Schriften in den Kanon gekommen sind, daß also von den strei- tenden Partheyen diejenige die Oberhand bekommen hat, welche jene Schriften für ächt hielt. Wie das zugegangen, darüber fehlt die Geschichte. Jeder, der die Frage behandelt, weiß das sehr gut. Wenn nun aber die Frage aufs Neue behandelt wird, so wird die Sache wol so gestellt, als ob sie ein Proceß wäre, und als ob die, welche die Ächtheit behaupten, ihn schon gewonnen, als die im Besiz seien, den Angreifenden aber obläge, den Beweis zu führen. Hier ist das Urtheil durch die Überlieferung, wie oben bei dem Text das Auge bestochen. Man führt das Recht der Verjährung da ein, wo es sich von keinem Rechte, sondern von der Wahrheit handelt. Das ist ein heilloser Respect vor der Über- lieferung und ein katholisches Verfahren. Denn das Innere dieses Respects ist das Gespenst der erscheinenden Kirche. Ehe man sich davon nicht losgemacht, ist keine wissenschaftliche Behandlung möglich.
Worauf führt es, daß nur die Angreifenden den Beweis zu leisten haben? Die Vertheidigung wird dann so geführt, daß man, statt auf die Gesammtzustände zurückzugehen, nur einzelne Momente anführt, ohne zu zeigen, daß diese sich auch zusam- menreimen. Wie soll es sein? Es kommt darauf an, was dabei eigentlich zu erklären ist. Es ist die Thatsache zu erklären, daß diejenige Parthey, welche die zweifelhaften Schriften für ächt hielt, die herrschende geworden. Das Frühere ist, daß die Schriften von Einigen anerkannt wurden, von Andern nicht. Hier ist das Wahrscheinlichste zu berechnen bei der Betrachtung des Früheren und Späteren. Behandeln wir die beiden Meinungen als zwei Lesearten, und fragen wir, welche ist wahrscheinlich die ächte, welche hat mehr für sich? Hätten wir die Gründe, weßwegen die Einen jene Schriften für ächt, die Andern für unächt hielten, vollständig vor uns, so brauchten wir diese nur zu prüfen. Allein davon ist wenig übrig. So kommt es eben nur auf die Wahrscheinlichkeit an. Was haben wir in jener Zeit überwiegend vorauszusezen, Verlangen nach heiligen Schriften oder Vorsichts-
Schriften in den Kanon gekommen ſind, daß alſo von den ſtrei- tenden Partheyen diejenige die Oberhand bekommen hat, welche jene Schriften fuͤr aͤcht hielt. Wie das zugegangen, daruͤber fehlt die Geſchichte. Jeder, der die Frage behandelt, weiß das ſehr gut. Wenn nun aber die Frage aufs Neue behandelt wird, ſo wird die Sache wol ſo geſtellt, als ob ſie ein Proceß waͤre, und als ob die, welche die Ächtheit behaupten, ihn ſchon gewonnen, als die im Beſiz ſeien, den Angreifenden aber oblaͤge, den Beweis zu fuͤhren. Hier iſt das Urtheil durch die Überlieferung, wie oben bei dem Text das Auge beſtochen. Man fuͤhrt das Recht der Verjaͤhrung da ein, wo es ſich von keinem Rechte, ſondern von der Wahrheit handelt. Das iſt ein heilloſer Reſpect vor der Über- lieferung und ein katholiſches Verfahren. Denn das Innere dieſes Reſpects iſt das Geſpenſt der erſcheinenden Kirche. Ehe man ſich davon nicht losgemacht, iſt keine wiſſenſchaftliche Behandlung moͤglich.
