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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der Geschlechtszusammenhang. Die Kriegs- und Friedensgemeinschaft.
unzweifelhaft die, daß die Menschen aller Rassen, aller Zeiten, aller Erdteile, sofern sie
nur etwas über den rohesten Zustand sich erhoben hatten, stets in Gruppen vereinigt
gefunden wurden. Die kleineren Gruppen, die Horden oder Stämmchen, bestehen aus
einer Anzahl blutsverwandter Individuen verschiedenen Alters und Geschlechts; die
größeren, die Stämme und Völker, aus einer Summe zusammenhaltender Untergruppen,
d. h. Familien und Sippen, Gemeinden, Gilden oder sonstwie Vereinten. Die kleineren
älteren wie die größeren späteren Gemeinschaften stehen sich teils feindlich, teils freundlich
gegenüber; stets aber sind die Mitglieder der Gruppen unter sich enger verbunden als
mit den Gliedern anderer, häufig ihnen feindlicher Gruppen. Nirgends hat man in
historischer Zeit anders als ausnahmsweise ganz isoliert lebende Menschen getroffen,
die nachweislich plötzlich angefangen hätten, sich zusammen zu thun, ein Gemein-
wesen zu gründen. Der Mensch gehörte stets zu den Herdentieren. Aber er ist kein
zoon politikon in dem Sinne, daß ein unterschiedsloser Geselligkeitstrieb ihn veranlaßte,
Anschluß an jedes andere menschliche Wesen zu suchen; er thut dies stets nur in der
Weise, daß der Anschluß an die einen Absonderung von den anderen bedeutet.

Was sind nun aber die äußeren, jedem sichtbaren Zwecke, wegen deren der Zusammen-
schluß sich vollzieht; erst wenn wir auf sie einen Blick geworfen, werden wir uns über
die Mittel verständigen können, durch welche aller Anschluß, alle Verständigung erfolgt.
Hauptsächlich drei Zwecke treten uns da als die wichtigsten entgegen, deren Verfolgung
die Menschen stets zur Gemeinschaft und Gruppenbildung veranlaßt hat, welche starke
Gemeingefühle in Zusammenhang mit den betreffenden Interessen und Vorstellungen
bei den Teilnehmenden erzeugen.

Die Geschlechtsverbindung und der Blutszusammenhang ist das
stärkste und älteste Princip gesellschaftlicher Gruppierung. Lange Zeiträume hindurch
haben nur die Blutsverwandten und ihre Nachkommen Stämmchen und Stämme gebildet.
Die einheitliche Abstammung und das Zusammenaufwachsen ergab ähnliche Eigen-
schaften und starke sympathische Gefühle; nur wer desselben Blutes war oder künstlich
als solcher durch äußerliche Blutmischung fingiert wurde, war Genosse, jeder andere war
Feind. Wenn im Stamme Untergruppen sich bildeten, so waren sie selbst wieder durch
die Abstammung bestimmt, wie die Stellung jedes einzelnen in Untergruppe und
Stamm; das Verhältnis zu anderen Stämmen hing wesentlich von der Vorstellung
ab, ob man sich für verwandt hielt. Auch nachdem längst andere Bande der Gemeinsam-
keit hinzugekommen und die Vorstellungen über den Blutszusammenhang gelockert, teil-
weise ersetzt hatten, blieb das Gefühl gemeinsamer Abstammung für die Mehrzahl der
Menschen der stärkste Kitt, der die Gruppen, Stämme, Nationen, Völker und Rassen
zusammenhält, blieben die immer neu sich knüpfenden Verwandtschaftsbande in den
engeren Kreisen der Gesellschaft die stärkste Quelle für sympathische Gefühle und die
wichtigste Veranlassung zu gemeinsamer auch wirtschaftlicher Thätigkeit, zu Verträglich-
keit, zu Aufopferung, zur Entstehung aller möglichen Tugenden. Wir kommen auf diese
Dinge unten in dem Abschnitt über Familie und Geschlechtsverfassung zurück.

