man glauben, das Christenthum sei eben nichts neues, sondern im A. T. schon gegeben. Allein vergleicht man den ganzen Com- plexus der christlichen Vorstellungen mit dem A. T., so zeigt sich das Gegentheil: der Unterschied fällt in die Augen. Dazu kommt, daß die Juden späterer Zeit das A. T. ganz anders anwenden als die Apostel, so daß die Voraussezung der Identität des Chri- stenthums mit dem A. T. auch von dieser Seite unstatthaft ist. Ist aber das Christenthum etwas neues, so muß es sich auch im griechischen seine eigene Sprache aus den vorgefundenen Elementen gebildet haben, die sich aus dem Totalzusammenhang der christ- lichen Gesprächsführung und des christlichen Lebens ergab. Dar- um sind neutest. Lexika, welche die Eigenthümlichkeit der neutest. Sprache vollkommen darstellen, unentbehrliche Hülfsmittel. Man muß aber wegen der großen Schwierigkeit, die diese Lexikographie hat, an die vorhandenen nicht zu große Anforderungen machen. Eine eigenthümliche Schwierigkeit liegt im Folgenden: Verfolgen wir die Geschichte der Kirche, so sehen wir, wie sich bald in der griechischen Kirche eine eigenthümliche theologische, besonders dogmatische Kunstsprache bildete. Parallel damit bildete sich in der abendländischen Kirche eine lateinische theologische Kunstsprache, aber unter Streitigkeiten mit der griechischen Kirche, die zum Theil wenigstens auf der Differenz der Sprache beruhte. Unsere deutschtheologische Sprache ist nach der lateinischen gebildet. Wo- fern wir nun aber keine andere Auctorität anerkennen als das N. T., entsteht natürlich das Bestreben, unsere theologische Sprache mit der neutest. zu vergleichen. Nun macht niemand leicht ein neutest. Lexikon ohne von dem christlich kirchlichen In- teresse auszugehen. Aus diesem Interesse entsteht leicht die Ten- denz eine bestimmte Auffassung der Glaubenslehre durch das N. T. zu bestätigen. Daraus gehen falsche Auslegungen hervor, spätere Vorstellungen und Begriffe werden in das N. T. hineingetragen, um so mehr, je mehr die Stellen einzeln genommen werden als entsprechende Beweisstellen. Nimmt man nun dazu, daß bei den herrschenden Differenzen der eine mit einem neutest. Ausdruck diese,
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man glauben, das Chriſtenthum ſei eben nichts neues, ſondern im A. T. ſchon gegeben. Allein vergleicht man den ganzen Com- plexus der chriſtlichen Vorſtellungen mit dem A. T., ſo zeigt ſich das Gegentheil: der Unterſchied faͤllt in die Augen. Dazu kommt, daß die Juden ſpaͤterer Zeit das A. T. ganz anders anwenden als die Apoſtel, ſo daß die Vorausſezung der Identitaͤt des Chri- ſtenthums mit dem A. T. auch von dieſer Seite unſtatthaft iſt. Iſt aber das Chriſtenthum etwas neues, ſo muß es ſich auch im griechiſchen ſeine eigene Sprache aus den vorgefundenen Elementen gebildet haben, die ſich aus dem Totalzuſammenhang der chriſt- lichen Geſpraͤchsfuͤhrung und des chriſtlichen Lebens ergab. Dar- um ſind neuteſt. Lexika, welche die Eigenthuͤmlichkeit der neuteſt. Sprache vollkommen darſtellen, unentbehrliche Huͤlfsmittel. Man muß aber wegen der großen Schwierigkeit, die dieſe Lexikographie hat, an die vorhandenen nicht zu große Anforderungen machen. Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit liegt im Folgenden: Verfolgen wir die Geſchichte der Kirche, ſo ſehen wir, wie ſich bald in der griechiſchen Kirche eine eigenthuͤmliche theologiſche, beſonders dogmatiſche Kunſtſprache bildete. Parallel damit bildete ſich in der abendlaͤndiſchen Kirche eine lateiniſche theologiſche Kunſtſprache, aber unter Streitigkeiten mit der griechiſchen Kirche, die zum Theil wenigſtens auf der Differenz der Sprache beruhte. Unſere deutſchtheologiſche Sprache iſt nach der lateiniſchen gebildet. Wo- fern wir nun aber keine andere Auctoritaͤt anerkennen als das N. T., entſteht natuͤrlich das Beſtreben, unſere theologiſche Sprache mit der neuteſt. zu vergleichen. Nun macht niemand leicht ein neuteſt. Lexikon ohne von dem chriſtlich kirchlichen In- tereſſe auszugehen. Aus dieſem Intereſſe entſteht leicht die Ten- denz eine beſtimmte Auffaſſung der Glaubenslehre durch das N. T. zu beſtaͤtigen. Daraus gehen falſche Auslegungen hervor, ſpaͤtere Vorſtellungen und Begriffe werden in das N. T. hineingetragen, um ſo mehr, je mehr die Stellen einzeln genommen werden als entſprechende Beweisſtellen. Nimmt man nun dazu, daß bei den herrſchenden Differenzen der eine mit einem neuteſt. Ausdruck dieſe,
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man glauben, das Chriſtenthum ſei eben nichts neues, ſondern im
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plexus der chriſtlichen Vorſtellungen mit dem A. T., ſo zeigt ſich
das Gegentheil: der Unterſchied faͤllt in die Augen. Dazu kommt,
daß die Juden ſpaͤterer Zeit das A. T. ganz anders anwenden
als die Apoſtel, ſo daß die Vorausſezung der Identitaͤt des Chri-
ſtenthums mit dem A. T. auch von dieſer Seite unſtatthaft iſt.
Iſt aber das Chriſtenthum etwas neues, ſo muß es ſich auch im
griechiſchen ſeine eigene Sprache aus den vorgefundenen Elementen
gebildet haben, die ſich aus dem Totalzuſammenhang der chriſt-
lichen Geſpraͤchsfuͤhrung und des chriſtlichen Lebens ergab. Dar-
um ſind neuteſt. Lexika, welche die Eigenthuͤmlichkeit der neuteſt.
Sprache vollkommen darſtellen, unentbehrliche Huͤlfsmittel. Man
muß aber wegen der großen Schwierigkeit, die dieſe Lexikographie
hat, an die vorhandenen nicht zu große Anforderungen machen.
Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit liegt im Folgenden: Verfolgen
wir die Geſchichte der Kirche, ſo ſehen wir, wie ſich bald in
der griechiſchen Kirche eine eigenthuͤmliche theologiſche, beſonders
dogmatiſche Kunſtſprache bildete. Parallel damit bildete ſich in
der abendlaͤndiſchen Kirche eine lateiniſche theologiſche Kunſtſprache,
aber unter Streitigkeiten mit der griechiſchen Kirche, die zum
Theil wenigſtens auf der Differenz der Sprache beruhte. Unſere
deutſchtheologiſche Sprache iſt nach der lateiniſchen gebildet. Wo-
fern wir nun aber keine andere Auctoritaͤt anerkennen als das
N. T., entſteht natuͤrlich das Beſtreben, unſere theologiſche
Sprache mit der neuteſt. zu vergleichen. Nun macht niemand
leicht ein neuteſt. Lexikon ohne von dem chriſtlich kirchlichen In-
tereſſe auszugehen. Aus dieſem Intereſſe entſteht leicht die Ten-
denz eine beſtimmte Auffaſſung der Glaubenslehre durch das N. T.
zu beſtaͤtigen. Daraus gehen falſche Auslegungen hervor, ſpaͤtere
Vorſtellungen und Begriffe werden in das N. T. hineingetragen,
um ſo mehr, je mehr die Stellen einzeln genommen werden als
entſprechende Beweisſtellen. Nimmt man nun dazu, daß bei den
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/91>, abgerufen am 05.12.2024.
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