fortſchrittes. Sociale Folgen.</fw><lb/> über der Handarbeit nicht generell hundertfachen Reichtum bedeutet, noch weniger ihn<lb/> für beliebig vermehrte Menſchenmengen ſchafft. 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Hierüber endgültigen Aufſchluß zu geben iſt freilich heute<lb/> ſehr ſchwierig, weil wir, mitten in dem ungeheuren Umbildungsprozeß ſtehend, ſchwer<lb/> ſagen können, was vorübergehende, was dauernde Folge ſei. Und an dieſer Stelle<lb/> darüber zu reden iſt nur andeutungsweiſe möglich, weil wir die zu berührenden Fragen<lb/> erſt in den folgenden Büchern im einzelnen erörtern wollen.</p><lb/> <p>Das erſte, was uns von ſolchen Folgen in die Augen ſpringt, iſt die Thatſache,<lb/> daß, wie jeder große Fortſchritt, ſo heute der techniſche, von einzelnen Individuen,<lb/> Klaſſen, Völkern ausging, dieſe an Einkommen und Reichtum, Einfluß und Macht außer-<lb/> ordentlich emporhob. Die Differenzierung der Geſellſchaft ſteigerte ſich; an dem Fort-<lb/> ſchritt und ſeinen erſten Folgen konnten nicht alle gleichen Anteil haben. Neue führende,<lb/> herrſchende, genießende, Macht und Reichtum teils richtig teils falſch brauchende Kreiſe<lb/> ſtiegen empor, die übrigen ſanken damit entſprechend, blieben zurück, wurden teilweiſe<lb/> gedrückt, verloren durch den Konkurrenzkampf mit den emporſteigenden. Wie für die<lb/> Maſchinenvölker, ſo gilt das für die führenden Unternehmer, Ingenieure und Kaufleute<lb/> innerhalb derſelben. Die Kaufleute kommen nicht ſowohl wegen der techniſchen Fort-<lb/> ſchritte des Handels in Betracht, als weil im Verkehr die wichtigſte Verbeſſerung liegt<lb/> und dieſe gewiſſermaßen erſt recht die fähigen Händler zu den Beherrſchern der Volks-<lb/> wirtſchaft machte, ihnen den größten Gewinn zuführte. Doch darf bei dieſem<lb/> Differenzierungsprozeß und ſeiner Wirkung auf das Einkommen und die Machtſtellung<lb/> nicht überſehen werden, daß an dieſe erſte Folge ſich bald Bewegungen im entgegen-<lb/> geſetzten Sinne ſchloſſen. Die andern Völker, bis nach Japan und Indien, begannen<lb/> raſch die Maſchinentechnik nachzuahmen, und ſie iſt lehrbarer, leichter zu übertragen, als<lb/> es die techniſchen Vorzüge der früheren Zeiten waren, weil ſie in Schriften und Modellen<lb/> fixiert iſt, in offenen Schulen jedem Fremden gelehrt wird, durch Maſchinenausfuhr<lb/> überall hindringt. Ebenſo gingen die höheren Kenntniſſe und Fertigkeiten in Weſt-<lb/> europa doch bald auf die übrigen Klaſſen der Geſellſchaft, wenigſtens teilweiſe, über.<lb/> Das äußerliche Hauptergebnis der Maſchinentechnik, ein ſteigender Kapitalüberfluß und<lb/> ſinkender Zinsfuß ſetzte einen erheblichen Teil des ganzen Volkes in die Lage, ſeiner-<lb/> ſeits zu Verbeſſerungen in der Produktion zu ſchreiten, einen andern, die geſamten<lb/> arbeitenden Klaſſen, höhere Löhne zu erkämpfen.</p><lb/> <p>Die zweite große Folge der neueren Technik und des ſo ſehr verbeſſerten Verkehrs<lb/> iſt die räumliche Veränderung im Standort der landwirtſchaftlichen, gewerblichen und<lb/> händleriſchen Unternehmungen und der Menſchen überhaupt: die Bildung der Großſtädte,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [221/0237]
Grenzen des techniſchen Fortſchrittes. Sociale Folgen.
