Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein haben verviel-
fältigt und verbreitet werden können. So wird also die Verbrei-
tung derselben durch mündliche Überlieferung größer gewesen sein.
Mündlich aber konnten sie nicht als Ein Ganzes überliefert wer-
den. Das ist von selbst klar. So wie man aber an eine Zer-
theilung denkt, so ist es nothwendig, eine vollständige und un-
vollständige Überlieferung anzunehmen. Das führt auf das Posi-
tive einer einzelnen Überlieferung einzelner Theile, als Factum,
welches also aus mangelhaften Nachrichten ergänzt werden muß.
Dieß ist die Aufgabe. Eben so die Aufgabe der Ausgleichung
aus differenten Zeugnissen. Diese kommt beständig und überall
vor in der Geschichte, und das ist die eigentliche Aufgabe der hi-
storischen Kritik. Wir haben diese Aufgabe von der eigentlichen
hermeneutischen Operation gesondert. Dieß ist auch nothwendig.
Aber man muß sich immer bewußt bleiben, daß die hermeneu-
tische Aufgabe nicht gelöst werden kann ohne die Operation der
historischen Kritik. Die unmittelbar hermeneutische Aufgabe ist
gelöst, wenn ich weiß, wie der Geschichtschreiber die Thatsachen
dargestellt hat. Aber wenn ich ihn gebrauchen will als historisches
Zeugniß, entsteht die Aufgabe der historischen Kritik.

Im N. T. entsteht die Aufgabe der Ausgleichung wie der
Ergänzung in Beziehung auf alles, was darin geschichtlich ist.
So ist diese doppelte Aufgabe z. B. bei der Geschichte Jesu Christi
aus den Evangelien vorhanden. Wollen wir uns dagegen das
Faktum der Ausbreitung des Christenthumes außerhalb der Zeit,
welche die Apostelgeschicht umfaßt, deutlich machen, so ist die
Aufgabe, die Thatsache durch Ergänzung vollständig zu ermitteln.
Die Ergänzung besteht darin, zwischen zwei getrennten historischen
Elementen auf wahrscheinliche Weise die Mitte auszufüllen.
Diese Aufgabe schließt sich unmittelbar an die hermeneutische Auf-
gabe an.

Bei den synoptischen Evangelien ist die Aufgabe ganz eigener
Art, weil sie hier die hermeneutische Operation selbst afficirt.
Unter den verschiedenen Hypothesen über das synoptische Verhält-

jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein haben verviel-
faͤltigt und verbreitet werden koͤnnen. So wird alſo die Verbrei-
tung derſelben durch muͤndliche Überlieferung groͤßer geweſen ſein.
Muͤndlich aber konnten ſie nicht als Ein Ganzes uͤberliefert wer-
den. Das iſt von ſelbſt klar. So wie man aber an eine Zer-
theilung denkt, ſo iſt es nothwendig, eine vollſtaͤndige und un-
vollſtaͤndige Überlieferung anzunehmen. Das fuͤhrt auf das Poſi-
tive einer einzelnen Überlieferung einzelner Theile, als Factum,
welches alſo aus mangelhaften Nachrichten ergaͤnzt werden muß.
Dieß iſt die Aufgabe. Eben ſo die Aufgabe der Ausgleichung
aus differenten Zeugniſſen. Dieſe kommt beſtaͤndig und uͤberall
vor in der Geſchichte, und das iſt die eigentliche Aufgabe der hi-
ſtoriſchen Kritik. Wir haben dieſe Aufgabe von der eigentlichen
hermeneutiſchen Operation geſondert. Dieß iſt auch nothwendig.
Aber man muß ſich immer bewußt bleiben, daß die hermeneu-
tiſche Aufgabe nicht geloͤſt werden kann ohne die Operation der
hiſtoriſchen Kritik. Die unmittelbar hermeneutiſche Aufgabe iſt
geloͤſt, wenn ich weiß, wie der Geſchichtſchreiber die Thatſachen
dargeſtellt hat. Aber wenn ich ihn gebrauchen will als hiſtoriſches
Zeugniß, entſteht die Aufgabe der hiſtoriſchen Kritik.

