niß giebt es auch solche, welche der Einheit jedes einzelnen Evan- geliums bis auf einen gewissen Grad aufheben. Findet man es wahrscheinlich, daß die Evangelien aus schon vorhandenen schrift- lichen und mündlichen Überlieferungen so entstanden sind, daß Verschiedene auf verschiedene Weise ein Ganzes daraus gemacht haben, so fragt sich, ob der Verfasser die schriftlich vorhandenen Elemente aufgenommen, wie sie waren, oder ob er sie in seiner eigenen Schreibweise überarbeitet gegeben habe? Wird das erstere wahrscheinlich gemacht, so hört die Einheit der Schrift für das allgemeine philologische Interesse auf und die hermeneutische Aufgabe muß auf andere Weise gelöst werden. Die Schrift bildet dann nicht mehr Ein Gebiet von Analogien des Sprachgebrauchs; ihr Gebrauch wenigstens wird sehr unsicher. Dieß ist also eine sehr zusammengesezte Aufgabe, die in keinem Litteraturgebiet völlig ihres Gleichen hat. Es ist aber gewiß nicht gleichgültig, ob und wie diese Aufgabe gelöst wird, schon darum nicht, weil die herme- neutische Operation unmittelbar dadurch afficirt wird. Ja die Sache selbst ist auch anders. Soll die hermeneutische Aufgabe so vollständig als möglich gelöst werden, so ist zu wünschen, daß jeder Evangelist das Ganze auf seine Weise bearbeitet haben möge, um eine Einheit in Beziehung auf die Sprache zu haben. Bedenken wir aber, daß viele Reden Christi darin sind, welche eine ganz eigene Auctorität haben, so werden wir wünschen, diese Reden vollkommen so zu haben, wie Christus sie ursprünglich gesprochen. So entstehen zwei entgegengesezte Interessen. Es kommt aber nicht darauf an, was wir wünschen, sondern zu er- mitteln, wie die Sache sich wirklich verhält, um den Grad der Zuverlässigkeit zu bestimmen, mit der die Reden Christi überliefert sind. Ungelöst darf diese Aufgabe nicht bleiben, es fehlt sonst Wesentliches für den Gebrauch des N. T. in Beziehung auf seine vollkommene Sicherheit.
Liegen denn aber jene Aufgaben wirklich vor? Dieß klingt sonderbar. Aber es gab eine Zeit, wo die Aufgaben noch nicht vorhanden waren. Wir müssen also erst fragen, ob sie mit Recht
niß giebt es auch ſolche, welche der Einheit jedes einzelnen Evan- geliums bis auf einen gewiſſen Grad aufheben. Findet man es wahrſcheinlich, daß die Evangelien aus ſchon vorhandenen ſchrift- lichen und muͤndlichen Überlieferungen ſo entſtanden ſind, daß Verſchiedene auf verſchiedene Weiſe ein Ganzes daraus gemacht haben, ſo fragt ſich, ob der Verfaſſer die ſchriftlich vorhandenen Elemente aufgenommen, wie ſie waren, oder ob er ſie in ſeiner eigenen Schreibweiſe uͤberarbeitet gegeben habe? Wird das erſtere wahrſcheinlich gemacht, ſo hoͤrt die Einheit der Schrift fuͤr das allgemeine philologiſche Intereſſe auf und die hermeneutiſche Aufgabe muß auf andere Weiſe geloͤſt werden. Die Schrift bildet dann nicht mehr Ein Gebiet von Analogien des Sprachgebrauchs; ihr Gebrauch wenigſtens wird ſehr unſicher. Dieß iſt alſo eine ſehr zuſammengeſezte Aufgabe, die in keinem Litteraturgebiet voͤllig ihres Gleichen hat. Es iſt aber gewiß nicht gleichguͤltig, ob und wie dieſe Aufgabe geloͤſt wird, ſchon darum nicht, weil die herme- neutiſche Operation unmittelbar dadurch afficirt wird. Ja die Sache ſelbſt iſt auch anders. Soll die hermeneutiſche Aufgabe ſo vollſtaͤndig als moͤglich geloͤſt werden, ſo iſt zu wuͤnſchen, daß jeder Evangeliſt das Ganze auf ſeine Weiſe bearbeitet haben moͤge, um eine Einheit in Beziehung auf die Sprache zu haben. Bedenken wir aber, daß viele Reden Chriſti darin ſind, welche eine ganz eigene Auctoritaͤt haben, ſo werden wir wuͤnſchen, dieſe Reden vollkommen ſo zu haben, wie Chriſtus ſie urſpruͤnglich geſprochen. So entſtehen zwei entgegengeſezte Intereſſen. Es kommt aber nicht darauf an, was wir wuͤnſchen, ſondern zu er- mitteln, wie die Sache ſich wirklich verhaͤlt, um den Grad der Zuverlaͤſſigkeit zu beſtimmen, mit der die Reden Chriſti uͤberliefert ſind. Ungeloͤſt darf dieſe Aufgabe nicht bleiben, es fehlt ſonſt Weſentliches fuͤr den Gebrauch des N. T. in Beziehung auf ſeine vollkommene Sicherheit.
