Prosa, aber nicht in der künstlerischen, wissenschaftlichen Form, sondern mehr der des gemeinen Lebens (sunetheia). Dieß ver- dient Beachtung. Überall wo die Grammatik behandelt wird, sieht man mehr auf die künstlerische, ausgearbeitete Form der Rede. Was im gemeinen Leben vorkommt, wird weniger beach- tet. Nur zuweilen wird bei grammatischer Behandlung der Schrift- steller gesagt, wenn ein Ausdruck vorkommt, der mehr ins gemeine Leben gehört. Zu einer Gesammtanschauung der Sprache des gemeinen Lebens aber kommt es nicht. Dieß ist ein Mangel der Grammatik, der hermeneutisch wichtig ist. Je öfter Veranlassung zum Abweichen vom schriftstellerischen Sprachgebrauch vorhanden ist, desto mehr werden besondere Regeln der Grammatik veran- laßt, denn jedes regelmäßige Verstehen hört auf, und Mißver- ständnisse entstehen, wenn in der Sprache des gemeinen Lebens Combinationen und Formen vorkommen, die in der Grammatik nicht bedacht sind. Bei den neutestam. Schriftstellern ist aber außerdem zu berücksichtigen, daß sie ein gemischtes Sprachgebiet haben, wo vieles vorkommt, was gar nicht in der grammatischen Behandlung einer Sprache, wie sie rein für sich ist, berücksichtigt werden kann. Denkt man sich das Hebraisiren des N. T. so, als wären die neutest. Schriftsteller gewohnt gewesen, in irgend einem semitischen Dialekt zu denken, und ihr griechisch wäre eben nur Übersezung, und zwar so daß sie der Sprache, in welche sie übersezten, unkundig, und ihnen theils unbewußt gewesen, daß sie nur übersezten, wenn sie schrieben, so ist diese Vorstellung nicht auf alle Weise richtig. Es ist möglich, daß viele mehr grie- chisch als aramäisch gesprochen. Aber das griechisch, welches sie sprachen, war schon ein Gemisch. Diejenigen, welche beständig in solchen Gegenden sprachen, wo diese Mischsprache herrschte, versirten auch in ihrem Denken darin. So ist die neutestamen- tische Sprache keine momentane Produktion der Schriftsteller selbst, sondern dieß Sprachgebiet war ihnen schon gegeben. Hier eröffnet sich eine weitere historische Betrachtung. Nach der Zeit des N. T., als das Christenthum sich im römischen Reiche immer
Proſa, aber nicht in der kuͤnſtleriſchen, wiſſenſchaftlichen Form, ſondern mehr der des gemeinen Lebens (συνήϑεια). Dieß ver- dient Beachtung. Überall wo die Grammatik behandelt wird, ſieht man mehr auf die kuͤnſtleriſche, ausgearbeitete Form der Rede. Was im gemeinen Leben vorkommt, wird weniger beach- tet. Nur zuweilen wird bei grammatiſcher Behandlung der Schrift- ſteller geſagt, wenn ein Ausdruck vorkommt, der mehr ins gemeine Leben gehoͤrt. Zu einer Geſammtanſchauung der Sprache des gemeinen Lebens aber kommt es nicht. Dieß iſt ein Mangel der Grammatik, der hermeneutiſch wichtig iſt. Je oͤfter Veranlaſſung zum Abweichen vom ſchriftſtelleriſchen Sprachgebrauch vorhanden iſt, deſto mehr werden beſondere Regeln der Grammatik veran- laßt, denn jedes regelmaͤßige Verſtehen hoͤrt auf, und Mißver- ſtaͤndniſſe entſtehen, wenn in der Sprache des gemeinen Lebens Combinationen und Formen vorkommen, die in der Grammatik nicht bedacht ſind. Bei den neuteſtam. Schriftſtellern iſt aber außerdem zu beruͤckſichtigen, daß ſie ein gemiſchtes Sprachgebiet haben, wo vieles vorkommt, was gar nicht in der grammatiſchen Behandlung einer Sprache, wie