Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. Teile Wohlstand, andere Armut aufwiesen, überwiegend für den idealistischen Stand-punkt eintreten. Es schmeichelte dem menschlichen Stolz und dem Kulturhochmute unserer Zeit, wenn man mit Emphase betonte: es komme nur auf die rechte Ausbildung des Menschen, seine Technik, seine Organisation an, um überall auf der Erde das Höchste zu erreichen. Die Realisten von Montesquieu, Herder, Condorcet, Heeren, Comte an, die Natur- Die methodische Wissenschaft erkennt heute das Neben- und Durcheinanderwirken Daß alles höhere Menschenleben ein Sieg des Geistes über die Natur sei, das Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Teile Wohlſtand, andere Armut aufwieſen, überwiegend für den idealiſtiſchen Stand-punkt eintreten. Es ſchmeichelte dem menſchlichen Stolz und dem Kulturhochmute unſerer Zeit, wenn man mit Emphaſe betonte: es komme nur auf die rechte Ausbildung des Menſchen, ſeine Technik, ſeine Organiſation an, um überall auf der Erde das Höchſte zu erreichen. Die Realiſten von Montesquieu, Herder, Condorcet, Heeren, Comte an, die Natur- Die methodiſche Wiſſenſchaft erkennt heute das Neben- und Durcheinanderwirken Daß alles höhere Menſchenleben ein Sieg des Geiſtes über die Natur ſei, das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0154" n="138"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> Teile Wohlſtand, andere Armut aufwieſen, überwiegend für den idealiſtiſchen Stand-<lb/> punkt eintreten. Es ſchmeichelte dem menſchlichen Stolz und dem Kulturhochmute unſerer<lb/> Zeit, wenn man mit Emphaſe betonte: es komme nur auf die rechte Ausbildung des<lb/> Menſchen, ſeine Technik, ſeine Organiſation an, um überall auf der Erde das Höchſte<lb/> zu erreichen.</p><lb/> <p>Die Realiſten von Montesquieu, Herder, Condorcet, Heeren, Comte an, die Natur-<lb/> forſcher, wie Bär, die Geographen und Anthropologen, welche nicht ſowohl die euro-<lb/> päiſchen Staaten der letzten Vergangenheit als die ganze Erde und ihre ganze Geſchichte,<lb/> überhaupt mehr die großen Unterſchiede im Auge hatten, betonten das Gegenteil mit<lb/> faſt gleichem Recht, teilweiſe freilich auch in einſeitiger Übertreibung, weil ihnen die<lb/> hiſtoriſchen Urſachen und die ganzen Entwickelungsprozeſſe des geiſtigen und politiſchen<lb/> Lebens ferner lagen.</p><lb/> <p>Die methodiſche Wiſſenſchaft erkennt heute das Neben- und Durcheinanderwirken<lb/> der natürlichen und der geiſtig-hiſtoriſchen Urſachen vollſtändig an; ſie weiß, daß es<lb/> ſich um eine gegenſeitige, komplizierte Beeinfluſſung und Abhängigkeit der Volkswirtſchaft<lb/> von der Natur und der Naturverhältniſſe von der menſchlichen Kultur und Technik<lb/> handelt; ſie weiß, daß ſie bis heute das Maß dieſer Einflüſſe im einzelnen, die Trag-<lb/> weite der Detailurſachen nicht ganz genau beſtimmen kann. Aber gewiſſe grobe Um-<lb/> riſſe der Thatſachen ſtehen feſt: Wir wiſſen heute, daß die Ungunſt der Natur am Pol<lb/> und in der Sahara, in allen waſſerarmen Gegenden und in den Hochgebirgen nie durch<lb/> den Menſchen ganz oder in der Hauptſache zu überwinden ſei, ſo viel auch die Fort-<lb/> ſchritte der Technik leiſten mögen; wir wiſſen, daß die von Natur reichen Böden des<lb/> Südens leichter eine dichte Bevölkerung nähren und einen gewiſſen Wohlſtand erzeugen<lb/> als die kargeren des Nordens; wir wiſſen, daß faſt alle höhere Kultur ſich in der ſub-<lb/> tropiſchen und gemäßigten Zone und an gewiſſen begünſtigten Örtlichkeiten derſelben<lb/> abſpielte. Wir ſind uns andererſeits