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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
gewordenen Völkern der Halb- oder Ganzkultur die Tendenz der Expansion sich erhalten;
da werden, wie durch die Phöniker, die Karthager, die Griechen Handelsfaktoreien und
bald auch Töchterstädte und -Staaten gegründet, die teilweise die Mutterstadt überflügeln,
einen großen Bevölkerungsabfluß schaffen. In Griechenland blühte solche Kolonie-
aussendung und -Gründung vom 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr.; sie geschah jedesmal
nach Befragung des delphischen Gottes auf Volksbeschluß und Staatsgesetz hin, mit
einer Landvermessung und unter Leitung durch die angesehensten, amtlich hiezu bestellten
Bürger, die sogenannten Oikisten. Nochmals unter Alexander und seinen Nachfolgern
fand eine Massenauswanderung der Griechen statt; 70 Städte hat allein Alexander
gegründet und gleichmäßig mit Griechen und Orientalen besetzt; der ganze Orient wurde
hellenisiert, ähnlich wie später der Occident romanisiert wurde. Auch die römische
Koloniegründung war Staatssache; es handelte sich zuerst um Militärkolonien von je
300 Bürgern für italische Hafenstädte, später um die Latinisierung ganzer Gegenden,
z. B. Oberitaliens, seit der Zeit der Gracchen um Landzuteilungen an Bauernsöhne
und verarmte Stadtbürger, zuletzt um die Belohnung von Tausenden von Veteranen
und dann auch um die Ansiedelung von Germanen in entvölkerten Grenzprovinzen.
Kolonien von 4--6000 Bürgern kommen vor; Cäsar will 80000 arme hauptstädtische
Bürger in überseeische Provinzen führen; 12000 Latiner wurden 187 v. Chr. auf einmal
aus der Stadt Rom verwiesen; nach der Schlacht von Philippi waren 170000 Mann
zu versorgen. Das Söldnerwesen hat im ganzen Altertum wie später im Mittelalter
eine Rolle im Bevölkerungsabzug gespielt, gewissen Gegenden den Überschuß abgenommen,
anderen die fehlenden kräftigen Elemente zugeführt.

Die kolonisierende Eroberung der Germanenvölker in den ersten Jahrhunderten
nach Christi verwandelte sich später in die innere Kolonisation vom 6.--13. Jahr-
hundert, in die Städte- und Dorfgründung, in das Vordringen nach Osten ins Slaven-
land, in die Gründung der Handelsfaktoreien im Mittelmeere und in den nordischen
Gebieten. Auch die Kreuzzüge gehören in diesen Zusammenhang; sie sollen Millionen
Menschen weggeführt haben. Aber teils schon vom 12.--13., teils vom 15. und
16. Jahrhundert an hörte diese Ausdehnungsbewegung auf. Die Entdeckung der neuen
Welt, so großartig sie war, so rasch sie zu Niederlassungen, Handelsfaktoreien und den
spanischen, portugiesischen und holländischen Reichen in Ost- und Westindien führte,
erzeugte doch lange keinen größeren Menschenabfluß aus Europa; sie hob die fast vor-
handene Unbeweglichkeit der europäischen Menschheit von 1500--1700 gar nicht, von
1700--1800 nur wenig auf.

g) In den größer gewordenen europäischen Staaten, die vom 15.--19. Jahr-
hundert eifersüchtig, gedrängt nebeneinander lagen, verbot man meist die Auswanderung;
die Loslösung aus der Heimat war schwierig; die Mehrzahl der Menschen war an die
Scholle gefesselt; die Neugründung von Niederlassungen war kaum mehr irgendwo
möglich; nur vereinzelt trieb kirchliche Unduldsamkeit, wie in Spanien, Frankreich und
Österreich, Scharen der besten Bürger weg. Die neuen Kolonien jenseit der Meere sah
man als einen Gegenstand der kaufmännischen Ausbeutung, der politischen Herrschaft
und der Christianisierung, nicht als zu besiedelnde, den Menschenüberschuß aufnehmende
Gebiete an. Nur langsam begann im 17.--18. Jahrhundert in den Neuenglandstaaten
eine europäische Ackerbaukolonisation. Erst in unserem Jahrhundert hat die moderne
Technik, die Ausdehnung der europäischen Herrschaft, die Umbildung des Völker- und
Staatsrechtes und das große Wachstum der europäischen Bevölkerung den Wanderungen
wieder eine lange Zeit hindurch ungekannte Bedeutung gegeben.

