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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
auslösen; daher ist ihre zeitliche und örtliche richtige Verteilung viel leichter dem Be-
darfe anzupassen; sie ist durch billige, einfache Drahtleitungen weithin zu übertragen,
macht die teueren, schwerfälligen Transmissionen der Wasser- und Dampfmaschinenanlagen
überflüssig. Am 1. Oktober 1895 waren in Deutschland, ohne Bayern und Württemberg,
schon 1419 Starkstromleitungen thätig. Nach Dr. Lux bestanden Ende 1888 erst 15
große elektrische Werke, am 1. März 1897 aber 265 und weitere 82 waren im Bau.
Die Hauptverwendung ist noch die für Beleuchtung, aber die Kraftverwendung für
Bahnen, Fabriken und Werkstätten nimmt sehr rasch zu: am 14. Juni 1895 verwendeten
schon 2259 deutsche Gewerbebetriebe elektrische Kraft. Ganze Fabrik- und hausindustrielle
Bezirke stützen sich schon auf diese centralisierten Werken entnommene Kraft. Eine
decentralisierende Wirkung tritt für den Gewerbebetrieb ein. In St. Etienne und seiner
Umgebung zahlt der hausindustrielle Weber im Monat für die Bewegung eines Stuhles
samt Instandhaltung 10 Francs. Andere Wirkungen kommen hinzu. Die größten Hütten-
und Eisenwerke der Welt besorgen heute schon alle Ortsveränderung im Inneren ihres
Betriebes elektrisch, wie dasselbe auch auf den größeren Kriegsschiffen geschieht. Die ganze
chemische Industrie, die ganze Metallurgie ist durch die Elektricität in Umwandlung
begriffen; sie verdrängt das Gas und hat daneben das Acetylen geschaffen, das 10- bis
15 mal leuchtender als Gas ist. Ob sie auf den Eisenbahnen den Dampf ersetzen wird,
scheint noch zweifelhaft; den kleinen Schienenverkehr in Stadt und Land, der in kurzen
Zwischenräumen viele einzelne Wagen befördern muß, wird sie in Kürze ganz an sich
reißen. --

Giebt dieser Überblick der Entwickelung der bewegenden wirtschaftlichen Kräfte
schon ein ungefähres Bild der technischen Revolution der Gegenwart, so gehört doch zu
seiner Vervollständigung ein Einblick in die parallel gehende Veränderung der eigent-
lichen Arbeitsprozesse; sie haben sich wohl in der Textilindustrie am kompliziertesten
zerlegt und verfeinert, durch chemische und mechanische Fortschritte vervollkommnet. Man
hat schon gemeint, an ihr und durch sie sei das ganze Maschinenzeitalter erwachsen.

Spindel und Webstuhl waren die seit mehreren Jahrtausenden gebräuchlichen und
kaum verbesserten technischen Hülfsmittel. Freilich die Walkmühlen (1200--1400), das
Spinnen der Wolle mit dem Rade (seit 1298), das Spinnen des Flachses mit Jürgens
Tretspinnrad (seit 1530), welches mit dem Drehen der Spindel und dem Aufwickeln des
Fadens den Kern der späteren Spinnmaschine schon enthielt, waren wie die Band-
mühle (1570--1600) und die Strumpfwirkmaschine (1590--1610) erhebliche Fortschritte.
Wassermühlen zur Zwirnerei und zum Seidenhaspeln entstanden 1580--1750. Aber
der allgemeine Charakter der ganzen Textilgewerbe blieb im ganzen doch der alte, zumal
da die wichtigsten Fortschritte, z. B. die Bandmühle, die Strumpfwirkmaschine, wie
später die Spinnmaschine gar zu oft der zerstörenden Wut der Arbeiter, zeitweise auch
dem zünftlerisch angehauchten Staatsverbot ausgesetzt waren. Erst als 1738 mit der
Erfindung der Schnellschütze am Webstuhl durch John Kay das Produkt des Web-
stuhles sich verdoppelte und vervierfachte, nirgends genug Spinnerinnen, die doch stets
schlecht bezahlt waren, aufzutreiben waren, da entstand in unendlich vielen kleinen Ab-
sätzen durch L. Paul, Th. Highs, J. Hargreaves, R. Arkwright, S. Crompton,
R. Roberts (zugleich mit der Dampfmaschine) die Baumwollspinnmaschine von 1730 bis
1825: der selbstthätige mechanische Spinnstuhl mit einigen hundert Spindeln nahm der
menschlichen Hand das Spinnen, zuerst der Baumwolle, ab, die eben damit der wichtigste
Bekleidungsstoff wurde; 1832 waren in Europa 11, 1875 etwa 58, 1895 etwa 75 Mill.
Baumwollspindeln thätig (in Großbritannien 44--45, in Deutschland 5--6 Mill.). Die
einzelnen Spinnereien hatten bis 1850 durchschnittlich in Großbritannien 10000, auf
dem Kontinente 1--5000 Spindeln; jetzt sind es etwa 15000 und 7500, in Lancashire
durchschnittlich 65000 Spindeln, ja es giebt dort Riesenspinnereien mit 185000 Spindeln.

