Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. Die Ursache kann doch wohl nur die sein, daß die Höhe der Technik nicht allein dieKraft der Völker bestimmt, ja daß große technische Fortschritte zwar zunächst die Ver- teidigungs- und Angriffsfähigkeit sowie den Wohlstand fördern, die äußern Mittel für alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich sehr viel höhere, oft nicht sofort oder über- haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politisch-moralische und sociale Aufgaben stellen. Die führenden Kreise degenerieren leicht durch Habsucht und Genußsucht, die geführten nehmen am Fortschritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten Druck; die Harmonie der Gesellschaft und das innere Gleichgewicht der Individuen leidet; erst die höhern moralischen und geistigen, dann auch die socialen und politischen Eigenschaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik nötig wären, fehlen; die Fortschritte auf dem Gebiete der höheren, der sittlichen Zweck- mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Institutionen im Innern und nach außen werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerstören die Staaten und ihren Wohlstand trotz hoher Technik. So wird es begreiflich, daß der ersten großen Blütezeit asiatischer Technik eine Ein gewisser Rückgang oder Stillstand der Technik war schon mit den großen Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb- Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein dieKraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver- teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über- haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben ſtellen. Die führenden Kreiſe degenerieren leicht durch Habſucht und Genußſucht, die geführten nehmen am Fortſchritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten Druck; die Harmonie der Geſellſchaft und das innere Gleichgewicht der Individuen leidet; erſt die höhern moraliſchen und geiſtigen, dann auch die ſocialen und politiſchen Eigenſchaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik nötig wären, fehlen; die Fortſchritte auf dem Gebiete der höheren, der ſittlichen Zweck- mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Inſtitutionen im Innern und nach außen werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerſtören die Staaten und ihren Wohlſtand trotz hoher Technik. So wird es begreiflich, daß der erſten großen Blütezeit aſiatiſcher Technik eine Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0222" n="206"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein die<lb/> Kraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver-<lb/> teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für<lb/> alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über-<lb/> haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben<lb/> ſtellen. 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Und doch haben ſie in anderem<lb/> Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Raſſen-, ihrer anderen geiſtig-moraliſchen<lb/> Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und beſſere ſociale und<lb/> volkswirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem<lb/> einzelnen und noch mehr ihre Vorausſetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis<lb/> und die Steigerung und Verbreitung der techniſchen Fertigkeiten ſo weiter gebildet,<lb/> daß vom 14. und 15. Jahrhundert an ſchon ein gewiſſer Aufſchwung und vom<lb/> Ende des 18. eine neue große ſchöpferiſche Epoche des techniſchen Fortſchrittes ein-<lb/> treten konnte.</p><lb/> <p>Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen<lb/> Kriegen und Eroberungen, ihren Zerſtörungen, mit den großen Wanderungen und<lb/> Völkerverſchiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue<lb/> griechiſche, helleniſtiſche, römiſche, arabiſche und abendländiſche Kulturwelt ſich konſolidieren<lb/> konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtauſend brauchten die jugendlichen Völker, bis<lb/> ſie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum ſeßhaften Ackerbau, zur ſtädti-<lb/> ſchen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie<lb/> haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer<lb/> Lehrmeiſter dieſe Fortſchritte vielfach in ſehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre<lb/> aſiatiſchen Vorgänger. Andererſeits hat der Volkscharakter und das Chriſtentum, haben<lb/> die großen mitteleuropäiſchen agrariſchen Flächen die techniſch-geldwirtſchaftliche Ent-<lb/> wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderaſiaten, den Griechen und Römern<lb/> verlangſamt. Jedenfalls iſt die Thatſache lehrreich, daß die ſämtlichen hier zuſammen-<lb/> gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderaſiatiſchen Technik waren, daß ſie auf der<lb/> einen Seite in gewiſſen großen Zügen eine unter ſich und mit ihren Vorgängern<lb/> übereinſtimmende Technik haben und auf der andern Seite eine ſo verſchiedene Kultur<lb/> und ſo verſchiedene ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen erzeugten.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Griechen</hi> empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-<lb/> lichen Künſte, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die<lb/> Verkehrstechnik und den Schiffsbau. 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Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein die
Kraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver-
teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für
alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über-
haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben
ſtellen. Die führenden Kreiſe degenerieren leicht durch Habſucht und Genußſucht, die
geführten nehmen am Fortſchritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten
Druck; die Harmonie der Geſellſchaft und das innere Gleichgewicht der Individuen
leidet; erſt die höhern moraliſchen und geiſtigen, dann auch die ſocialen und politiſchen
Eigenſchaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik
nötig wären, fehlen; die Fortſchritte auf dem Gebiete der höheren, der ſittlichen Zweck-
mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Inſtitutionen im Innern und nach außen
werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerſtören die Staaten und ihren
Wohlſtand trotz hoher Technik.