Das sie von allen früheren Zeiten unterscheidende Merkmal dieser modernen Wande-
rungen ist es, daß sie zum großen Teile von den einzelnen Individuen und Familien
ausgehen, daß neben politischen und religiösen Stimmungen in erster Linie wirtschaft-
liche Motive der Wandernden und Erwerbsabsichten derer, welche sie befördern, welche
ihre Arbeit begehren, an sie Grundstücke verkaufen wollen, das ganze Getriebe derselben
in Bewegung setzen. Große Compagnien und Handelsgesellschaften haben dabei stets
eine Rolle gespielt. Die Regierungen selbst aber, die Organe der Gesamtheit, haben sich

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
gewordenen Völkern der Halb- oder Ganzkultur die Tendenz der Expanſion ſich erhalten;
da werden, wie durch die Phöniker, die Karthager, die Griechen Handelsfaktoreien und
bald auch Töchterſtädte und -Staaten gegründet, die teilweiſe die Mutterſtadt überflügeln,
einen großen Bevölkerungsabfluß ſchaffen. In Griechenland blühte ſolche Kolonie-
ausſendung und -Gründung vom 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr.; ſie geſchah jedesmal
nach Befragung des delphiſchen Gottes auf Volksbeſchluß und Staatsgeſetz hin, mit
einer Landvermeſſung und unter Leitung durch die angeſehenſten, amtlich hiezu beſtellten
Bürger, die ſogenannten Oikiſten. Nochmals unter Alexander und ſeinen Nachfolgern
fand eine Maſſenauswanderung der Griechen ſtatt; 70 Städte hat allein Alexander
gegründet und gleichmäßig mit Griechen und Orientalen beſetzt; der ganze Orient wurde
helleniſiert, ähnlich wie ſpäter der Occident romaniſiert wurde. Auch die römiſche
Koloniegründung war Staatsſache; es handelte ſich zuerſt um Militärkolonien von je
300 Bürgern für italiſche Hafenſtädte, ſpäter um die Latiniſierung ganzer Gegenden,
z. B. Oberitaliens, ſeit der Zeit der Gracchen um Landzuteilungen an Bauernſöhne
und verarmte Stadtbürger, zuletzt um die Belohnung von Tauſenden von Veteranen
und dann auch um die Anſiedelung von Germanen in entvölkerten Grenzprovinzen.
Kolonien von 4—6000 Bürgern kommen vor; Cäſar will 80000 arme hauptſtädtiſche
Bürger in überſeeiſche Provinzen führen; 12000 Latiner wurden 187 v. Chr. auf einmal
aus der Stadt Rom verwieſen; nach der Schlacht von Philippi waren 170000 Mann
zu verſorgen. Das Söldnerweſen hat im ganzen Altertum wie ſpäter im Mittelalter
eine Rolle im Bevölkerungsabzug geſpielt, gewiſſen Gegenden den Überſchuß abgenommen,
anderen die fehlenden kräftigen Elemente zugeführt.

Die koloniſierende Eroberung der Germanenvölker in den erſten Jahrhunderten
nach Chriſti verwandelte ſich ſpäter in die innere Koloniſation vom 6.—13. Jahr-
hundert, in die Städte- und Dorfgründung, in das Vordringen nach Oſten ins Slaven-
land, in die Gründung der Handelsfaktoreien im Mittelmeere und in den nordiſchen
Gebieten. Auch die Kreuzzüge gehören in dieſen Zuſammenhang; ſie ſollen Millionen
Menſchen weggeführt haben. Aber teils ſchon vom 12.—13., teils vom 15. und
16. Jahrhundert an hörte dieſe Ausdehnungsbewegung auf. Die Entdeckung der neuen
Welt, ſo großartig ſie war, ſo raſch ſie zu Niederlaſſungen, Handelsfaktoreien und den
ſpaniſchen, portugieſiſchen und holländiſchen Reichen in Oſt- und Weſtindien führte,
erzeugte doch lange keinen größeren Menſchenabfluß aus Europa; ſie hob die faſt vor-
handene Unbeweglichkeit der europäiſchen Menſchheit von 1500—1700 gar nicht, von
1700—1800 nur wenig auf.