Die Friedens- und Kriegsgemeinschaft erwächst naturgemäß aus dem
Blutszusammenhang. Die Stämme und Völker sind nach innen durch die starken
sympathischen Gefühle und tägliches Zusammensein auf den Frieden, nach außen auf
die gemeinsame Abwehr aller Gefahren und aller Feinde angewiesen; nur unter der
Doppelbedingung des Friedens nach innen, des gemeinsamen Kampfes nach außen können
sie sich erhalten, können sie sich fortpflanzen und können sie wachsen. Zugleich ist klar,
daß die Veranstaltungen hiefür eine Menge neuer Vorstellungen und Interessen wecken,
und daß hieran einerseits stärkere Gefühle und Triebe des Hasses, der Kampflust gegen-
über Außenstehenden sich knüpfen, und daß andererseits damit der innere Zusammenhalt
wächst; nichts stärkt die Gemeingefühle mehr als gemeinsame Kämpfe und die Erinne-
rung daran; nichts dämpft innerhalb des Stammes die Ausbrüche der rohen Leidenschaft
mehr als die Friedensveranstaltungen. Mögen sie noch so langsam erwachsen; schon
die geordnete Blutrache, dann das Kompositionensystem sind tiefgreifende Versuche der
Streiteinengung, zuletzt siegt das Verbot jeder Selbsthülfe und die Ersetzung jeder

Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft.
unzweifelhaft die, daß die Menſchen aller Raſſen, aller Zeiten, aller Erdteile, ſofern ſie
nur etwas über den roheſten Zuſtand ſich erhoben hatten, ſtets in Gruppen vereinigt
gefunden wurden. Die kleineren Gruppen, die Horden oder Stämmchen, beſtehen aus
einer Anzahl blutsverwandter Individuen verſchiedenen Alters und Geſchlechts; die
größeren, die Stämme und Völker, aus einer Summe zuſammenhaltender Untergruppen,
d. h. Familien und Sippen, Gemeinden, Gilden oder ſonſtwie Vereinten. Die kleineren
älteren wie die größeren ſpäteren Gemeinſchaften ſtehen ſich teils feindlich, teils freundlich
gegenüber; ſtets aber ſind die Mitglieder der Gruppen unter ſich enger verbunden als
mit den Gliedern anderer, häufig ihnen feindlicher Gruppen. Nirgends hat man in
hiſtoriſcher Zeit anders als ausnahmsweiſe ganz iſoliert lebende Menſchen getroffen,
die nachweislich plötzlich angefangen hätten, ſich zuſammen zu thun, ein Gemein-
weſen zu gründen. Der Menſch gehörte ſtets zu den Herdentieren. Aber er iſt kein
ζῶον πολιτικὸν in dem Sinne, daß ein unterſchiedsloſer Geſelligkeitstrieb ihn veranlaßte,
Anſchluß an jedes andere menſchliche Weſen zu ſuchen; er thut dies ſtets nur in der
Weiſe, daß der Anſchluß an die einen Abſonderung von den anderen bedeutet.

Was ſind nun aber die äußeren, jedem ſichtbaren Zwecke, wegen deren der Zuſammen-
ſchluß ſich vollzieht; erſt wenn wir auf ſie einen Blick geworfen, werden wir uns über
die Mittel verſtändigen können, durch welche aller Anſchluß, alle Verſtändigung erfolgt.
Hauptſächlich drei Zwecke treten uns da als die wichtigſten entgegen, deren Verfolgung
die Menſchen ſtets zur Gemeinſchaft und Gruppenbildung veranlaßt hat, welche ſtarke
Gemeingefühle in Zuſammenhang mit den betreffenden Intereſſen und Vorſtellungen
bei den Teilnehmenden erzeugen.

