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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
suchung der psychologischen, organisatorischen, verwaltungsmäßigen Ursachenreichen und
Mittelglieder, ohne erhebliche historische und empirische Specialuntersuchungen durch
einige oberflächliche halb wahre und halb falsche Geschichtskonstruktionen nicht haltbarer,
sie sind nur auf dem Boden einer materialistischen Weltanschauung, einer Fiktion der
Gleichheit aller Menschen, einer maßlosen Überschätzung der mechanischen Handarbeit
verständlich. Die große Differenz der Systeme unter sich, die tiefe Verachtung, welche
jeder dieser "wissenschaftlichen Socialisten" für die Theorie des anderen hatte, zeigt,
wie wenig diese Gedankenreihen wirkliche feststehende Wissenschaft bedeuten, wie sehr sie
ins Gebiet der ideologischen Konstruktionen und der Hypothesen gehören.

Mögen die Marxianer Lassalle (1825--64; Schriften ed. Bernstein 1892--93)
nur als großen praktischen Agitator gelten lassen, der wissenschaftlich nicht in Betracht
komme: er war ein eitler von prahlerischem Ehrgeize verzehrter Lebemann, aber dabei
ein philosophischer Kopf und ein kenntnisreicher Jurist; sein System der erworbenen
Rechte (1861) steht mindestens ebenbürtig neben den Schriften der anderen, seine Reden
und Pamphlete sind Meisterstücke socialpolitisch demagogischer Beredsamkeit; sein Blick
für das reale Leben, die Macht- und Verfassungsfragen, die inneren Triebfedern der
gesellschaftlichen Bewegung war schärfer als der von Rodbertus und Marx; wenn er,
von L. v. Stein beeinflußt, groß vom Staate und vom socialen Königtum dachte, von einem
demokratischen Cäsarismus tiefgreifende sociale Umwälzungen erwartete, zeigte er offneren
Sinn für die letzten geschichtlichen Ursachen als die Marxischen Schwärmer für die
Abschaffung des Staates. In der Beurteilung des Staates steht Rodbertus (1805--75;
Sociale Briefe an Kirchmann, 1850--84; Normalarbeitstag, 1871; Briefe und social-
politische Aufsätze ed. R. Meyer, 2 Bde. 1882), der norddeutsche Gutsbesitzer und einsame
radikale Denker, der Schüler Schellings und Hegels, Lassalle sehr nahe; er sieht, freilich
in sehr übertriebener Weise, in aller Geschichte nur eine Zunahme der Staatsthätigkeit;
er haßt das Manchestertum wie die sensualistische Genußsucht der französischen Socia-
listen; nicht mehr genießen, sondern der Allgemeinheit sich opfern soll das Individuum.
Seine Geschichtskonstruktion ist tiefsinniger als die von Lassalle und Marx, sie ruht auf
gewissen praktischen Kenntnissen (Erklärung und Abhülfe der heutigen Kreditnot des
Grundbesitzes, 1871) und gelehrten Studien (Untersuchungen auf dem Gebiete der
Nationalökonomie des klassischen Altertums, J. f. N. 1. F. 2 ff.), sie macht eine bessere
sociale Zukunft, in welcher nicht mehr das Menschen-, das Grund- und das Kapital-
eigentum, sondern das Eigentum des individuellen Verdienstes vorherrschen soll, in
anziehender Weise denkbar. Aber seine Einkommenslehre ist schablonenhaft, seine
Erklärung der Krisen durch zu geringen Konsum der Arbeiter trifft so wenig den wesent-
lichen Punkt, als Rodbertus ein Recht hat, die infolge technischer Fortschritte zunehmende
Produktivität der Arbeit den mechanischen Handarbeitern als ihr Verdienst anzurechnen;
sein roh entworfenes Zukunftsgemälde mit Normalarbeitstag, Arbeitsgeld, Bezahlung
nach der Zeit ist ein utopischer Traum ohne jede Begründung seiner Realisierbarkeit.

