wir nun davon ausgehend weiter hinabsteigen, um bezeugte That- sachen zu haben, die älter sind, als unsere Evangelien, so finden wir eine merkwürdige Thatsache. Offenbar sind mehrere Briefe des N. T. zur Zeit des Kaisers Nero geschrieben. Nun ist es eine Thatsache, daß viele behauptet haben, Matthäus sei im 48. Jahre unserer Zeitrechnung geschrieben. Verbinden wir diese Thatsachen, so entsteht der merkwürdige Schluß, daß das Evan- gelium des Matthäus unter dieser Voraussezung bedeutend älter sein würde, als jene Briefe. In den Briefen des Paulus aber giebt es keine Spur, daß der Apostel eine Schrift von diesem Umfange und Inhalt gekannt habe. Ist nun wol wahrscheinlich, daß beides wirklich so zusammen gewesen? Wir haben uns den Gesammtzustand aus gewissen Elementen zusammengesezt zu den- ken, von denen das eine eine bezeugte Thatsache, das andere eine Hypothese ist. An diesem Beispiele können wir uns die Prin- cipien der historischen Kritik vollständig entwickeln. Haben wir aus einem Gesammtzustande mehrere Punkte, so fragt sich, können wir diese als Einheit zusammendenken oder nicht? Läßt es sich zusammendenken, daß Paulus in seiner Gesammtthätigkeit und eine solche Schrift geraume Zeit vorhanden war, ohne daß sich von ihr in den Paulinischen Briefen eine Notiz fände, so ist jene Hypothese, daß das Matthäusevangelium im Jahre 48 ge- schrieben sei, möglich. Kann ich das nicht, so fällt die Hypothese. So sieht man, wie man zu Werke gehen muß. Unter welchen Vor- aussezungen ließen sich wol jene beiden Punkte zusammendenken? Könnte man zeigen, Paulus könne recht gut ohne Notiz von jenem Evangelium gewesen sein, oder daß er in seinen Briefen jene Notiz nicht zu zeigen nöthig gehabt, so wären beide Punkte zusammen denkbar. Nun aber unterliegt die Chronologie des Apostels Paulus sehr vielen Zweifeln, die Frage, in welchen Zeit- punkt seiner Wirksamkeit seine Briefe fallen, ist im Allgemeinen noch nicht vollständig beantwortet. Dennoch scheint es uns un- möglich, daß er von jenem Evangelium keine Notiz gehabt haben sollte. Nach jener Hypothese soll das Evangelium in Palästina
wir nun davon ausgehend weiter hinabſteigen, um bezeugte That- ſachen zu haben, die aͤlter ſind, als unſere Evangelien, ſo finden wir eine merkwuͤrdige Thatſache. Offenbar ſind mehrere Briefe des N. T. zur Zeit des Kaiſers Nero geſchrieben. Nun iſt es eine Thatſache, daß viele behauptet haben, Matthaͤus ſei im 48. Jahre unſerer Zeitrechnung geſchrieben. Verbinden wir dieſe Thatſachen, ſo entſteht der merkwuͤrdige Schluß, daß das Evan- gelium des Matthaͤus unter dieſer Vorausſezung bedeutend aͤlter ſein wuͤrde, als jene Briefe. In den Briefen des Paulus aber giebt es keine Spur, daß der Apoſtel eine Schrift von dieſem Umfange und Inhalt gekannt habe. Iſt nun wol wahrſcheinlich, daß beides wirklich ſo zuſammen geweſen? Wir haben uns den Geſammtzuſtand aus gewiſſen Elementen zuſammengeſezt zu den- ken, von denen das eine eine bezeugte Thatſache, das andere eine Hypotheſe iſt. An dieſem Beiſpiele koͤnnen wir uns die Prin- cipien der hiſtoriſchen Kritik vollſtaͤndig entwickeln. Haben wir aus einem Geſammtzuſtande mehrere Punkte, ſo fragt ſich, koͤnnen wir dieſe als Einheit zuſammendenken oder nicht? Laͤßt es ſich zuſammendenken, daß Paulus in ſeiner