Die Geſchlechtsverbindung und der Blutszuſammenhang iſt das
ſtärkſte und älteſte Princip geſellſchaftlicher Gruppierung. Lange Zeiträume hindurch
haben nur die Blutsverwandten und ihre Nachkommen Stämmchen und Stämme gebildet.
Die einheitliche Abſtammung und das Zuſammenaufwachſen ergab ähnliche Eigen-
ſchaften und ſtarke ſympathiſche Gefühle; nur wer desſelben Blutes war oder künſtlich
als ſolcher durch äußerliche Blutmiſchung fingiert wurde, war Genoſſe, jeder andere war
Feind. Wenn im Stamme Untergruppen ſich bildeten, ſo waren ſie ſelbſt wieder durch
die Abſtammung beſtimmt, wie die Stellung jedes einzelnen in Untergruppe und
Stamm; das Verhältnis zu anderen Stämmen hing weſentlich von der Vorſtellung
ab, ob man ſich für verwandt hielt. Auch nachdem längſt andere Bande der Gemeinſam-
keit hinzugekommen und die Vorſtellungen über den Blutszuſammenhang gelockert, teil-
weiſe erſetzt hatten, blieb das Gefühl gemeinſamer Abſtammung für die Mehrzahl der
Menſchen der ſtärkſte Kitt, der die Gruppen, Stämme, Nationen, Völker und Raſſen
zuſammenhält, blieben die immer neu ſich knüpfenden Verwandtſchaftsbande in den
engeren Kreiſen der Geſellſchaft die ſtärkſte Quelle für ſympathiſche Gefühle und die
wichtigſte Veranlaſſung zu gemeinſamer auch wirtſchaftlicher Thätigkeit, zu Verträglich-
keit, zu Aufopferung, zur Entſtehung aller möglichen Tugenden. Wir kommen auf dieſe
Dinge unten in dem Abſchnitt über Familie und Geſchlechtsverfaſſung zurück.

Die Friedens- und Kriegsgemeinſchaft erwächſt naturgemäß aus dem
Blutszuſammenhang. Die Stämme und Völker ſind nach innen durch die ſtarken
ſympathiſchen Gefühle und tägliches Zuſammenſein auf den Frieden, nach außen auf
die gemeinſame Abwehr aller Gefahren und aller Feinde angewieſen; nur unter der
Doppelbedingung des Friedens nach innen, des gemeinſamen Kampfes nach außen können
ſie ſich erhalten, können ſie ſich fortpflanzen und können ſie wachſen. Zugleich iſt klar,
daß die Veranſtaltungen hiefür eine Menge neuer Vorſtellungen und Intereſſen wecken,
und daß hieran einerſeits ſtärkere Gefühle und Triebe des Haſſes, der Kampfluſt gegen-
über Außenſtehenden ſich knüpfen, und daß andererſeits damit der innere Zuſammenhalt
wächſt; nichts ſtärkt die Gemeingefühle mehr als gemeinſame Kämpfe und die Erinne-
rung daran; nichts dämpft innerhalb des Stammes die Ausbrüche der rohen Leidenſchaft
mehr als die Friedensveranſtaltungen. Mögen ſie noch ſo langſam erwachſen; ſchon
die geordnete Blutrache, dann das Kompoſitionenſyſtem ſind tiefgreifende Verſuche der
Streiteinengung, zuletzt ſiegt das Verbot jeder Selbſthülfe und die Erſetzung jeder