aber auch bewußt, daß das Vorhandenſein günſtiger<lb/> wirtſchaftlicher Naturbedingungen nie allein ihre Benutzung erklärt, daß die entſprechende<lb/> geiſtige, moraliſche und techniſche Ausbildung der Menſchen, die rechte ſociale und<lb/> politiſche Organiſation immer hinzukommen muß, wenn auf beſſerem oder ſchlechterem<lb/> Boden der Reichtum entſtehen ſoll. Die Geſchichte hat uns belehrt, daß zu große<lb/> Erleichterung des wirtſchaftlichen Lebens allzu raſch großen Wohlſtand ſchaffen und<lb/> unter Umſtänden die Kräfte raſch zur Erſchlaffung bringen, eine gewiſſe Kargheit der<lb/> Natur ſie ſtählen kann; aber wir leugnen deshalb die günſtige Lage Hollands und<lb/> Englands und ihre großen natürlichen Vorzüge vor anderen Ländern nicht. Wir ſehen<lb/> klar, daß die fortſchreitende Technik in ungünſtiger ausgeſtatteten Ländern einen gewiſſen<lb/> Wohlſtand herbeizuführen erlaubt, daß ſie gewiſſe Unterſchiede des Bodens und der<lb/> natürlichen Ausſtattung ausgleichen kann; wir erleben es immer mehr, daß die enormen<lb/> Fortſchritte des Verkehrs auch nach ſehr kalten und ſehr heißen Ländern die dort<lb/> mangelnden Güter bringen und ſo das wirtſchaftliche Leben erleichtern können. Ob<lb/> künftige Fortſchritte der Technik noch ganz anders als heute die Ungunſt der Natur<lb/> da und dort aufzuheben vermögen, wiſſen wir nicht. Es iſt wahrſcheinlich, daß noch<lb/> viel in dieſer Richtung erreicht wird, aber es iſt nicht denkbar, daß hierdurch die<lb/> gegebenen natürlichen Grenzen aufgehoben werden; ſie werden nur verſchoben werden,<lb/> aber doch ſtets das wirtſchaftliche Leben der Völker beherrſchen. Die reichen Völker ſaßen<lb/> bis heute ſtets in mehr oder weniger begünſtigter Naturlage, und ſo wird es auch künftig<lb/> bleiben. Aber ſie erreichten Großes und Epochemachendes ſtets nur, wenn und ſo lange<lb/> ſie zugleich die Träger des moraliſch-politiſchen und des techniſchen Fortſchrittes waren.<lb/> In dem Maße, als dieſer zunahm, konnten ſie über eine ungünſtigere Naturlage Herr<lb/> werden, und wirkte die größere Anſtrengung zugleich fördernd auf ihren Wohlſtand.<lb/> So wurde es möglich, daß die höchſte menſchliche Kultur vom reicheren Südoſten nach<lb/> dem kargeren Nordweſten im Laufe der Geſchichte rücken konnte.</p><lb/> <p>Daß alles höhere Menſchenleben ein Sieg des Geiſtes über die Natur ſei, das<lb/> lehren uns alſo auch dieſe Ergebniſſe. Aber ſie zeigen uns ebenſo, daß der Menſch ſtets<lb/> ein Paraſit der Erde bleibt, daß er ſich nur an ſie anſchmiegen, ihre günſtigſten Stellen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [138/0154]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Teile Wohlſtand, andere Armut aufwieſen, überwiegend für den idealiſtiſchen Stand-
punkt eintreten. Es ſchmeichelte dem menſchlichen Stolz und dem Kulturhochmute unſerer
Zeit, wenn man mit Emphaſe betonte: es komme nur auf die rechte Ausbildung des
Menſchen, ſeine Technik, ſeine Organiſation an, um überall auf der Erde das Höchſte
zu erreichen.
Die Realiſten von Montesquieu, Herder, Condorcet, Heeren, Comte an, die Natur-
forſcher, wie Bär, die Geographen und Anthropologen, welche nicht ſowohl die euro-
päiſchen Staaten der letzten Vergangenheit als die ganze Erde und ihre ganze Geſchichte,
überhaupt mehr die großen Unterſchiede im Auge hatten, betonten das Gegenteil mit
faſt gleichem Recht, teilweiſe freilich auch in einſeitiger Übertreibung, weil ihnen die
hiſtoriſchen Urſachen und die ganzen Entwickelungsprozeſſe des geiſtigen und politiſchen
Lebens ferner lagen.
