Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

und divinatorische (profetische) objective und sub-
jective Nachconstruiren der gegebenen Rede.

1. Objectiv geschichtlich heißt einsehen wie sich die
Rede in der Gesammtheit der Sprache und das in ihr einge-
schlossene Wissen als ein Erzeugniß der Sprache verhält. Ob-
jectiv divinatorisch heißt ahnden wie die Rede selbst ein
Entwickelungspunkt für die Sprache werden wird. Ohne beides
ist qualitativer und quantitativer Mißverstand nicht zu vermeiden.

2. Subjectiv geschichtlich heißt wissen wie die Rede
als Thatsache im Gemüth gegeben ist, subjectiv divinatorisch
heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter
in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides
eben so Mißverstand unvermeidlich.

3. Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, die Rede zuerst
eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. Denn
weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm
ist, so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen
was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reflektirend
sein eigen[ - 1 Zeichen fehlt]r Leser wird. Auf der objectiven Seite hat er auch
hier kein andern Data als wir.

4. Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein
unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in
dem Moment der Rede sehen wollen. Daher ist auch diese
Kunst ebenfalls einer Begeisterung fähig wie jede andere. In
dem Maaße als eine Schrift diese Begeisterung nicht erregt
ist sie unbedeutend. -- Wie weit man aber und auf welche
Seite vorzüglich man mit der Annäherung gehen will, das
muß jedenfalls praktisch entschieden werden, und gehört höch-
stens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.

19. Vor der Anwendung der Kunst muß hergehen,
daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem
Urheber gleichstellt.

und divinatoriſche (profetiſche) objective und ſub-
jective Nachconſtruiren der gegebenen Rede.

1. Objectiv geſchichtlich heißt einſehen wie ſich die
Rede in der Geſammtheit der Sprache und das in ihr einge-
ſchloſſene Wiſſen als ein Erzeugniß der Sprache verhaͤlt. Ob-
jectiv divinatoriſch heißt ahnden wie die Rede ſelbſt ein
Entwickelungspunkt fuͤr die Sprache werden wird. Ohne beides
iſt qualitativer und quantitativer Mißverſtand nicht zu vermeiden.

2. Subjectiv geſchichtlich heißt wiſſen wie die Rede
als Thatſache im Gemuͤth gegeben iſt, ſubjectiv divinatoriſch
heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter
in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides
eben ſo Mißverſtand unvermeidlich.

3. Die Aufgabe iſt auch ſo auszudruͤcken, die Rede zuerſt
eben ſo gut und dann beſſer zu verſtehen als ihr Urheber. Denn
weil wir keine unmittelbare Kenntniß deſſen haben, was in ihm
iſt, ſo muͤſſen wir vieles zum Bewußtſein zu bringen ſuchen
was ihm unbewußt bleiben kann außer ſofern er ſelbſt reflektirend
ſein eigen[ – 1 Zeichen fehlt]r Leſer wird. Auf der objectiven Seite hat er auch
hier kein andern Data als wir.

4. Die Aufgabe iſt ſo geſtellt eine unendliche, weil es ein
unendliches der Vergangenheit und Zukunft iſt, was wir in
dem Moment der Rede ſehen wollen. Daher iſt auch dieſe
Kunſt ebenfalls einer Begeiſterung faͤhig wie jede andere. In
dem Maaße als eine Schrift dieſe Begeiſterung nicht erregt
iſt ſie unbedeutend. — Wie weit man aber und auf welche
Seite vorzuͤglich man mit der Annaͤherung gehen will, das
muß jedenfalls praktiſch entſchieden werden, und gehoͤrt hoͤch-
ſtens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.

