Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Lassalle, Rodbertus, Marx. idealistische Geschichtsschreibung und darum ein Verdienst, so sehr Marx und noch mehrseine Nachtreter den richtigen Gedanken übertrieben. Es ist gegen die übertreibende Formulierung des Gedankens zu bemerken, daß gewiß alle höheren Kulturgebiete durch die materiellen ökonomischen Zustände bedingt und beeinflußt sind, daß aber ebenso sicher das geistig-moralische Leben eine selbständige, für sich bestehende Entwickelungsreihe darstellt und als solche das ökonomische Getriebe beherrscht, umformt und gestaltet. Das übersieht Marx nicht bloß, sondern er ist auch infolge seiner einseitig nationalökonomischen, ganz an Ricardo angeschlossenen Vorstellungswelt unfähig, eine psychologische Analyse des wirtschaftenden Menschen vorzunehmen, die Bedeutung der sittlichen, rechtlichen und politischen Institutionen zu würdigen. Es war ein Fortschritt seiner Geschichtsauf- fassung, daß er auf die Zeichnung utopistischer Zukunftspläne verzichtete, aber zugleich verzichtete er ganz auf die Erklärung des psychologischen Wunders, das seine Geschichts- und Socialphilosophie voraussetzt: die bestehende von Marx als nichtswürdig geschilderte Welt setzt die ausschließliche Herrschaft des gemeinsten Besitzegoismus und Erwerbs- triebes bei allen Menschen voraus; die zukünftige von ihm erwartete kennt diese Eigen- schaft überhaupt nicht mehr, ohne zu erklären, wie sie plötzlich verschwinde. Auch sein nationalökonomisches System, seine Mehrwertlehre, die Darstellung der Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 7
Laſſalle, Rodbertus, Marx. idealiſtiſche Geſchichtsſchreibung und darum ein Verdienſt, ſo ſehr Marx und noch mehrſeine Nachtreter den richtigen Gedanken übertrieben. Es iſt gegen die übertreibende Formulierung des Gedankens zu bemerken, daß gewiß alle höheren Kulturgebiete durch die materiellen ökonomiſchen Zuſtände bedingt und beeinflußt ſind, daß aber ebenſo ſicher das geiſtig-moraliſche Leben eine ſelbſtändige, für ſich beſtehende Entwickelungsreihe darſtellt und als ſolche das ökonomiſche Getriebe beherrſcht, umformt und geſtaltet. Das überſieht Marx nicht bloß, ſondern er iſt auch infolge ſeiner einſeitig nationalökonomiſchen, ganz an Ricardo angeſchloſſenen Vorſtellungswelt unfähig, eine pſychologiſche Analyſe des wirtſchaftenden Menſchen vorzunehmen, die Bedeutung der ſittlichen, rechtlichen und politiſchen Inſtitutionen zu würdigen. Es war ein Fortſchritt ſeiner Geſchichtsauf- faſſung, daß er auf die Zeichnung utopiſtiſcher Zukunftspläne verzichtete, aber zugleich verzichtete er ganz auf die Erklärung des pſychologiſchen Wunders, das ſeine Geſchichts- und Socialphiloſophie vorausſetzt: die beſtehende von Marx als nichtswürdig geſchilderte Welt ſetzt die ausſchließliche Herrſchaft des gemeinſten Beſitzegoismus und Erwerbs- triebes bei allen Menſchen voraus; die zukünftige von ihm erwartete kennt dieſe Eigen- ſchaft überhaupt nicht mehr, ohne zu erklären, wie ſie plötzlich verſchwinde. Auch ſein nationalökonomiſches Syſtem, ſeine Mehrwertlehre, die Darſtellung der Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 7
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Aber doch ruht dieſes Syſtem ganz auf den Anſchauungen und Voraus-<lb/> ſetzungen Ricardos; es iſt in gewiſſem Sinne die letzte Konſequenz der einſeitigen<lb/> Naturlehre der Volkswirtſchaft. Ja Marx geht mit ſeinen mathematiſch-techniſchen und<lb/> ſpekulativ-abſtrakten Spitzfindigkeiten in gewiſſem Sinne hinter Ricardo und bis<lb/> Quesnay zurück, indem er alle Wertbildung einſeitig aus der Produktionsthätigkeit des<lb/> Arbeiters und alle ſociale Klaſſenbildung aus dem Kapital und ſeiner Verteilung<lb/> erklärt. Die Volkswirtſchaft iſt ſo nicht mal mehr Tauſchgeſellſchaft, ſondern ein techniſch-<lb/> natürlicher Vorgang, der an die Produktion, ihre Art und ihre Folgen ſich anſchließt,<lb/> der immer wieder als eine Art myſtiſchen Geheimniſſes, ſichtbar nur für Denker wie<lb/> Marx, behandelt wird. Ich komme auf ſeine Mehrwert- und Lohnlehre unten zurück.