Worauf fuͤhrt es, daß nur die Angreifenden den Beweis zu leiſten haben? Die Vertheidigung wird dann ſo gefuͤhrt, daß man, ſtatt auf die Geſammtzuſtaͤnde zuruͤckzugehen, nur einzelne Momente anfuͤhrt, ohne zu zeigen, daß dieſe ſich auch zuſam- menreimen. Wie ſoll es ſein? Es kommt darauf an, was dabei eigentlich zu erklaͤren iſt. Es iſt die Thatſache zu erklaͤren, daß diejenige Parthey, welche die zweifelhaften Schriften fuͤr aͤcht hielt, die herrſchende geworden. Das Fruͤhere iſt, daß die Schriften von Einigen anerkannt wurden, von Andern nicht. Hier iſt das Wahrſcheinlichſte zu berechnen bei der Betrachtung des Fruͤheren und Spaͤteren. Behandeln wir die beiden Meinungen als zwei Leſearten, und fragen wir, welche iſt wahrſcheinlich die aͤchte, welche hat mehr fuͤr ſich? Haͤtten wir die Gruͤnde, weßwegen die Einen jene Schriften fuͤr aͤcht, die Andern fuͤr unaͤcht hielten, vollſtaͤndig vor uns, ſo brauchten wir dieſe nur zu pruͤfen. Allein davon iſt wenig uͤbrig. So kommt es eben nur auf die Wahrſcheinlichkeit an. Was haben wir in jener Zeit uͤberwiegend vorauszuſezen, Verlangen nach heiligen Schriften oder Vorſichts-
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Schriften in den Kanon gekommen ſind, daß alſo von den ſtrei-
tenden Partheyen diejenige die Oberhand bekommen hat, welche
jene Schriften fuͤr aͤcht hielt. Wie das zugegangen, daruͤber fehlt
die Geſchichte. Jeder, der die Frage behandelt, weiß das ſehr gut.
Wenn nun aber die Frage aufs Neue behandelt wird, ſo wird
die Sache wol ſo geſtellt, als ob ſie ein Proceß waͤre, und als ob
die, welche die Ächtheit behaupten, ihn ſchon gewonnen, als die
im Beſiz ſeien, den Angreifenden aber oblaͤge, den Beweis zu
fuͤhren. Hier iſt das Urtheil durch die Überlieferung, wie oben
bei dem Text das Auge beſtochen. Man fuͤhrt das Recht der
Verjaͤhrung da ein, wo es ſich von keinem Rechte, ſondern von
der Wahrheit handelt. Das iſt ein heilloſer Reſpect vor der Über-
lieferung und ein katholiſches Verfahren. Denn das Innere dieſes
Reſpects iſt das Geſpenſt der erſcheinenden Kirche. Ehe man
ſich davon nicht losgemacht, iſt keine wiſſenſchaftliche Behandlung
moͤglich.
Worauf fuͤhrt es, daß nur die Angreifenden den Beweis zu
leiſten haben? Die Vertheidigung wird dann ſo gefuͤhrt, daß
man, ſtatt auf die Geſammtzuſtaͤnde zuruͤckzugehen, nur einzelne
Momente anfuͤhrt, ohne zu zeigen, daß dieſe ſich auch zuſam-
menreimen. Wie ſoll es ſein? Es kommt darauf an, was dabei
eigentlich zu erklaͤren iſt. Es iſt die Thatſache zu erklaͤren, daß
diejenige Parthey, welche die zweifelhaften Schriften fuͤr aͤcht hielt,
die herrſchende geworden. Das Fruͤhere iſt, daß die Schriften
von Einigen anerkannt wurden, von Andern nicht. Hier iſt das
Wahrſcheinlichſte zu berechnen bei der Betrachtung des Fruͤheren
und Spaͤteren. Behandeln wir die beiden Meinungen als zwei
Leſearten, und fragen wir, welche iſt wahrſcheinlich die aͤchte,
welche hat mehr fuͤr ſich? Haͤtten wir die Gruͤnde, weßwegen
die Einen jene Schriften fuͤr aͤcht, die Andern fuͤr unaͤcht hielten,
vollſtaͤndig vor uns, ſo brauchten wir dieſe nur zu pruͤfen.
Allein davon iſt wenig uͤbrig. So kommt es eben nur auf die
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/410>, abgerufen am 05.12.2024.
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