Geſammtthaͤtigkeit und eine ſolche Schrift geraume Zeit vorhanden war, ohne daß ſich von ihr in den Pauliniſchen Briefen eine Notiz faͤnde, ſo iſt jene Hypotheſe, daß das Matthaͤusevangelium im Jahre 48 ge- ſchrieben ſei, moͤglich. Kann ich das nicht, ſo faͤllt die Hypotheſe. So ſieht man, wie man zu Werke gehen muß. Unter welchen Vor- ausſezungen ließen ſich wol jene beiden Punkte zuſammendenken? Koͤnnte man zeigen, Paulus koͤnne recht gut ohne Notiz von jenem Evangelium geweſen ſein, oder daß er in ſeinen Briefen jene Notiz nicht zu zeigen noͤthig gehabt, ſo waͤren beide Punkte zuſammen denkbar. Nun aber unterliegt die Chronologie des Apoſtels Paulus ſehr vielen Zweifeln, die Frage, in welchen Zeit- punkt ſeiner Wirkſamkeit ſeine Briefe fallen, iſt im Allgemeinen noch nicht vollſtaͤndig beantwortet. Dennoch ſcheint es uns un- moͤglich, daß er von jenem Evangelium keine Notiz gehabt haben ſollte. Nach jener Hypotheſe ſoll das Evangelium in Palaͤſtina
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wir nun davon ausgehend weiter hinabſteigen, um bezeugte That-
ſachen zu haben, die aͤlter ſind, als unſere Evangelien, ſo finden
wir eine merkwuͤrdige Thatſache. Offenbar ſind mehrere Briefe
des N. T. zur Zeit des Kaiſers Nero geſchrieben. Nun iſt es
eine Thatſache, daß viele behauptet haben, Matthaͤus ſei im 48.
Jahre unſerer Zeitrechnung geſchrieben. Verbinden wir dieſe
Thatſachen, ſo entſteht der merkwuͤrdige Schluß, daß das Evan-
gelium des Matthaͤus unter dieſer Vorausſezung bedeutend aͤlter
ſein wuͤrde, als jene Briefe. In den Briefen des Paulus aber
giebt es keine Spur, daß der Apoſtel eine Schrift von dieſem
Umfange und Inhalt gekannt habe. Iſt nun wol wahrſcheinlich,
daß beides wirklich ſo zuſammen geweſen? Wir haben uns den
Geſammtzuſtand aus gewiſſen Elementen zuſammengeſezt zu den-
ken, von denen das eine eine bezeugte Thatſache, das andere eine
Hypotheſe iſt. An dieſem Beiſpiele koͤnnen wir uns die Prin-
cipien der hiſtoriſchen Kritik vollſtaͤndig entwickeln. Haben wir
aus einem Geſammtzuſtande mehrere Punkte, ſo fragt ſich, koͤnnen
wir dieſe als Einheit zuſammendenken oder nicht? Laͤßt es ſich
zuſammendenken, daß Paulus in ſeiner Geſammtthaͤtigkeit und
eine ſolche Schrift geraume Zeit vorhanden war, ohne daß ſich
von ihr in den Pauliniſchen Briefen eine Notiz faͤnde, ſo iſt
jene Hypotheſe, daß das Matthaͤusevangelium im Jahre 48 ge-
ſchrieben ſei, moͤglich. Kann ich das nicht, ſo faͤllt die Hypotheſe.
So ſieht man, wie man zu Werke gehen muß. Unter welchen Vor-
ausſezungen ließen ſich wol jene beiden Punkte zuſammendenken?
Koͤnnte man zeigen, Paulus koͤnne recht gut ohne Notiz von
jenem Evangelium geweſen ſein, oder daß er in ſeinen Briefen
jene Notiz nicht zu zeigen noͤthig gehabt, ſo waͤren beide Punkte
zuſammen denkbar. Nun aber unterliegt die Chronologie des
Apoſtels Paulus ſehr vielen Zweifeln, die Frage, in welchen Zeit-
punkt ſeiner Wirkſamkeit ſeine Briefe fallen, iſt im Allgemeinen
noch nicht vollſtaͤndig beantwortet. Dennoch ſcheint es uns un-
moͤglich, daß er von jenem Evangelium keine Notiz gehabt haben
ſollte. Nach jener Hypotheſe ſoll das Evangelium in Palaͤſtina
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/405>, abgerufen am 05.12.2024.
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