<lb/> Hier ſei nur kurz angedeutet, daß Marx das ſociale Grundproblem, wie es komme, daß<lb/> der Arbeiter bei der Güterverteilung ſo wenig, der Unternehmer ſo viel erhalte, objektiv,<lb/> durch ganz allgemeine Urſachen erklären will. Dabei geht er von der Fiktion, der<lb/> Arbeiter ſchaffe allein den Wert, als einem des Beweiſes nicht bedürftigen Axiome aus;<lb/> dem Arbeiter wird der angeblich nur durch Unrecht und Gewalt zu ſeinem Kapital<lb/> gekommene, nichtsthuende Kapitaliſt entgegengeſetzt. Und nun wird einfach geſchloſſen:<lb/> der Arbeiter erhält nach dem Preisgeſetze den niedrigen Lohn, von dem er notdürftig<lb/> leben kann, der den Produktionskoſten der Arbeit entſpricht; das Plus, was er ent-<lb/> ſprechend der myſtiſchen Produktivkraft der Arbeit erzeugt, iſt der Mehrwert, den der<lb/> Kapitaliſt in die Taſche ſteckt. In dieſer ſchablonenhaften Aufſtellung iſt das Eine<lb/> wahr, daß die Arbeitsteilung und Differenzierung der Geſellſchaft, die Geldwirtſchaft<lb/> und die komplizierte volkswirtſchaftliche Verfaſſung immer wieder an beſtimmten einzelnen<lb/> Punkten eine Güterverteilung ſchafft, welche als eine ungerechte zwiſchen leitenden und<lb/> ausführenden Kräften empfunden wird; ſo entſteht der Begriff der Ausbeutung (des un-<lb/> billigen Mehrwertes). Aber nicht das Kapital iſt daran ſchuld, ſondern die Differenzierung,<lb/> ohne die es keinen Fortſchritt gäbe; die techniſchen und kaufmänniſchen Überlegenheiten<lb/> der wenigen über die vielen, der Vorſprung der geiſtigen gegenüber der mechaniſchen<lb/> Arbeit und die ethiſch-rechtlichen Unvollkommenheiten unſerer Inſtitutionen ſind die<lb/> ſpringenden Punkte. Schon das ganze Operieren mit dem Begriff des „Kapitaliſten“<lb/> iſt eine Gedankenloſigkeit. Nicht der Kapitaliſt, ſondern der Marktkenner und Markt-<lb/> beherrſcher iſt der, welcher heute leicht mehr Werte als die übrigen Geſellſchaftsklaſſen<lb/> erwirbt. Und nicht eine Unterſuchung der Natur der Ware, des Kapitals und ähnliches<lb/> bringt uns weiter, ſondern eine ſolche der Urſachen menſchlicher Verſchiedenheit und der<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 7</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0113]
Laſſalle, Rodbertus, Marx.
idealiſtiſche Geſchichtsſchreibung und darum ein Verdienſt, ſo ſehr Marx und noch mehr
ſeine Nachtreter den richtigen Gedanken übertrieben. Es iſt gegen die übertreibende
Formulierung des Gedankens zu bemerken, daß gewiß alle höheren Kulturgebiete durch die
materiellen ökonomiſchen Zuſtände bedingt und beeinflußt ſind, daß aber ebenſo ſicher das
geiſtig-moraliſche Leben eine ſelbſtändige, für ſich beſtehende Entwickelungsreihe darſtellt
und als ſolche das ökonomiſche Getriebe beherrſcht, umformt und geſtaltet. Das überſieht
Marx nicht bloß, ſondern er iſt auch infolge ſeiner einſeitig nationalökonomiſchen, ganz
an Ricardo angeſchloſſenen Vorſtellungswelt unfähig, eine pſychologiſche Analyſe des
wirtſchaftenden Menſchen vorzunehmen, die Bedeutung der ſittlichen, rechtlichen und
politiſchen Inſtitutionen zu würdigen. Es war ein Fortſchritt ſeiner Geſchichtsauf-
faſſung, daß er auf die Zeichnung utopiſtiſcher Zukunftspläne verzichtete, aber zugleich
verzichtete er ganz auf die Erklärung des pſychologiſchen Wunders, das ſeine Geſchichts-
und Socialphiloſophie vorausſetzt: die beſtehende von Marx als nichtswürdig geſchilderte
Welt ſetzt die ausſchließliche Herrſchaft des gemeinſten Beſitzegoismus und Erwerbs-
triebes bei allen Menſchen voraus; die zukünftige von ihm erwartete kennt dieſe Eigen-
ſchaft überhaupt nicht mehr, ohne zu erklären, wie ſie plötzlich verſchwinde.