Die mechanische Wollspinnerei ist viel langsamer gefolgt; die preußischen Spinne-
reien, meist noch im Besitze kleiner Gewerbetreibender, hatten 1861 noch durchschnittlich
5--600 Spindeln. Die Kammgarnspinnerei wurde erst 1848--50 erfunden; 1895
hatte eine deutsche Wollweberei durchschnittlich 14--1500 Spindeln. Der Sieg des

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
auslöſen; daher iſt ihre zeitliche und örtliche richtige Verteilung viel leichter dem Be-
darfe anzupaſſen; ſie iſt durch billige, einfache Drahtleitungen weithin zu übertragen,
macht die teueren, ſchwerfälligen Transmiſſionen der Waſſer- und Dampfmaſchinenanlagen
überflüſſig. Am 1. Oktober 1895 waren in Deutſchland, ohne Bayern und Württemberg,
ſchon 1419 Starkſtromleitungen thätig. Nach Dr. Lux beſtanden Ende 1888 erſt 15
große elektriſche Werke, am 1. März 1897 aber 265 und weitere 82 waren im Bau.
Die Hauptverwendung iſt noch die für Beleuchtung, aber die Kraftverwendung für
Bahnen, Fabriken und Werkſtätten nimmt ſehr raſch zu: am 14. Juni 1895 verwendeten
ſchon 2259 deutſche Gewerbebetriebe elektriſche Kraft. Ganze Fabrik- und hausinduſtrielle
Bezirke ſtützen ſich ſchon auf dieſe centraliſierten Werken entnommene Kraft. Eine
decentraliſierende Wirkung tritt für den Gewerbebetrieb ein. In St. Etienne und ſeiner
Umgebung zahlt der hausinduſtrielle Weber im Monat für die Bewegung eines Stuhles
ſamt Inſtandhaltung 10 Francs. Andere Wirkungen kommen hinzu. Die größten Hütten-
und Eiſenwerke der Welt beſorgen heute ſchon alle Ortsveränderung im Inneren ihres
Betriebes elektriſch, wie dasſelbe auch auf den größeren Kriegsſchiffen geſchieht. Die ganze
chemiſche Induſtrie, die ganze Metallurgie iſt durch die Elektricität in Umwandlung
begriffen; ſie verdrängt das Gas und hat daneben das Acetylen geſchaffen, das 10- bis
15 mal leuchtender als Gas iſt. Ob ſie auf den Eiſenbahnen den Dampf erſetzen wird,
ſcheint noch zweifelhaft; den kleinen Schienenverkehr in Stadt und Land, der in kurzen
Zwiſchenräumen viele einzelne Wagen befördern muß, wird ſie in Kürze ganz an ſich
reißen. —

Giebt dieſer Überblick der Entwickelung der bewegenden wirtſchaftlichen Kräfte
ſchon ein ungefähres Bild der techniſchen Revolution der Gegenwart, ſo gehört doch zu
ſeiner Vervollſtändigung ein Einblick in die parallel gehende Veränderung der eigent-
lichen Arbeitsprozeſſe; ſie haben ſich wohl in der Textilinduſtrie am komplizierteſten
zerlegt und verfeinert, durch chemiſche und mechaniſche Fortſchritte vervollkommnet. Man
hat ſchon gemeint, an ihr und durch ſie ſei das ganze Maſchinenzeitalter erwachſen.