ſie rein fuͤr ſich iſt, beruͤckſichtigt werden kann. Denkt man ſich das Hebraiſiren des N. T. ſo, als waͤren die neuteſt. Schriftſteller gewohnt geweſen, in irgend einem ſemitiſchen Dialekt zu denken, und ihr griechiſch waͤre eben nur Überſezung, und zwar ſo daß ſie der Sprache, in welche ſie uͤberſezten, unkundig, und ihnen theils unbewußt geweſen, daß ſie nur uͤberſezten, wenn ſie ſchrieben, ſo iſt dieſe Vorſtellung nicht auf alle Weiſe richtig. Es iſt moͤglich, daß viele mehr grie- chiſch als aramaͤiſch geſprochen. Aber das griechiſch, welches ſie ſprachen, war ſchon ein Gemiſch. Diejenigen, welche beſtaͤndig in ſolchen Gegenden ſprachen, wo dieſe Miſchſprache herrſchte, verſirten auch in ihrem Denken darin. So iſt die neuteſtamen- tiſche Sprache keine momentane Produktion der Schriftſteller ſelbſt, ſondern dieß Sprachgebiet war ihnen ſchon gegeben. Hier eroͤffnet ſich eine weitere hiſtoriſche Betrachtung. Nach der Zeit des N. T., als das Chriſtenthum ſich im roͤmiſchen Reiche immer
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Proſa, aber nicht in der kuͤnſtleriſchen, wiſſenſchaftlichen Form,
ſondern mehr der des gemeinen Lebens (συνήϑεια). Dieß ver-
dient Beachtung. Überall wo die Grammatik behandelt wird,
ſieht man mehr auf die kuͤnſtleriſche, ausgearbeitete Form der
Rede. Was im gemeinen Leben vorkommt, wird weniger beach-
tet. Nur zuweilen wird bei grammatiſcher Behandlung der Schrift-
ſteller geſagt, wenn ein Ausdruck vorkommt, der mehr ins gemeine
Leben gehoͤrt. Zu einer Geſammtanſchauung der Sprache des
gemeinen Lebens aber kommt es nicht. Dieß iſt ein Mangel der
Grammatik, der hermeneutiſch wichtig iſt. Je oͤfter Veranlaſſung
zum Abweichen vom ſchriftſtelleriſchen Sprachgebrauch vorhanden
iſt, deſto mehr werden beſondere Regeln der Grammatik veran-
laßt, denn jedes regelmaͤßige Verſtehen hoͤrt auf, und Mißver-
ſtaͤndniſſe entſtehen, wenn in der Sprache des gemeinen Lebens
Combinationen und Formen vorkommen, die in der Grammatik
nicht bedacht ſind. Bei den neuteſtam. Schriftſtellern iſt aber
außerdem zu beruͤckſichtigen, daß ſie ein gemiſchtes Sprachgebiet
haben, wo vieles vorkommt, was gar nicht in der grammatiſchen
Behandlung einer Sprache, wie ſie rein fuͤr ſich iſt, beruͤckſichtigt
werden kann. Denkt man ſich das Hebraiſiren des N. T. ſo,
als waͤren die neuteſt. Schriftſteller gewohnt geweſen, in irgend
einem ſemitiſchen Dialekt zu denken, und ihr griechiſch waͤre eben
nur Überſezung, und zwar ſo daß ſie der Sprache, in welche
ſie uͤberſezten, unkundig, und ihnen theils unbewußt geweſen,
daß ſie nur uͤberſezten, wenn ſie ſchrieben, ſo iſt dieſe Vorſtellung
nicht auf alle Weiſe richtig. Es iſt moͤglich, daß viele mehr grie-
chiſch als aramaͤiſch geſprochen. Aber das griechiſch, welches ſie
ſprachen, war ſchon ein Gemiſch. Diejenigen, welche beſtaͤndig
in ſolchen Gegenden ſprachen, wo dieſe Miſchſprache herrſchte,
verſirten auch in ihrem Denken darin. So iſt die neuteſtamen-
tiſche Sprache keine momentane Produktion der Schriftſteller
ſelbſt, ſondern dieß Sprachgebiet war ihnen ſchon gegeben. Hier
eroͤffnet ſich eine weitere hiſtoriſche Betrachtung. Nach der Zeit
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/83>, abgerufen am 05.12.2024.
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