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[7/0023] Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft. unzweifelhaft die, daß die Menſchen aller Raſſen, aller Zeiten, aller Erdteile, ſofern ſie nur etwas über den roheſten Zuſtand ſich erhoben hatten, ſtets in Gruppen vereinigt gefunden wurden. Die kleineren Gruppen, die Horden oder Stämmchen, beſtehen aus einer Anzahl blutsverwandter Individuen verſchiedenen Alters und Geſchlechts; die größeren, die Stämme und Völker, aus einer Summe zuſammenhaltender Untergruppen, d. h. Familien und Sippen, Gemeinden, Gilden oder ſonſtwie Vereinten. Die kleineren älteren wie die größeren ſpäteren Gemeinſchaften ſtehen ſich teils feindlich, teils freundlich gegenüber; ſtets aber ſind die Mitglieder der Gruppen unter ſich enger verbunden als mit den Gliedern anderer, häufig ihnen feindlicher Gruppen. Nirgends hat man in hiſtoriſcher Zeit anders als ausnahmsweiſe ganz iſoliert lebende Menſchen getroffen, die nachweislich plötzlich angefangen hätten, ſich zuſammen zu thun, ein Gemein- weſen zu gründen. Der Menſch gehörte ſtets zu den Herdentieren. Aber er iſt kein ζῶον πολιτικὸν in dem Sinne, daß ein unterſchiedsloſer Geſelligkeitstrieb ihn veranlaßte, Anſchluß an jedes andere menſchliche Weſen zu ſuchen; er thut dies ſtets nur in der Weiſe, daß der Anſchluß an die einen Abſonderung von den anderen bedeutet. Was ſind nun aber die äußeren, jedem ſichtbaren Zwecke, wegen deren der Zuſammen- ſchluß ſich vollzieht; erſt wenn wir auf ſie einen Blick geworfen, werden wir uns über die Mittel verſtändigen können, durch welche aller Anſchluß, alle Verſtändigung erfolgt. Hauptſächlich drei Zwecke treten uns da als die wichtigſten entgegen, deren Verfolgung die Menſchen ſtets zur Gemeinſchaft und Gruppenbildung veranlaßt hat, welche ſtarke Gemeingefühle in Zuſammenhang mit den betreffenden Intereſſen und Vorſtellungen bei den Teilnehmenden erzeugen. Die Geſchlechtsverbindung und der Blutszuſammenhang iſt das ſtärkſte und älteſte Princip geſellſchaftlicher Gruppierung. Lange Zeiträume hindurch haben nur die Blutsverwandten und ihre Nachkommen Stämmchen und Stämme gebildet. Die einheitliche Abſtammung und das Zuſammenaufwachſen ergab ähnliche Eigen- ſchaften und ſtarke ſympathiſche Gefühle; nur wer desſelben Blutes war oder künſtlich als ſolcher durch äußerliche Blutmiſchung fingiert wurde, war Genoſſe, jeder andere war Feind. Wenn im Stamme Untergruppen ſich bildeten, ſo waren ſie ſelbſt wieder durch die Abſtammung beſtimmt, wie die Stellung jedes einzelnen in Untergruppe und Stamm; das Verhältnis zu anderen Stämmen hing weſentlich von der Vorſtellung ab, ob man ſich für verwandt hielt. Auch nachdem längſt andere Bande der Gemeinſam- keit hinzugekommen und die Vorſtellungen über den Blutszuſammenhang gelockert, teil- weiſe erſetzt hatten, blieb das Gefühl gemeinſamer Abſtammung für die Mehrzahl der Menſchen der ſtärkſte Kitt, der die Gruppen, Stämme, Nationen, Völker und Raſſen zuſammenhält, blieben die immer neu ſich knüpfenden Verwandtſchaftsbande in den engeren Kreiſen der Geſellſchaft die ſtärkſte Quelle für ſympathiſche Gefühle und die wichtigſte Veranlaſſung zu gemeinſamer auch wirtſchaftlicher Thätigkeit, zu Verträglich- keit, zu Aufopferung, zur Entſtehung aller möglichen Tugenden. Wir kommen auf dieſe Dinge unten in dem Abſchnitt über Familie und Geſchlechtsverfaſſung zurück. Die Friedens- und Kriegsgemeinſchaft erwächſt naturgemäß aus dem Blutszuſammenhang. Die Stämme und Völker ſind nach innen durch die ſtarken ſympathiſchen Gefühle und tägliches Zuſammenſein auf den Frieden, nach außen auf die gemeinſame Abwehr aller Gefahren und aller Feinde angewieſen; nur unter der Doppelbedingung des Friedens nach innen, des gemeinſamen Kampfes nach außen können ſie ſich erhalten, können ſie ſich fortpflanzen und können ſie wachſen. Zugleich iſt klar, daß die Veranſtaltungen hiefür eine Menge neuer Vorſtellungen und Intereſſen wecken, und daß hieran einerſeits ſtärkere Gefühle und Triebe des Haſſes, der Kampfluſt gegen- über Außenſtehenden ſich knüpfen, und daß andererſeits damit der innere Zuſammenhalt wächſt; nichts ſtärkt die Gemeingefühle mehr als gemeinſame Kämpfe und die Erinne- rung daran; nichts dämpft innerhalb des Stammes die Ausbrüche der rohen Leidenſchaft mehr als die Friedensveranſtaltungen. Mögen ſie noch ſo langſam erwachſen; ſchon die geordnete Blutrache, dann das Kompoſitionenſyſtem ſind tiefgreifende Verſuche der Streiteinengung, zuletzt ſiegt das Verbot jeder Selbſthülfe und die Erſetzung jeder

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/23>, abgerufen am 11.12.2024.