Spindel und Webſtuhl waren die ſeit mehreren Jahrtauſenden gebräuchlichen und
kaum verbeſſerten techniſchen Hülfsmittel. Freilich die Walkmühlen (1200—1400), das
Spinnen der Wolle mit dem Rade (ſeit 1298), das Spinnen des Flachſes mit Jürgens
Tretſpinnrad (ſeit 1530), welches mit dem Drehen der Spindel und dem Aufwickeln des
Fadens den Kern der ſpäteren Spinnmaſchine ſchon enthielt, waren wie die Band-
mühle (1570—1600) und die Strumpfwirkmaſchine (1590—1610) erhebliche Fortſchritte.
Waſſermühlen zur Zwirnerei und zum Seidenhaſpeln entſtanden 1580—1750. Aber
der allgemeine Charakter der ganzen Textilgewerbe blieb im ganzen doch der alte, zumal
da die wichtigſten Fortſchritte, z. B. die Bandmühle, die Strumpfwirkmaſchine, wie
ſpäter die Spinnmaſchine gar zu oft der zerſtörenden Wut der Arbeiter, zeitweiſe auch
dem zünftleriſch angehauchten Staatsverbot ausgeſetzt waren. Erſt als 1738 mit der
Erfindung der Schnellſchütze am Webſtuhl durch John Kay das Produkt des Web-
ſtuhles ſich verdoppelte und vervierfachte, nirgends genug Spinnerinnen, die doch ſtets
ſchlecht bezahlt waren, aufzutreiben waren, da entſtand in unendlich vielen kleinen Ab-
ſätzen durch L. Paul, Th. Highs, J. Hargreaves, R. Arkwright, S. Crompton,
R. Roberts (zugleich mit der Dampfmaſchine) die Baumwollſpinnmaſchine von 1730 bis
1825: der ſelbſtthätige mechaniſche Spinnſtuhl mit einigen hundert Spindeln nahm der
menſchlichen Hand das Spinnen, zuerſt der Baumwolle, ab, die eben damit der wichtigſte
Bekleidungsſtoff wurde; 1832 waren in Europa 11, 1875 etwa 58, 1895 etwa 75 Mill.
Baumwollſpindeln thätig (in Großbritannien 44—45, in Deutſchland 5—6 Mill.). Die
einzelnen Spinnereien hatten bis 1850 durchſchnittlich in Großbritannien 10000, auf
dem Kontinente 1—5000 Spindeln; jetzt ſind es etwa 15000 und 7500, in Lancaſhire
durchſchnittlich 65000 Spindeln, ja es giebt dort Rieſenſpinnereien mit 185000 Spindeln.