Auch ſein nationalökonomiſches Syſtem, ſeine Mehrwertlehre, die Darſtellung der
kapitaliſtiſchen Produktion und ihrer Folgen iſt eine große abſtrakte Denkerleiſtung, voll
Scharfſinn und Gedankenreichtum; man kann ſie loslöſen von den überall eingeſtreuten
ſocialiſtiſchen Flüchen und pathetiſch-moraliſchen Verurteilungen der Kapitaliſten und
Ausbeuter. Aber doch ruht dieſes Syſtem ganz auf den Anſchauungen und Voraus-
ſetzungen Ricardos; es iſt in gewiſſem Sinne die letzte Konſequenz der einſeitigen
Naturlehre der Volkswirtſchaft. Ja Marx geht mit ſeinen mathematiſch-techniſchen und
ſpekulativ-abſtrakten Spitzfindigkeiten in gewiſſem Sinne hinter Ricardo und bis
Quesnay zurück, indem er alle Wertbildung einſeitig aus der Produktionsthätigkeit des
Arbeiters und alle ſociale Klaſſenbildung aus dem Kapital und ſeiner Verteilung
erklärt. Die Volkswirtſchaft iſt ſo nicht mal mehr Tauſchgeſellſchaft, ſondern ein techniſch-
natürlicher Vorgang, der an die Produktion, ihre Art und ihre Folgen ſich anſchließt,
der immer wieder als eine Art myſtiſchen Geheimniſſes, ſichtbar nur für Denker wie
Marx, behandelt wird. Ich komme auf ſeine Mehrwert- und Lohnlehre unten zurück.
Hier ſei nur kurz angedeutet, daß Marx das ſociale Grundproblem, wie es komme, daß
der Arbeiter bei der Güterverteilung ſo wenig, der Unternehmer ſo viel erhalte, objektiv,
durch ganz allgemeine Urſachen erklären will. Dabei geht er von der Fiktion, der
Arbeiter ſchaffe allein den Wert, als einem des Beweiſes nicht bedürftigen Axiome aus;
dem Arbeiter wird der angeblich nur durch Unrecht und Gewalt zu ſeinem Kapital
gekommene, nichtsthuende Kapitaliſt entgegengeſetzt. Und nun wird einfach geſchloſſen:
der Arbeiter erhält nach dem Preisgeſetze den niedrigen Lohn, von dem er notdürftig
leben kann, der den Produktionskoſten der Arbeit entſpricht; das Plus, was er ent-
ſprechend der myſtiſchen Produktivkraft der Arbeit erzeugt, iſt der Mehrwert, den der
Kapitaliſt in die Taſche ſteckt. In dieſer ſchablonenhaften Aufſtellung iſt das Eine
wahr, daß die Arbeitsteilung und Differenzierung der Geſellſchaft, die Geldwirtſchaft
und die komplizierte volkswirtſchaftliche Verfaſſung immer wieder an beſtimmten einzelnen
Punkten eine Güterverteilung ſchafft, welche als eine ungerechte zwiſchen leitenden und
ausführenden Kräften empfunden wird; ſo entſteht der Begriff der Ausbeutung (des un-
billigen Mehrwertes). Aber nicht das Kapital iſt daran ſchuld, ſondern die Differenzierung,
ohne die es keinen Fortſchritt gäbe; die techniſchen und kaufmänniſchen Überlegenheiten
der wenigen über die vielen, der Vorſprung der geiſtigen gegenüber der mechaniſchen
Arbeit und die ethiſch-rechtlichen Unvollkommenheiten unſerer Inſtitutionen ſind die
ſpringenden Punkte. Schon das ganze Operieren mit dem Begriff des „Kapitaliſten“
iſt eine Gedankenloſigkeit. Nicht der Kapitaliſt, ſondern der Marktkenner und Markt-
beherrſcher iſt der, welcher heute leicht mehr Werte als die übrigen Geſellſchaftsklaſſen
erwirbt. Und nicht eine Unterſuchung der Natur der Ware, des Kapitals und ähnliches
bringt uns weiter, ſondern eine ſolche der Urſachen menſchlicher Verſchiedenheit und der
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 7
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