19. Vor der Anwendung der Kunſt muß hergehen,
daß man ſich auf der objectiven und ſubjectiven Seite dem
Urheber gleichſtellt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0056" n="32"/>
und <hi rendition="#g">divinatori&#x017F;che</hi> (<hi rendition="#g">profeti&#x017F;che</hi>) <hi rendition="#g">objective</hi> und <hi rendition="#g">&#x017F;ub</hi>-<lb/><hi rendition="#g">jective Nachcon&#x017F;truiren der gegebenen Rede</hi>.</p><lb/>
            <p>1. <hi rendition="#g">Objectiv ge&#x017F;chichtlich</hi> heißt ein&#x017F;ehen wie &#x017F;ich die<lb/>
Rede in der Ge&#x017F;ammtheit der Sprache und das in ihr einge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Wi&#x017F;&#x017F;en als ein Erzeugniß der Sprache verha&#x0364;lt. <hi rendition="#g">Ob</hi>-<lb/><hi rendition="#g">jectiv divinatori&#x017F;ch</hi> heißt ahnden wie die Rede &#x017F;elb&#x017F;t ein<lb/>
Entwickelungspunkt fu&#x0364;r die Sprache werden wird. Ohne beides<lb/>
i&#x017F;t qualitativer und quantitativer Mißver&#x017F;tand nicht zu vermeiden.</p><lb/>
            <p>2. <hi rendition="#g">Subjectiv ge&#x017F;chichtlich</hi> heißt wi&#x017F;&#x017F;en wie die Rede<lb/>
als That&#x017F;ache im Gemu&#x0364;th gegeben i&#x017F;t, <hi rendition="#g">&#x017F;ubjectiv divinatori&#x017F;ch</hi><lb/>
heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter<lb/>
in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides<lb/>
eben &#x017F;o Mißver&#x017F;tand unvermeidlich.</p><lb/>
            <p>3. Die Aufgabe i&#x017F;t auch &#x017F;o auszudru&#x0364;cken, die Rede zuer&#x017F;t<lb/>
eben &#x017F;o gut und dann be&#x017F;&#x017F;er zu ver&#x017F;tehen als ihr Urheber. Denn<lb/>
weil wir keine unmittelbare Kenntniß de&#x017F;&#x017F;en haben, was in ihm<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir vieles zum Bewußt&#x017F;ein zu bringen &#x017F;uchen<lb/>
was ihm unbewußt bleiben kann außer &#x017F;ofern er &#x017F;elb&#x017F;t reflektirend<lb/>
&#x017F;ein eigen<gap unit="chars" quantity="1"/>r Le&#x017F;er wird. Auf der objectiven Seite hat er auch<lb/>
hier kein andern Data als wir.</p><lb/>
            <p>4. Die Aufgabe i&#x017F;t &#x017F;o ge&#x017F;tellt eine unendliche, weil es ein<lb/>
unendliches der Vergangenheit und Zukunft i&#x017F;t, was wir in<lb/>
dem Moment der Rede &#x017F;ehen wollen. Daher i&#x017F;t auch die&#x017F;e<lb/>
Kun&#x017F;t ebenfalls einer Begei&#x017F;terung fa&#x0364;hig wie jede andere. In<lb/>
dem Maaße als eine Schrift die&#x017F;e Begei&#x017F;terung nicht erregt<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie unbedeutend. &#x2014; Wie weit man aber und auf welche<lb/>
Seite vorzu&#x0364;glich man mit der Anna&#x0364;herung gehen will, das<lb/>
muß jedenfalls prakti&#x017F;ch ent&#x017F;chieden werden, und geho&#x0364;rt ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;tens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.</p><lb/>
            <p>19. Vor der Anwendung der Kun&#x017F;t muß hergehen,<lb/>
daß man &#x017F;ich auf der objectiven und &#x017F;ubjectiven Seite dem<lb/>
Urheber gleich&#x017F;tellt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0056] und divinatoriſche (profetiſche) objective und ſub- jective Nachconſtruiren der gegebenen Rede. 1. Objectiv geſchichtlich heißt einſehen wie ſich die Rede in der Geſammtheit der Sprache und das in ihr einge- ſchloſſene Wiſſen als ein Erzeugniß der Sprache verhaͤlt. Ob- jectiv divinatoriſch heißt ahnden wie die Rede ſelbſt ein Entwickelungspunkt fuͤr die Sprache werden wird. Ohne beides iſt qualitativer und quantitativer Mißverſtand nicht zu vermeiden. 2. Subjectiv geſchichtlich heißt wiſſen wie die Rede als Thatſache im Gemuͤth gegeben iſt, ſubjectiv divinatoriſch heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides eben ſo Mißverſtand unvermeidlich. 3. Die Aufgabe iſt auch ſo auszudruͤcken, die Rede zuerſt eben ſo gut und dann beſſer zu verſtehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß deſſen haben, was in ihm iſt, ſo muͤſſen wir vieles zum Bewußtſein zu bringen ſuchen was ihm unbewußt bleiben kann außer ſofern er ſelbſt reflektirend ſein eigen_r Leſer wird. Auf der objectiven Seite hat er auch hier kein andern Data als wir. 4. Die Aufgabe iſt ſo geſtellt eine unendliche, weil es ein unendliches der Vergangenheit und Zukunft iſt, was wir in dem Moment der Rede ſehen wollen. Daher iſt auch dieſe Kunſt ebenfalls einer Begeiſterung faͤhig wie jede andere. In dem Maaße als eine Schrift dieſe Begeiſterung nicht erregt iſt ſie unbedeutend. — Wie weit man aber und auf welche Seite vorzuͤglich man mit der Annaͤherung gehen will, das muß jedenfalls praktiſch entſchieden werden, und gehoͤrt hoͤch- ſtens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine. 19. Vor der Anwendung der Kunſt muß hergehen, daß man ſich auf der objectiven und ſubjectiven Seite dem Urheber gleichſtellt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/56
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/56>, abgerufen am 05.12.2024.