Karl Marx (1818--83; Manifest der kommunistischen Partei, 1848; Zur Kritik
der politischen Ökonomie, 1859; Das Kapital, 1. 1867, 4. Aufl. 1890; 2. 1885;
3. 1894) übertraf seine Gesinnungsgenossen an stürmischer, revolutionärer Willens-
kraft, an Ernst und Tiefe der Gedanken, an dialektischer, zersetzender Schärfe, an Haßgefühl
gegen alle bestehenden Gewalten. Aber es fehlte seinem mathematisch spekulativem Kopfe
doch ganz der Sinn für die konkrete psychologische und gesellschaftliche Wirklichkeit und
für empirisches Studium. Auf dem Boden der Hegelschen Geschichtskonstruktion groß
geworden, suchte er unter Feuerbachs und Proudhons Einfluß diese realistisch zu wenden,
verfuhr dabei aber nicht minder willkürlich als Hegel und verfügte über viel geringere
Geschichtskenntnis als er. Immer bleibt die im Lapidarstil des haßerfüllten Anklägers
verfaßte Schilderung der technisch-socialen Entwickelung der englischen Großindustrie
von 1750--1850 ein Meisterstück trotz all' ihrer Einseitigkeit. Die Begründung des
ökonomischen Materialismus, d. h. der Lehre, welche den socialen, geistigen und poli-
tischen Lebensprozeß der Völker ausschließlich auf die materielle Güterproduktion und
-Verteilung zurückführen will, war ein berechtigter Protest gegen die überspannte

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſuchung der pſychologiſchen, organiſatoriſchen, verwaltungsmäßigen Urſachenreichen und
Mittelglieder, ohne erhebliche hiſtoriſche und empiriſche Specialunterſuchungen durch
einige oberflächliche halb wahre und halb falſche Geſchichtskonſtruktionen nicht haltbarer,
ſie ſind nur auf dem Boden einer materialiſtiſchen Weltanſchauung, einer Fiktion der
Gleichheit aller Menſchen, einer maßloſen Überſchätzung der mechaniſchen Handarbeit
verſtändlich. Die große Differenz der Syſteme unter ſich, die tiefe Verachtung, welche
jeder dieſer „wiſſenſchaftlichen Socialiſten“ für die Theorie des anderen hatte, zeigt,
wie wenig dieſe Gedankenreihen wirkliche feſtſtehende Wiſſenſchaft bedeuten, wie ſehr ſie
ins Gebiet der ideologiſchen Konſtruktionen und der Hypotheſen gehören.

Mögen die Marxianer Laſſalle (1825—64; Schriften ed. Bernſtein 1892—93)
nur als großen praktiſchen Agitator gelten laſſen, der wiſſenſchaftlich nicht in Betracht
komme: er war ein eitler von prahleriſchem Ehrgeize verzehrter Lebemann, aber dabei
ein philoſophiſcher Kopf und ein kenntnisreicher Juriſt; ſein Syſtem der erworbenen
Rechte (1861) ſteht mindeſtens ebenbürtig neben den Schriften der anderen, ſeine Reden
und Pamphlete ſind Meiſterſtücke ſocialpolitiſch demagogiſcher Beredſamkeit; ſein Blick
für das reale Leben, die Macht- und Verfaſſungsfragen, die inneren Triebfedern der
geſellſchaftlichen Bewegung war ſchärfer als der von Rodbertus und Marx; wenn er,
von L. v. Stein beeinflußt, groß vom Staate und vom ſocialen Königtum dachte, von einem
demokratiſchen Cäſarismus tiefgreifende ſociale Umwälzungen erwartete, zeigte er offneren
Sinn für die letzten geſchichtlichen Urſachen als die Marxiſchen Schwärmer für die
Abſchaffung des Staates. In der Beurteilung des Staates ſteht Rodbertus (1805—75;
Sociale Briefe an Kirchmann, 1850—84; Normalarbeitstag, 1871; Briefe und ſocial-
politiſche Aufſätze ed. R. Meyer, 2 Bde. 1882), der norddeutſche Gutsbeſitzer und einſame
radikale Denker, der Schüler Schellings und Hegels, Laſſalle ſehr nahe; er ſieht, freilich
in ſehr übertriebener Weiſe, in aller Geſchichte nur eine Zunahme der Staatsthätigkeit;
er haßt das Mancheſtertum wie die ſenſualiſtiſche Genußſucht der franzöſiſchen Socia-
liſten; nicht mehr genießen, ſondern der Allgemeinheit ſich opfern ſoll das Individuum.
Seine Geſchichtskonſtruktion iſt tiefſinniger als die von Laſſalle und Marx, ſie ruht auf
gewiſſen praktiſchen Kenntniſſen (Erklärung und Abhülfe der heutigen Kreditnot des
Grundbeſitzes, 1871) und gelehrten Studien (Unterſuchungen auf dem Gebiete der
Nationalökonomie des klaſſiſchen Altertums, J. f. N. 1. F. 2 ff.), ſie macht eine beſſere
ſociale Zukunft, in welcher nicht mehr das Menſchen-, das Grund- und das Kapital-
eigentum, ſondern das Eigentum des individuellen Verdienſtes vorherrſchen ſoll, in
anziehender Weiſe denkbar. Aber ſeine Einkommenslehre iſt ſchablonenhaft, ſeine
Erklärung der Kriſen durch zu geringen Konſum der Arbeiter trifft ſo wenig den weſent-
lichen Punkt, als Rodbertus ein Recht hat, die infolge techniſcher Fortſchritte zunehmende
Produktivität der Arbeit den mechaniſchen Handarbeitern als ihr Verdienſt anzurechnen;
ſein roh entworfenes Zukunftsgemälde mit Normalarbeitstag, Arbeitsgeld, Bezahlung
nach der Zeit iſt ein utopiſcher Traum ohne jede Begründung ſeiner Realiſierbarkeit.