γ) In den größer gewordenen europäiſchen Staaten, die vom 15.—19. Jahr-
hundert eiferſüchtig, gedrängt nebeneinander lagen, verbot man meiſt die Auswanderung;
die Loslöſung aus der Heimat war ſchwierig; die Mehrzahl der Menſchen war an die
Scholle gefeſſelt; die Neugründung von Niederlaſſungen war kaum mehr irgendwo
möglich; nur vereinzelt trieb kirchliche Unduldſamkeit, wie in Spanien, Frankreich und
Öſterreich, Scharen der beſten Bürger weg. Die neuen Kolonien jenſeit der Meere ſah
man als einen Gegenſtand der kaufmänniſchen Ausbeutung, der politiſchen Herrſchaft
und der Chriſtianiſierung, nicht als zu beſiedelnde, den Menſchenüberſchuß aufnehmende
Gebiete an. Nur langſam begann im 17.—18. Jahrhundert in den Neuenglandſtaaten
eine europäiſche Ackerbaukoloniſation. Erſt in unſerem Jahrhundert hat die moderne
Technik, die Ausdehnung der europäiſchen Herrſchaft, die Umbildung des Völker- und
Staatsrechtes und das große Wachstum der europäiſchen Bevölkerung den Wanderungen
wieder eine lange Zeit hindurch ungekannte Bedeutung gegeben.

Das ſie von allen früheren Zeiten unterſcheidende Merkmal dieſer modernen Wande-
rungen iſt es, daß ſie zum großen Teile von den einzelnen Individuen und Familien
ausgehen, daß neben politiſchen und religiöſen Stimmungen in erſter Linie wirtſchaft-
liche Motive der Wandernden und Erwerbsabſichten derer, welche ſie befördern, welche
ihre Arbeit begehren, an ſie Grundſtücke verkaufen wollen, das ganze Getriebe derſelben
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eine Rolle geſpielt. Die Regierungen ſelbſt aber, die Organe der Geſamtheit, haben ſich