So wird es begreiflich, daß der erſten großen Blütezeit aſiatiſcher Technik eine
Epoche des überwiegenden techniſchen Stillſtandes von etwa 2500 Jahren folgte, in
welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländiſchen Indogermanen
langſam die aſiatiſch-ägyptiſche Technik ſich aneigneten, ohne zunächſt ſchöpferiſch die
Mittel und Methoden derſelben weſentlich zu fördern. Und doch haben ſie in anderem
Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Raſſen-, ihrer anderen geiſtig-moraliſchen
Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und beſſere ſociale und
volkswirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem
einzelnen und noch mehr ihre Vorausſetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis
und die Steigerung und Verbreitung der techniſchen Fertigkeiten ſo weiter gebildet,
daß vom 14. und 15. Jahrhundert an ſchon ein gewiſſer Aufſchwung und vom
Ende des 18. eine neue große ſchöpferiſche Epoche des techniſchen Fortſchrittes ein-
treten konnte.
Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen
Kriegen und Eroberungen, ihren Zerſtörungen, mit den großen Wanderungen und
Völkerverſchiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue
griechiſche, helleniſtiſche, römiſche, arabiſche und abendländiſche Kulturwelt ſich konſolidieren
konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtauſend brauchten die jugendlichen Völker, bis
ſie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum ſeßhaften Ackerbau, zur ſtädti-
ſchen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie
haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer
Lehrmeiſter dieſe Fortſchritte vielfach in ſehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre
aſiatiſchen Vorgänger. Andererſeits hat der Volkscharakter und das Chriſtentum, haben
die großen mitteleuropäiſchen agrariſchen Flächen die techniſch-geldwirtſchaftliche Ent-
wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderaſiaten, den Griechen und Römern
verlangſamt. Jedenfalls iſt die Thatſache lehrreich, daß die ſämtlichen hier zuſammen-
gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderaſiatiſchen Technik waren, daß ſie auf der
einen Seite in gewiſſen großen Zügen eine unter ſich und mit ihren Vorgängern
übereinſtimmende Technik haben und auf der andern Seite eine ſo verſchiedene Kultur
und ſo verſchiedene ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen erzeugten.
Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-
lichen Künſte, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die
Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren raſch ausgebildeten kleinen Republiken
ſchufen ſie eine Blüte der Kunſt, der Wiſſenſchaft, der freien Verfaſſungsform,
die weit über den Leiſtungen des Orients ſtand und für alle Folgezeit die Muſter-
bilder der Kultur und des geſellſchaftlichen Lebens wurden. In den großen helle-
niſtiſchen Reichen, die Alexander teils ſchuf teils vorbereitete, verſchmolz griechiſche
und aſiatiſche Kultur; erhebliche techniſche und wiſſenſchaftliche Fortſchritte knüpften
ſich daran an, aber doch keine eigentliche Neugeſtaltung des techniſch-wirtſchaftlichen
Lebens.
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