Karl Marx (1818—83; Manifeſt der kommuniſtiſchen Partei, 1848; Zur Kritik
der politiſchen Ökonomie, 1859; Das Kapital, 1. 1867, 4. Aufl. 1890; 2. 1885;
3. 1894) übertraf ſeine Geſinnungsgenoſſen an ſtürmiſcher, revolutionärer Willens-
kraft, an Ernſt und Tiefe der Gedanken, an dialektiſcher, zerſetzender Schärfe, an Haßgefühl
gegen alle beſtehenden Gewalten. Aber es fehlte ſeinem mathematiſch ſpekulativem Kopfe
doch ganz der Sinn für die konkrete pſychologiſche und geſellſchaftliche Wirklichkeit und
für empiriſches Studium. Auf dem Boden der Hegelſchen Geſchichtskonſtruktion groß
geworden, ſuchte er unter Feuerbachs und Proudhons Einfluß dieſe realiſtiſch zu wenden,
verfuhr dabei aber nicht minder willkürlich als Hegel und verfügte über viel geringere
Geſchichtskenntnis als er. Immer bleibt die im Lapidarſtil des haßerfüllten Anklägers
verfaßte Schilderung der techniſch-ſocialen Entwickelung der engliſchen Großinduſtrie
von 1750—1850 ein Meiſterſtück trotz all’ ihrer Einſeitigkeit. Die Begründung des
ökonomiſchen Materialismus, d. h. der Lehre, welche den ſocialen, geiſtigen und poli-
tiſchen Lebensprozeß der Völker ausſchließlich auf die materielle Güterproduktion und
-Verteilung zurückführen will, war ein berechtigter Proteſt gegen die überſpannte