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[178/0194] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. gewordenen Völkern der Halb- oder Ganzkultur die Tendenz der Expanſion ſich erhalten; da werden, wie durch die Phöniker, die Karthager, die Griechen Handelsfaktoreien und bald auch Töchterſtädte und -Staaten gegründet, die teilweiſe die Mutterſtadt überflügeln, einen großen Bevölkerungsabfluß ſchaffen. In Griechenland blühte ſolche Kolonie- ausſendung und -Gründung vom 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr.; ſie geſchah jedesmal nach Befragung des delphiſchen Gottes auf Volksbeſchluß und Staatsgeſetz hin, mit einer Landvermeſſung und unter Leitung durch die angeſehenſten, amtlich hiezu beſtellten Bürger, die ſogenannten Oikiſten. Nochmals unter Alexander und ſeinen Nachfolgern fand eine Maſſenauswanderung der Griechen ſtatt; 70 Städte hat allein Alexander gegründet und gleichmäßig mit Griechen und Orientalen beſetzt; der ganze Orient wurde helleniſiert, ähnlich wie ſpäter der Occident romaniſiert wurde. Auch die römiſche Koloniegründung war Staatsſache; es handelte ſich zuerſt um Militärkolonien von je 300 Bürgern für italiſche Hafenſtädte, ſpäter um die Latiniſierung ganzer Gegenden, z. B. Oberitaliens, ſeit der Zeit der Gracchen um Landzuteilungen an Bauernſöhne und verarmte Stadtbürger, zuletzt um die Belohnung von Tauſenden von Veteranen und dann auch um die Anſiedelung von Germanen in entvölkerten Grenzprovinzen. Kolonien von 4—6000 Bürgern kommen vor; Cäſar will 80000 arme hauptſtädtiſche Bürger in überſeeiſche Provinzen führen; 12000 Latiner wurden 187 v. Chr. auf einmal aus der Stadt Rom verwieſen; nach der Schlacht von Philippi waren 170000 Mann zu verſorgen. Das Söldnerweſen hat im ganzen Altertum wie ſpäter im Mittelalter eine Rolle im Bevölkerungsabzug geſpielt, gewiſſen Gegenden den Überſchuß abgenommen, anderen die fehlenden kräftigen Elemente zugeführt. Die koloniſierende Eroberung der Germanenvölker in den erſten Jahrhunderten nach Chriſti verwandelte ſich ſpäter in die innere Koloniſation vom 6.—13. Jahr- hundert, in die Städte- und Dorfgründung, in das Vordringen nach Oſten ins Slaven- land, in die Gründung der Handelsfaktoreien im Mittelmeere und in den nordiſchen Gebieten. Auch die Kreuzzüge gehören in dieſen Zuſammenhang; ſie ſollen Millionen Menſchen weggeführt haben. Aber teils ſchon vom 12.—13., teils vom 15. und 16. Jahrhundert an hörte dieſe Ausdehnungsbewegung auf. Die Entdeckung der neuen Welt, ſo großartig ſie war, ſo raſch ſie zu Niederlaſſungen, Handelsfaktoreien und den ſpaniſchen, portugieſiſchen und holländiſchen Reichen in Oſt- und Weſtindien führte, erzeugte doch lange keinen größeren Menſchenabfluß aus Europa; ſie hob die faſt vor- handene Unbeweglichkeit der europäiſchen Menſchheit von 1500—1700 gar nicht, von 1700—1800 nur wenig auf. γ) In den größer gewordenen europäiſchen Staaten, die vom 15.—19. Jahr- hundert eiferſüchtig, gedrängt nebeneinander lagen, verbot man meiſt die Auswanderung; die Loslöſung aus der Heimat war ſchwierig; die Mehrzahl der Menſchen war an die Scholle gefeſſelt; die Neugründung von Niederlaſſungen war kaum mehr irgendwo möglich; nur vereinzelt trieb kirchliche Unduldſamkeit, wie in Spanien, Frankreich und Öſterreich, Scharen der beſten Bürger weg. Die neuen Kolonien jenſeit der Meere ſah man als einen Gegenſtand der kaufmänniſchen Ausbeutung, der politiſchen Herrſchaft und der Chriſtianiſierung, nicht als zu beſiedelnde, den Menſchenüberſchuß aufnehmende Gebiete an. Nur langſam begann im 17.—18. Jahrhundert in den Neuenglandſtaaten eine europäiſche Ackerbaukoloniſation. Erſt in unſerem Jahrhundert hat die moderne Technik, die Ausdehnung der europäiſchen Herrſchaft, die Umbildung des Völker- und Staatsrechtes und das große Wachstum der europäiſchen Bevölkerung den Wanderungen wieder eine lange Zeit hindurch ungekannte Bedeutung gegeben. Das ſie von allen früheren Zeiten unterſcheidende Merkmal dieſer modernen Wande- rungen iſt es, daß ſie zum großen Teile von den einzelnen Individuen und Familien ausgehen, daß neben politiſchen und religiöſen Stimmungen in erſter Linie wirtſchaft- liche Motive der Wandernden und Erwerbsabſichten derer, welche ſie befördern, welche ihre Arbeit begehren, an ſie Grundſtücke verkaufen wollen, das ganze Getriebe derſelben in Bewegung ſetzen. Große Compagnien und Handelsgeſellſchaften haben dabei ſtets eine Rolle geſpielt. Die Regierungen ſelbſt aber, die Organe der Geſamtheit, haben ſich

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/194>, abgerufen am 12.12.2024.