Die methodiſche Wiſſenſchaft erkennt heute das Neben- und Durcheinanderwirken
der natürlichen und der geiſtig-hiſtoriſchen Urſachen vollſtändig an; ſie weiß, daß es
ſich um eine gegenſeitige, komplizierte Beeinfluſſung und Abhängigkeit der Volkswirtſchaft
von der Natur und der Naturverhältniſſe von der menſchlichen Kultur und Technik
handelt; ſie weiß, daß ſie bis heute das Maß dieſer Einflüſſe im einzelnen, die Trag-
weite der Detailurſachen nicht ganz genau beſtimmen kann. Aber gewiſſe grobe Um-
riſſe der Thatſachen ſtehen feſt: Wir wiſſen heute, daß die Ungunſt der Natur am Pol
und in der Sahara, in allen waſſerarmen Gegenden und in den Hochgebirgen nie durch
den Menſchen ganz oder in der Hauptſache zu überwinden ſei, ſo viel auch die Fort-
ſchritte der Technik leiſten mögen; wir wiſſen, daß die von Natur reichen Böden des
Südens leichter eine dichte Bevölkerung nähren und einen gewiſſen Wohlſtand erzeugen
als die kargeren des Nordens; wir wiſſen, daß faſt alle höhere Kultur ſich in der ſub-
tropiſchen und gemäßigten Zone und an gewiſſen begünſtigten Örtlichkeiten derſelben
abſpielte. Wir ſind uns andererſeits aber auch bewußt, daß das Vorhandenſein günſtiger
wirtſchaftlicher Naturbedingungen nie allein ihre Benutzung erklärt, daß die entſprechende
geiſtige, moraliſche und techniſche Ausbildung der Menſchen, die rechte ſociale und
politiſche Organiſation immer hinzukommen muß, wenn auf beſſerem oder ſchlechterem
Boden der Reichtum entſtehen ſoll. Die Geſchichte hat uns belehrt, daß zu große
Erleichterung des wirtſchaftlichen Lebens allzu raſch großen Wohlſtand ſchaffen und
unter Umſtänden die Kräfte raſch zur Erſchlaffung bringen, eine gewiſſe Kargheit der
Natur ſie ſtählen kann; aber wir leugnen deshalb die günſtige Lage Hollands und
Englands und ihre großen natürlichen Vorzüge vor anderen Ländern nicht. Wir ſehen
klar, daß die fortſchreitende Technik in ungünſtiger ausgeſtatteten Ländern einen gewiſſen
Wohlſtand herbeizuführen erlaubt, daß ſie gewiſſe Unterſchiede des Bodens und der
natürlichen Ausſtattung ausgleichen kann; wir erleben es immer mehr, daß die enormen
Fortſchritte des Verkehrs auch nach ſehr kalten und ſehr heißen Ländern die dort
mangelnden Güter bringen und ſo das wirtſchaftliche Leben erleichtern können. Ob
künftige Fortſchritte der Technik noch ganz anders als heute die Ungunſt der Natur
da und dort aufzuheben vermögen, wiſſen wir nicht. Es iſt wahrſcheinlich, daß noch
viel in dieſer Richtung erreicht wird, aber es iſt nicht denkbar, daß hierdurch die
gegebenen natürlichen Grenzen aufgehoben werden; ſie werden nur verſchoben werden,
aber doch ſtets das wirtſchaftliche Leben der Völker beherrſchen. Die reichen Völker ſaßen
bis heute ſtets in mehr oder weniger begünſtigter Naturlage, und ſo wird es auch künftig
bleiben. Aber ſie erreichten Großes und Epochemachendes ſtets nur, wenn und ſo lange
ſie zugleich die Träger des moraliſch-politiſchen und des techniſchen Fortſchrittes waren.
In dem Maße, als dieſer zunahm, konnten ſie über eine ungünſtigere Naturlage Herr
werden, und wirkte die größere Anſtrengung zugleich fördernd auf ihren Wohlſtand.
So wurde es möglich, daß die höchſte menſchliche Kultur vom reicheren Südoſten nach
dem kargeren Nordweſten im Laufe der Geſchichte rücken konnte.
Daß alles höhere Menſchenleben ein Sieg des Geiſtes über die Natur ſei, das
lehren uns alſo auch dieſe Ergebniſſe. Aber ſie zeigen uns ebenſo, daß der Menſch ſtets
ein Paraſit der Erde bleibt, daß er ſich nur an ſie anſchmiegen, ihre günſtigſten Stellen
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