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Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902.

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Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. 7


fertig entstanden seien, dass kein altgermanisches Religionssystem bestehe,
dass unser so spärliches Wissen von den deutschen Göttern keine trüge-
rischen Anleihen in Skandinavien machen dürfe, dass es auf eine streng
abwägende Prüfung der Stammesculte ankomme, kurz, dass dem Mythologen
mehr als die Einbildungskraft besonnenes Urtheil fruchte. Bei den früher
oft so verwegen ausgepressten Märchen vergass auch er dann nicht, was
Benfey's freilich zu einseitige Herleitung der abendländischen vom indischen
Herde den Deutern einschärfte. Wir haben ja in der Akademie erfahren,
wie sicher Weinhold die vergleichende Methode an dem Märchen vom Esel-
menschen übte; wir haben gern gelauscht, wenn der langerprobte, mit
allen Heerstrassen und Pfädchen vertraute Führer, sei es durch die weite
Welt hin, sei es mehr den Deutschen und ihren Nachbarn zugewandt, uns
die Nacktheit in heidnischen Riten, die Mystik der Neunzahl, die Heilig-
keit der Quellen, die Macht der Verwünschungsworte, den Zauber der
Hasel erschloss oder an Tiroler Gemälde vom Glücksrad, Bild und Wort
vereinigend, symbolisch-typische Betrachtungen knüpfte. Alle Fäden der
Volkskunde, dieser leutseligen Sammelwissenschaft, die bei ihm durch Ver-
bindung mit den Alterthümern ihre feste Unter- und Grundlage bekam,
liefen in seiner Hand zusammen.
1847, nachdem für die schlesischen Volkslieder schon vor längerer
Zeit durch Hoffmann von Fallersleben gut gesorgt worden war, ging Wein-
hold daran, die Sagen seiner Heimat zu bergen. Wiederum ein aus der
romantischen Wiege Heidelbergs fortgeerbtes Streben, dem damals, als
sollte Görres' Wort von den die zerstobenen Schwärme der Volkspoesie
noch rechtzeitig einfangenden Bienenvätern sich erneuen, ausser mancherlei
Auffrischung alter Habe durch Simrock auch strenge Fachgelehrte huldigten.
Eben erst der darüber jäh hingestorbene Emil Sommer in Thüringen; ein
Jahr früher, 1845, hatte Müllenhoff sein herrlich eingeleitetes Buch "Sagen,
Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein und Lauenburg" beschert. Der
grosse Krakauer Brand vernichtete 1850 mit manchen andern Vorarbeiten
Weinhold's auch seine schlesischen Sagen; doch in Graz, drei Jahre danach,
erschienen die "Weihnacht-Lieder und Spiele aus Süddeutschland und
Schlesien", worin nicht bloss die Überlieferungen eines Edelpöck, Hans
Sachs, Knaust zur Fülle des ländlichen Besitzes traten, sondern der Blick
auf die altgermanische Feier der Wintersonnenwende, das nordische Julfest
zurückgelenkt ward. Das schöne Buch hat bald Ährenleser und Schnitter


Gedächtniſsrede auf Karl Weinhold. 7


fertig entstanden seien, daſs kein altgermanisches Religionssystem bestehe,
daſs unser so spärliches Wissen von den deutschen Göttern keine trüge-
rischen Anleihen in Skandinavien machen dürfe, daſs es auf eine streng
abwägende Prüfung der Stammesculte ankomme, kurz, daſs dem Mythologen
mehr als die Einbildungskraft besonnenes Urtheil fruchte. Bei den früher
oft so verwegen ausgepreſsten Märchen vergaſs auch er dann nicht, was
Benfey’s freilich zu einseitige Herleitung der abendländischen vom indischen
Herde den Deutern einschärfte. Wir haben ja in der Akademie erfahren,
wie sicher Weinhold die vergleichende Methode an dem Märchen vom Esel-
menschen übte; wir haben gern gelauscht, wenn der langerprobte, mit
allen Heerstraſsen und Pfädchen vertraute Führer, sei es durch die weite
Welt hin, sei es mehr den Deutschen und ihren Nachbarn zugewandt, uns
die Nacktheit in heidnischen Riten, die Mystik der Neunzahl, die Heilig-
keit der Quellen, die Macht der Verwünschungsworte, den Zauber der
Hasel erschloſs oder an Tiroler Gemälde vom Glücksrad, Bild und Wort
vereinigend, symbolisch-typische Betrachtungen knüpfte. Alle Fäden der
Volkskunde, dieser leutseligen Sammelwissenschaft, die bei ihm durch Ver-
bindung mit den Alterthümern ihre feste Unter- und Grundlage bekam,
liefen in seiner Hand zusammen.
1847, nachdem für die schlesischen Volkslieder schon vor längerer
Zeit durch Hoffmann von Fallersleben gut gesorgt worden war, ging Wein-
hold daran, die Sagen seiner Heimat zu bergen. Wiederum ein aus der
romantischen Wiege Heidelbergs fortgeerbtes Streben, dem damals, als
sollte Görres' Wort von den die zerstobenen Schwärme der Volkspoesie
noch rechtzeitig einfangenden Bienenvätern sich erneuen, auſser mancherlei
Auffrischung alter Habe durch Simrock auch strenge Fachgelehrte huldigten.
Eben erst der darüber jäh hingestorbene Emil Sommer in Thüringen; ein
Jahr früher, 1845, hatte Müllenhoff sein herrlich eingeleitetes Buch »Sagen,
Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein und Lauenburg« beschert. Der
groſse Krakauer Brand vernichtete 1850 mit manchen andern Vorarbeiten
Weinhold’s auch seine schlesischen Sagen; doch in Graz, drei Jahre danach,
erschienen die »Weihnacht-Lieder und Spiele aus Süddeutschland und
Schlesien«, worin nicht bloſs die Überlieferungen eines Edelpöck, Hans
Sachs, Knaust zur Fülle des ländlichen Besitzes traten, sondern der Blick
auf die altgermanische Feier der Wintersonnenwende, das nordische Julfest
zurückgelenkt ward. Das schöne Buch hat bald Ährenleser und Schnitter