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[96/0112] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ſuchung der pſychologiſchen, organiſatoriſchen, verwaltungsmäßigen Urſachenreichen und Mittelglieder, ohne erhebliche hiſtoriſche und empiriſche Specialunterſuchungen durch einige oberflächliche halb wahre und halb falſche Geſchichtskonſtruktionen nicht haltbarer, ſie ſind nur auf dem Boden einer materialiſtiſchen Weltanſchauung, einer Fiktion der Gleichheit aller Menſchen, einer maßloſen Überſchätzung der mechaniſchen Handarbeit verſtändlich. Die große Differenz der Syſteme unter ſich, die tiefe Verachtung, welche jeder dieſer „wiſſenſchaftlichen Socialiſten“ für die Theorie des anderen hatte, zeigt, wie wenig dieſe Gedankenreihen wirkliche feſtſtehende Wiſſenſchaft bedeuten, wie ſehr ſie ins Gebiet der ideologiſchen Konſtruktionen und der Hypotheſen gehören. Mögen die Marxianer Laſſalle (1825—64; Schriften ed. Bernſtein 1892—93) nur als großen praktiſchen Agitator gelten laſſen, der wiſſenſchaftlich nicht in Betracht komme: er war ein eitler von prahleriſchem Ehrgeize verzehrter Lebemann, aber dabei ein philoſophiſcher Kopf und ein kenntnisreicher Juriſt; ſein Syſtem der erworbenen Rechte (1861) ſteht mindeſtens ebenbürtig neben den Schriften der anderen, ſeine Reden und Pamphlete ſind Meiſterſtücke ſocialpolitiſch demagogiſcher Beredſamkeit; ſein Blick für das reale Leben, die Macht- und Verfaſſungsfragen, die inneren Triebfedern der geſellſchaftlichen Bewegung war ſchärfer als der von Rodbertus und Marx; wenn er, von L. v. Stein beeinflußt, groß vom Staate und vom ſocialen Königtum dachte, von einem demokratiſchen Cäſarismus tiefgreifende ſociale Umwälzungen erwartete, zeigte er offneren Sinn für die letzten geſchichtlichen Urſachen als die Marxiſchen Schwärmer für die Abſchaffung des Staates. In der Beurteilung des Staates ſteht Rodbertus (1805—75; Sociale Briefe an Kirchmann, 1850—84; Normalarbeitstag, 1871; Briefe und ſocial- politiſche Aufſätze ed. R. Meyer, 2 Bde. 1882), der norddeutſche Gutsbeſitzer und einſame radikale Denker, der Schüler Schellings und Hegels, Laſſalle ſehr nahe; er ſieht, freilich in ſehr übertriebener Weiſe, in aller Geſchichte nur eine Zunahme der Staatsthätigkeit; er haßt das Mancheſtertum wie die ſenſualiſtiſche Genußſucht der franzöſiſchen Socia- liſten; nicht mehr genießen, ſondern der Allgemeinheit ſich opfern ſoll das Individuum. Seine Geſchichtskonſtruktion iſt tiefſinniger als die von Laſſalle und Marx, ſie ruht auf gewiſſen praktiſchen Kenntniſſen (Erklärung und Abhülfe der heutigen Kreditnot des Grundbeſitzes, 1871) und gelehrten Studien (Unterſuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klaſſiſchen Altertums, J. f. N. 1. F. 2 ff.), ſie macht eine beſſere ſociale Zukunft, in welcher nicht mehr das Menſchen-, das Grund- und das Kapital- eigentum, ſondern das Eigentum des individuellen Verdienſtes vorherrſchen ſoll, in anziehender Weiſe denkbar. Aber ſeine Einkommenslehre iſt ſchablonenhaft, ſeine Erklärung der Kriſen durch zu geringen Konſum der Arbeiter trifft ſo wenig den weſent- lichen Punkt, als Rodbertus ein Recht hat, die infolge techniſcher Fortſchritte zunehmende Produktivität der Arbeit den mechaniſchen Handarbeitern als ihr Verdienſt anzurechnen; ſein roh entworfenes Zukunftsgemälde mit Normalarbeitstag, Arbeitsgeld, Bezahlung nach der Zeit iſt ein utopiſcher Traum ohne jede Begründung ſeiner Realiſierbarkeit. Karl Marx (1818—83; Manifeſt der kommuniſtiſchen Partei, 1848; Zur Kritik der politiſchen Ökonomie, 1859; Das Kapital, 1. 1867, 4. Aufl. 1890; 2. 1885; 3. 1894) übertraf ſeine Geſinnungsgenoſſen an ſtürmiſcher, revolutionärer Willens- kraft, an Ernſt und Tiefe der Gedanken, an dialektiſcher, zerſetzender Schärfe, an Haßgefühl gegen alle beſtehenden Gewalten. Aber es fehlte ſeinem mathematiſch ſpekulativem Kopfe doch ganz der Sinn für die konkrete pſychologiſche und geſellſchaftliche Wirklichkeit und für empiriſches Studium. Auf dem Boden der Hegelſchen Geſchichtskonſtruktion groß geworden, ſuchte er unter Feuerbachs und Proudhons Einfluß dieſe realiſtiſch zu wenden, verfuhr dabei aber nicht minder willkürlich als Hegel und verfügte über viel geringere Geſchichtskenntnis als er. Immer bleibt die im Lapidarſtil des haßerfüllten Anklägers verfaßte Schilderung der techniſch-ſocialen Entwickelung der engliſchen Großinduſtrie von 1750—1850 ein Meiſterſtück trotz all’ ihrer Einſeitigkeit. Die Begründung des ökonomiſchen Materialismus, d. h. der Lehre, welche den ſocialen, geiſtigen und poli- tiſchen Lebensprozeß der Völker ausſchließlich auf die materielle Güterproduktion und -Verteilung zurückführen will, war ein berechtigter Proteſt gegen die überſpannte

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/112>, abgerufen am 26.11.2024.