Im N. T. entſteht die Aufgabe der Ausgleichung wie der
Ergaͤnzung in Beziehung auf alles, was darin geſchichtlich iſt.
So iſt dieſe doppelte Aufgabe z. B. bei der Geſchichte Jeſu Chriſti
aus den Evangelien vorhanden. Wollen wir uns dagegen das
Faktum der Ausbreitung des Chriſtenthumes außerhalb der Zeit,
welche die Apoſtelgeſchicht umfaßt, deutlich machen, ſo iſt die
Aufgabe, die Thatſache durch Ergaͤnzung vollſtaͤndig zu ermitteln.
Die Ergaͤnzung beſteht darin, zwiſchen zwei getrennten hiſtoriſchen
Elementen auf wahrſcheinliche Weiſe die Mitte auszufuͤllen.
Dieſe Aufgabe ſchließt ſich unmittelbar an die hermeneutiſche Auf-
gabe an.

Bei den ſynoptiſchen Evangelien iſt die Aufgabe ganz eigener
Art, weil ſie hier die hermeneutiſche Operation ſelbſt afficirt.
Unter den verſchiedenen Hypotheſen uͤber das ſynoptiſche Verhaͤlt-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0401" n="377"/>
jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein haben verviel-<lb/>
fa&#x0364;ltigt und verbreitet werden ko&#x0364;nnen. So wird al&#x017F;o die Verbrei-<lb/>
tung der&#x017F;elben durch mu&#x0364;ndliche Überlieferung gro&#x0364;ßer gewe&#x017F;en &#x017F;ein.<lb/>
Mu&#x0364;ndlich aber konnten &#x017F;ie nicht als Ein Ganzes u&#x0364;berliefert wer-<lb/>
den. Das i&#x017F;t von &#x017F;elb&#x017F;t klar. So wie man aber an eine Zer-<lb/>
theilung denkt, &#x017F;o i&#x017F;t es nothwendig, eine voll&#x017F;ta&#x0364;ndige und un-<lb/>
voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Überlieferung anzunehmen. Das fu&#x0364;hrt auf das Po&#x017F;i-<lb/>
tive einer einzelnen Überlieferung einzelner Theile, als Factum,<lb/>
welches al&#x017F;o aus mangelhaften Nachrichten erga&#x0364;nzt werden muß.<lb/>
Dieß i&#x017F;t die Aufgabe. Eben &#x017F;o die Aufgabe der Ausgleichung<lb/>
aus differenten Zeugni&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;e kommt be&#x017F;ta&#x0364;ndig und u&#x0364;berall<lb/>
vor in der Ge&#x017F;chichte, und das i&#x017F;t die eigentliche Aufgabe der hi-<lb/>
&#x017F;tori&#x017F;chen Kritik. Wir haben die&#x017F;e Aufgabe von der eigentlichen<lb/>
hermeneuti&#x017F;chen Operation ge&#x017F;ondert. Dieß i&#x017F;t auch nothwendig.<lb/>
Aber man muß &#x017F;ich immer bewußt bleiben, daß die hermeneu-<lb/>
ti&#x017F;che Aufgabe nicht gelo&#x0364;&#x017F;t werden kann ohne die Operation der<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen Kritik. Die unmittelbar hermeneuti&#x017F;che Aufgabe i&#x017F;t<lb/>
gelo&#x0364;&#x017F;t, wenn ich weiß, wie der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber die That&#x017F;achen<lb/>
darge&#x017F;tellt hat. Aber wenn ich ihn gebrauchen will als hi&#x017F;tori&#x017F;ches<lb/>
Zeugniß, ent&#x017F;teht die Aufgabe der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Kritik.</p><lb/>
            <p>Im N. T. ent&#x017F;teht die Aufgabe der Ausgleichung wie der<lb/>
Erga&#x0364;nzung in Beziehung auf alles, was darin ge&#x017F;chichtlich i&#x017F;t.<lb/>
So i&#x017F;t die&#x017F;e doppelte Aufgabe z. B. bei der Ge&#x017F;chichte Je&#x017F;u Chri&#x017F;ti<lb/>
aus den Evangelien vorhanden. Wollen wir uns dagegen das<lb/>
Faktum der Ausbreitung des Chri&#x017F;tenthumes außerhalb der Zeit,<lb/>