Die mechaniſche Wollſpinnerei iſt viel langſamer gefolgt; die preußiſchen Spinne-
reien, meiſt noch im Beſitze kleiner Gewerbetreibender, hatten 1861 noch durchſchnittlich
5—600 Spindeln. Die Kammgarnſpinnerei wurde erſt 1848—50 erfunden; 1895
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[214/0230] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. auslöſen; daher iſt ihre zeitliche und örtliche richtige Verteilung viel leichter dem Be- darfe anzupaſſen; ſie iſt durch billige, einfache Drahtleitungen weithin zu übertragen, macht die teueren, ſchwerfälligen Transmiſſionen der Waſſer- und Dampfmaſchinenanlagen überflüſſig. Am 1. Oktober 1895 waren in Deutſchland, ohne Bayern und Württemberg, ſchon 1419 Starkſtromleitungen thätig. Nach Dr. Lux beſtanden Ende 1888 erſt 15 große elektriſche Werke, am 1. März 1897 aber 265 und weitere 82 waren im Bau. Die Hauptverwendung iſt noch die für Beleuchtung, aber die Kraftverwendung für Bahnen, Fabriken und Werkſtätten nimmt ſehr raſch zu: am 14. Juni 1895 verwendeten ſchon 2259 deutſche Gewerbebetriebe elektriſche Kraft. Ganze Fabrik- und hausinduſtrielle Bezirke ſtützen ſich ſchon auf dieſe centraliſierten Werken entnommene Kraft. Eine decentraliſierende Wirkung tritt für den Gewerbebetrieb ein. In St. Etienne und ſeiner Umgebung zahlt der hausinduſtrielle Weber im Monat für die Bewegung eines Stuhles ſamt Inſtandhaltung 10 Francs. Andere Wirkungen kommen hinzu. Die größten Hütten- und Eiſenwerke der Welt beſorgen heute ſchon alle Ortsveränderung im Inneren ihres Betriebes elektriſch, wie dasſelbe auch auf den größeren Kriegsſchiffen geſchieht. Die ganze chemiſche Induſtrie, die ganze Metallurgie iſt durch die Elektricität in Umwandlung begriffen; ſie verdrängt das Gas und hat daneben das Acetylen geſchaffen, das 10- bis 15 mal leuchtender als Gas iſt. Ob ſie auf den Eiſenbahnen den Dampf erſetzen wird, ſcheint noch zweifelhaft; den kleinen Schienenverkehr in Stadt und Land, der in kurzen Zwiſchenräumen viele einzelne Wagen befördern muß, wird ſie in Kürze ganz an ſich reißen. — Giebt dieſer Überblick der Entwickelung der bewegenden wirtſchaftlichen Kräfte ſchon ein ungefähres Bild der techniſchen Revolution der Gegenwart, ſo gehört doch zu ſeiner Vervollſtändigung ein Einblick in die parallel gehende Veränderung der eigent- lichen Arbeitsprozeſſe; ſie haben ſich wohl in der Textilinduſtrie am komplizierteſten zerlegt und verfeinert, durch chemiſche und mechaniſche Fortſchritte vervollkommnet. Man hat ſchon gemeint, an ihr und durch ſie ſei das ganze Maſchinenzeitalter erwachſen. Spindel und Webſtuhl waren die ſeit mehreren Jahrtauſenden gebräuchlichen und kaum verbeſſerten techniſchen Hülfsmittel. Freilich die Walkmühlen (1200—1400), das Spinnen der Wolle mit dem Rade (ſeit 1298), das Spinnen des Flachſes mit Jürgens Tretſpinnrad (ſeit 1530), welches mit dem Drehen der Spindel und dem Aufwickeln des Fadens den Kern der ſpäteren Spinnmaſchine ſchon enthielt, waren wie die Band- mühle (1570—1600) und die Strumpfwirkmaſchine (1590—1610) erhebliche Fortſchritte. Waſſermühlen zur Zwirnerei und zum Seidenhaſpeln entſtanden 1580—1750. Aber der allgemeine Charakter der ganzen Textilgewerbe blieb im ganzen doch der alte, zumal da die wichtigſten Fortſchritte, z. B. die Bandmühle, die Strumpfwirkmaſchine, wie ſpäter die Spinnmaſchine gar zu oft der zerſtörenden Wut der Arbeiter, zeitweiſe auch dem zünftleriſch angehauchten Staatsverbot ausgeſetzt waren. Erſt als 1738 mit der Erfindung der Schnellſchütze am Webſtuhl durch John Kay das Produkt des Web- ſtuhles ſich verdoppelte und vervierfachte, nirgends genug Spinnerinnen, die doch ſtets ſchlecht bezahlt waren, aufzutreiben waren, da entſtand in unendlich vielen kleinen Ab- ſätzen durch L. Paul, Th. Highs, J. Hargreaves, R. Arkwright, S. Crompton, R. Roberts (zugleich mit der Dampfmaſchine) die Baumwollſpinnmaſchine von 1730 bis 1825: der ſelbſtthätige mechaniſche Spinnſtuhl mit einigen hundert Spindeln nahm der menſchlichen Hand das Spinnen, zuerſt der Baumwolle, ab, die eben damit der wichtigſte Bekleidungsſtoff wurde; 1832 waren in Europa 11, 1875 etwa 58, 1895 etwa 75 Mill. Baumwollſpindeln thätig (in Großbritannien 44—45, in Deutſchland 5—6 Mill.). Die einzelnen Spinnereien hatten bis 1850 durchſchnittlich in Großbritannien 10000, auf dem Kontinente 1—5000 Spindeln; jetzt ſind es etwa 15000 und 7500, in Lancaſhire durchſchnittlich 65000 Spindeln, ja es giebt dort Rieſenſpinnereien mit 185000 Spindeln. Die mechaniſche Wollſpinnerei iſt viel langſamer gefolgt; die preußiſchen Spinne- reien, meiſt noch im Beſitze kleiner Gewerbetreibender, hatten 1861 noch durchſchnittlich 5—600 Spindeln. Die Kammgarnſpinnerei wurde erſt 1848—50 erfunden; 1895 hatte eine deutſche Wollweberei durchſchnittlich 14—1500 Spindeln. Der Sieg des

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/230>, abgerufen am 04.12.2024.