Liegen denn aber jene Aufgaben wirklich vor? Dieß klingt ſonderbar. Aber es gab eine Zeit, wo die Aufgaben noch nicht vorhanden waren. Wir muͤſſen alſo erſt fragen, ob ſie mit Recht
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[378/0402]
niß giebt es auch ſolche, welche der Einheit jedes einzelnen Evan-
geliums bis auf einen gewiſſen Grad aufheben. Findet man es
wahrſcheinlich, daß die Evangelien aus ſchon vorhandenen ſchrift-
lichen und muͤndlichen Überlieferungen ſo entſtanden ſind, daß
Verſchiedene auf verſchiedene Weiſe ein Ganzes daraus gemacht
haben, ſo fragt ſich, ob der Verfaſſer die ſchriftlich vorhandenen
Elemente aufgenommen, wie ſie waren, oder ob er ſie in ſeiner
eigenen Schreibweiſe uͤberarbeitet gegeben habe? Wird das erſtere
wahrſcheinlich gemacht, ſo hoͤrt die Einheit der Schrift fuͤr das
allgemeine philologiſche Intereſſe auf und die hermeneutiſche Aufgabe
muß auf andere Weiſe geloͤſt werden. Die Schrift bildet dann
nicht mehr Ein Gebiet von Analogien des Sprachgebrauchs; ihr
Gebrauch wenigſtens wird ſehr unſicher. Dieß iſt alſo eine ſehr
zuſammengeſezte Aufgabe, die in keinem Litteraturgebiet voͤllig
ihres Gleichen hat. Es iſt aber gewiß nicht gleichguͤltig, ob und
wie dieſe Aufgabe geloͤſt wird, ſchon darum nicht, weil die herme-
neutiſche Operation unmittelbar dadurch afficirt wird. Ja die
Sache ſelbſt iſt auch anders. Soll die hermeneutiſche Aufgabe
ſo vollſtaͤndig als moͤglich geloͤſt werden, ſo iſt zu wuͤnſchen,
daß jeder Evangeliſt das Ganze auf ſeine Weiſe bearbeitet haben
moͤge, um eine Einheit in Beziehung auf die Sprache zu haben.
Bedenken wir aber, daß viele Reden Chriſti darin ſind, welche
eine ganz eigene Auctoritaͤt haben, ſo werden wir wuͤnſchen, dieſe
Reden vollkommen ſo zu haben, wie Chriſtus ſie urſpruͤnglich
geſprochen. So entſtehen zwei entgegengeſezte Intereſſen. Es
kommt aber nicht darauf an, was wir wuͤnſchen, ſondern zu er-
mitteln, wie die Sache ſich wirklich verhaͤlt, um den Grad der
Zuverlaͤſſigkeit zu beſtimmen, mit der die Reden Chriſti uͤberliefert
ſind. Ungeloͤſt darf dieſe Aufgabe nicht bleiben, es fehlt ſonſt
Weſentliches fuͤr den Gebrauch des N. T. in Beziehung auf ſeine
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/402>, abgerufen am 05.12.2024.
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