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[9/0009] Gedächtniſsrede auf Karl Weinhold. 7 fertig entstanden seien, daſs kein altgermanisches Religionssystem bestehe, daſs unser so spärliches Wissen von den deutschen Göttern keine trüge- rischen Anleihen in Skandinavien machen dürfe, daſs es auf eine streng abwägende Prüfung der Stammesculte ankomme, kurz, daſs dem Mythologen mehr als die Einbildungskraft besonnenes Urtheil fruchte. Bei den früher oft so verwegen ausgepreſsten Märchen vergaſs auch er dann nicht, was Benfey’s freilich zu einseitige Herleitung der abendländischen vom indischen Herde den Deutern einschärfte. Wir haben ja in der Akademie erfahren, wie sicher Weinhold die vergleichende Methode an dem Märchen vom Esel- menschen übte; wir haben gern gelauscht, wenn der langerprobte, mit allen Heerstraſsen und Pfädchen vertraute Führer, sei es durch die weite Welt hin, sei es mehr den Deutschen und ihren Nachbarn zugewandt, uns die Nacktheit in heidnischen Riten, die Mystik der Neunzahl, die Heilig- keit der Quellen, die Macht der Verwünschungsworte, den Zauber der Hasel erschloſs oder an Tiroler Gemälde vom Glücksrad, Bild und Wort vereinigend, symbolisch-typische Betrachtungen knüpfte. Alle Fäden der Volkskunde, dieser leutseligen Sammelwissenschaft, die bei ihm durch Ver- bindung mit den Alterthümern ihre feste Unter- und Grundlage bekam, liefen in seiner Hand zusammen. 1847, nachdem für die schlesischen Volkslieder schon vor längerer Zeit durch Hoffmann von Fallersleben gut gesorgt worden war, ging Wein- hold daran, die Sagen seiner Heimat zu bergen. Wiederum ein aus der romantischen Wiege Heidelbergs fortgeerbtes Streben, dem damals, als sollte Görres' Wort von den die zerstobenen Schwärme der Volkspoesie noch rechtzeitig einfangenden Bienenvätern sich erneuen, auſser mancherlei Auffrischung alter Habe durch Simrock auch strenge Fachgelehrte huldigten. Eben erst der darüber jäh hingestorbene Emil Sommer in Thüringen; ein Jahr früher, 1845, hatte Müllenhoff sein herrlich eingeleitetes Buch »Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein und Lauenburg« beschert. Der groſse Krakauer Brand vernichtete 1850 mit manchen andern Vorarbeiten Weinhold’s auch seine schlesischen Sagen; doch in Graz, drei Jahre danach, erschienen die »Weihnacht-Lieder und Spiele aus Süddeutschland und Schlesien«, worin nicht bloſs die Überlieferungen eines Edelpöck, Hans Sachs, Knaust zur Fülle des ländlichen Besitzes traten, sondern der Blick auf die altgermanische Feier der Wintersonnenwende, das nordische Julfest zurückgelenkt ward. Das schöne Buch hat bald Ährenleser und Schnitter

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Zitationshilfe: Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmidt_weinhold_1902/9>, abgerufen am 21.11.2024.