welche die Apo&#x017F;telge&#x017F;chicht umfaßt, deutlich machen, &#x017F;o i&#x017F;t die<lb/>
Aufgabe, die That&#x017F;ache durch Erga&#x0364;nzung voll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu ermitteln.<lb/>
Die Erga&#x0364;nzung be&#x017F;teht darin, zwi&#x017F;chen zwei getrennten hi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
Elementen auf wahr&#x017F;cheinliche Wei&#x017F;e die Mitte auszufu&#x0364;llen.<lb/>
Die&#x017F;e Aufgabe &#x017F;chließt &#x017F;ich unmittelbar an die hermeneuti&#x017F;che Auf-<lb/>
gabe an.</p><lb/>
            <p>Bei den &#x017F;ynopti&#x017F;chen Evangelien i&#x017F;t die Aufgabe ganz eigener<lb/>
Art, weil &#x017F;ie hier die hermeneuti&#x017F;che Operation &#x017F;elb&#x017F;t afficirt.<lb/>
Unter den ver&#x017F;chiedenen Hypothe&#x017F;en u&#x0364;ber das &#x017F;ynopti&#x017F;che Verha&#x0364;lt-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0401] jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein haben verviel- faͤltigt und verbreitet werden koͤnnen. So wird alſo die Verbrei- tung derſelben durch muͤndliche Überlieferung groͤßer geweſen ſein. Muͤndlich aber konnten ſie nicht als Ein Ganzes uͤberliefert wer- den. Das iſt von ſelbſt klar. So wie man aber an eine Zer- theilung denkt, ſo iſt es nothwendig, eine vollſtaͤndige und un- vollſtaͤndige Überlieferung anzunehmen. Das fuͤhrt auf das Poſi- tive einer einzelnen Überlieferung einzelner Theile, als Factum, welches alſo aus mangelhaften Nachrichten ergaͤnzt werden muß. Dieß iſt die Aufgabe. Eben ſo die Aufgabe der Ausgleichung aus differenten Zeugniſſen. Dieſe kommt beſtaͤndig und uͤberall vor in der Geſchichte, und das iſt die eigentliche Aufgabe der hi- ſtoriſchen Kritik. Wir haben dieſe Aufgabe von der eigentlichen hermeneutiſchen Operation geſondert. Dieß iſt auch nothwendig. Aber man muß ſich immer bewußt bleiben, daß die hermeneu- tiſche Aufgabe nicht geloͤſt werden kann ohne die Operation der hiſtoriſchen Kritik. Die unmittelbar hermeneutiſche Aufgabe iſt geloͤſt, wenn ich weiß, wie der Geſchichtſchreiber die Thatſachen dargeſtellt hat. Aber wenn ich ihn gebrauchen will als hiſtoriſches Zeugniß, entſteht die Aufgabe der hiſtoriſchen Kritik. Im N. T. entſteht die Aufgabe der Ausgleichung wie der Ergaͤnzung in Beziehung auf alles, was darin geſchichtlich iſt. So iſt dieſe doppelte Aufgabe z. B. bei der Geſchichte Jeſu Chriſti aus den Evangelien vorhanden. Wollen wir uns dagegen das Faktum der Ausbreitung des Chriſtenthumes außerhalb der Zeit, welche die Apoſtelgeſchicht umfaßt, deutlich machen, ſo iſt die Aufgabe, die Thatſache durch Ergaͤnzung vollſtaͤndig zu ermitteln. Die Ergaͤnzung beſteht darin, zwiſchen zwei getrennten hiſtoriſchen Elementen auf wahrſcheinliche Weiſe die Mitte auszufuͤllen. Dieſe Aufgabe ſchließt ſich unmittelbar an die hermeneutiſche Auf- gabe an. Bei den ſynoptiſchen Evangelien iſt die Aufgabe ganz eigener Art, weil ſie hier die hermeneutiſche Operation ſelbſt afficirt. Unter den verſchiedenen Hypotheſen uͤber das ſynoptiſche Verhaͤlt-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/401
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/401>, abgerufen am 05.12.2024.