über der Handarbeit nicht generell hundertfachen Reichtum bedeutet, noch weniger ihn
für beliebig vermehrte Menſchenmengen ſchafft. Und mögen wir uns noch ſo ſehr rühmen,
daß die Handarbeit der 1560 Mill. lebenden Menſchen nicht ausreichte, um je zu
ſpinnen, zu drucken, zu ſchleppen, was heute die Maſchine ſpinnt, druckt und ſchleppt,
von Geſpinſt, von gedruckten Nachrichten und vom geſteigerten Verkehr lebt der Menſch
nicht allein. Aus demſelben Grunde ſind auch alle Specialberechnungen der Steigerung
der produktiven Kraft des Menſchen in dieſem oder jenem Gewerbe, ſo richtig ſie im
einzelnen ſein mögen, als Beweis fürs Ganze irreführend, ſo z. B. wenn Michel
Chevalier für die Mehlbereitung ſeit Homer die Steigerung berechnet auf 1 : 144,
für die Eiſenbereitung ſeit 4—5 Jahrhunderten auf 1:30, für die Baumwollverarbeitung
1769—1855 auf 1:700. Die Menſchen in ihrer Geſamtheit ſind deshalb nicht 144
oder 30 oder 700 mal reicher. Man könnte bei aller Anerkennung der rieſenhaften
Leiſtungen der modernen Technik ſagen, die Ungleichmäßigkeit ihrer Fortſchritte ſei
zunächſt das Charakteriſtiſche. Könnten wir mit atmoſphäriſcher Luft heizen, und Mehl
und Fleiſch ſtatt durch die pflanzen- und tierphyſiologiſchen Prozeſſe durch die chemiſche
Retorte herſtellen, dann erſt wäre der ideale Zuſtand geſchaffen, den die techniſchen
Optimiſten oft heute ſchon gekommen glauben. —
Natürlich erſchöpft ſich nun die Beurteilung des heutigen Maſchinenzeitalters nicht
in der Frage nach der Vermehrung und Verbilligung der wirtſchaftlichen Produktion
und deren Grenzen. Daneben kommt die Veränderung in der ganzen Organiſation der
Volkswirtſchaft, in der Stellung der ſocialen Klaſſen, der Familie, der Unternehmung
und Ähnliches in Betracht. Hierüber endgültigen Aufſchluß zu geben iſt freilich heute
ſehr ſchwierig, weil wir, mitten in dem ungeheuren Umbildungsprozeß ſtehend, ſchwer
ſagen können, was vorübergehende, was dauernde Folge ſei. Und an dieſer Stelle
darüber zu reden iſt nur andeutungsweiſe möglich, weil wir die zu berührenden Fragen
erſt in den folgenden Büchern im einzelnen erörtern wollen.
Das erſte, was uns von ſolchen Folgen in die Augen ſpringt, iſt die Thatſache,
daß, wie jeder große Fortſchritt, ſo heute der techniſche, von einzelnen Individuen,
Klaſſen, Völkern ausging, dieſe an Einkommen und Reichtum, Einfluß und Macht außer-
ordentlich emporhob. Die Differenzierung der Geſellſchaft ſteigerte ſich; an dem Fort-
ſchritt und ſeinen erſten Folgen konnten nicht alle gleichen Anteil haben. Neue führende,
herrſchende, genießende, Macht und Reichtum teils richtig teils falſch brauchende Kreiſe
ſtiegen empor, die übrigen ſanken damit entſprechend, blieben zurück, wurden teilweiſe
gedrückt, verloren durch den Konkurrenzkampf mit den emporſteigenden. Wie für die
Maſchinenvölker, ſo gilt das für die führenden Unternehmer, Ingenieure und Kaufleute
innerhalb derſelben. Die Kaufleute kommen nicht ſowohl wegen der techniſchen Fort-
ſchritte des Handels in Betracht, als weil im Verkehr die wichtigſte Verbeſſerung liegt
und dieſe gewiſſermaßen erſt recht die fähigen Händler zu den Beherrſchern der Volks-
wirtſchaft machte, ihnen den größten Gewinn zuführte. Doch darf bei dieſem
Differenzierungsprozeß und ſeiner Wirkung auf das Einkommen und die Machtſtellung
nicht überſehen werden, daß an dieſe erſte Folge ſich bald Bewegungen im entgegen-
geſetzten Sinne ſchloſſen. Die andern Völker, bis nach Japan und Indien, begannen
raſch die Maſchinentechnik nachzuahmen, und ſie iſt lehrbarer, leichter zu übertragen, als
es die techniſchen Vorzüge der früheren Zeiten waren, weil ſie in Schriften und Modellen
fixiert iſt, in offenen Schulen jedem Fremden gelehrt wird, durch Maſchinenausfuhr
überall hindringt. Ebenſo gingen die höheren Kenntniſſe und Fertigkeiten in Weſt-
europa doch bald auf die übrigen Klaſſen der Geſellſchaft, wenigſtens teilweiſe, über.
Das äußerliche Hauptergebnis der Maſchinentechnik, ein ſteigender Kapitalüberfluß und
ſinkender Zinsfuß ſetzte einen erheblichen Teil des ganzen Volkes in die Lage, ſeiner-
ſeits zu Verbeſſerungen in der Produktion zu ſchreiten, einen andern, die geſamten
arbeitenden Klaſſen, höhere Löhne zu erkämpfen.
Die zweite große Folge der neueren Technik und des ſo ſehr verbeſſerten Verkehrs
iſt die räumliche Veränderung im Standort der landwirtſchaftlichen, gewerblichen und
händleriſchen Unternehmungen und der Menſchen überhaupt: die Bildung der Großſtädte,
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