Bedenkt man, daß in der neueren Zeit die modificirte re- cepta des Griesbachschen Textes und der Bengelsche Text sich die meiste Auctorität verschafft haben, so daß sie in den meisten Ausgaben repetirt sind, so erscheint es als ganz nothwendig, daß jeder sich ein Urtheil darüber verschaffe. Geht man nun auf das Verfahren der Kritiker prüfend ein, so wird man sich auch dadurch so viel Bekanntschaft mit den bedeutendsten Handschriften u. s. w. verschaffen und so viel kritisches Urtheil sich erwerben, daß man überall wo es nöthig ist selbstständig entscheiden kann. In dem Grade aber wird man finden, daß jeder von ihnen ge- fehlt hat und keinem vollkommen zu vertrauen ist. So muß also jeder um so mehr die kritischen Operationen selbst machen.
Was bei einem solchen Verfahren nebenbei sich von selbst versteht, ist daß man die deutsche Übersezung ganz vergißt. So lange man diese noch im Sinne hat, giebt es keine Selbstständig- keit im Gebrauch des N. T. Das determinirende Bewußtsein der- selben ist immer das zu corrigirende, es rückt die wahren Analo- gien aus den Augen und verleitet zu falschen.
Die allgemeine Aufgabe nun, sich ein eigenes kritisches Ur- theil zu verschaffen, beschränkt sich auf das Nothwendige zum Behuf der hermeneutischen Aufgabe. Aber die Arbeiten dazu sind schon Vorübungen zur kritischen Virtuosität, und es giebt dabei Ver- anlassungen genug, über jenes nothwendige Minimum hinaus- zugehen. Nur daß größere Neigung und Anlage den Einen wei- ter führt als den Andern, -- worin sich dann eben schon die Virtuosität kund thut.
Zu der Bildung des kritischen Urtheils können alle kritischen Arbeiten Vorübungen sein, nicht bloß die Übung im N. T. Auch an andern Schriftstellern, und selbst im gewöhnlichen Leben können dergleichen Übungen gemacht werden.
Es liegt im Charakter des Philologischen, daß die kritische Richtung überall hin begleitend ist, und so liegt sie auch im Charakter des Theologischen.
Worin liegt der Unterschied zwischen dem Leser, der sich zum
Hermeneutik u. Kritik. 23
Bedenkt man, daß in der neueren Zeit die modificirte re- cepta des Griesbachſchen Textes und der Bengelſche Text ſich die meiſte Auctoritaͤt verſchafft haben, ſo daß ſie in den meiſten Ausgaben repetirt ſind, ſo erſcheint es als ganz nothwendig, daß jeder ſich ein Urtheil daruͤber verſchaffe. Geht man nun auf das Verfahren der Kritiker pruͤfend ein, ſo wird man ſich auch dadurch ſo viel Bekanntſchaft mit den bedeutendſten Handſchriften u. ſ. w. verſchaffen und ſo viel kritiſches Urtheil ſich erwerben, daß man uͤberall wo es noͤthig iſt ſelbſtſtaͤndig entſcheiden kann. In dem Grade aber wird man finden, daß jeder von ihnen ge- fehlt hat und keinem vollkommen zu vertrauen iſt. So muß alſo jeder um ſo mehr die kritiſchen Operationen ſelbſt machen.
Was bei einem ſolchen Verfahren nebenbei ſich von ſelbſt verſteht, iſt daß man die deutſche Überſezung ganz vergißt. So lange man dieſe noch im Sinne hat, giebt es keine Selbſtſtaͤndig- keit im Gebrauch des N. T. Das determinirende Bewußtſein der- ſelben iſt immer das zu corrigirende, es ruͤckt die wahren Analo- gien aus den Augen und verleitet zu falſchen.
Die allgemeine Aufgabe nun, ſich ein eigenes kritiſches Ur- theil zu verſchaffen, beſchraͤnkt ſich auf das Nothwendige zum Behuf der hermeneutiſchen Aufgabe. Aber die Arbeiten dazu ſind ſchon Voruͤbungen zur kritiſchen Virtuoſitaͤt, und es giebt dabei Ver- anlaſſungen genug, uͤber jenes nothwendige Minimum hinaus- zugehen. Nur daß groͤßere Neigung und Anlage den Einen wei- ter fuͤhrt als den Andern, — worin ſich dann eben ſchon die Virtuoſitaͤt kund thut.
Zu der Bildung des kritiſchen Urtheils koͤnnen alle kritiſchen Arbeiten Voruͤbungen ſein, nicht bloß die Übung im N. T. Auch an andern Schriftſtellern, und ſelbſt im gewoͤhnlichen Leben koͤnnen dergleichen Übungen gemacht werden.
Es liegt im Charakter des Philologiſchen, daß die kritiſche Richtung uͤberall hin begleitend iſt, und ſo liegt ſie auch im Charakter des Theologiſchen.
Worin liegt der Unterſchied zwiſchen dem Leſer, der ſich zum
Hermeneutik u. Kritik. 23
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Bedenkt man, daß in der neueren Zeit die modificirte re-
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die meiſte Auctoritaͤt verſchafft haben, ſo daß ſie in den meiſten
Ausgaben repetirt ſind, ſo erſcheint es als ganz nothwendig, daß
jeder ſich ein Urtheil daruͤber verſchaffe. Geht man nun auf
das Verfahren der Kritiker pruͤfend ein, ſo wird man ſich auch
dadurch ſo viel Bekanntſchaft mit den bedeutendſten Handſchriften
u. ſ. w. verſchaffen und ſo viel kritiſches Urtheil ſich erwerben,
daß man uͤberall wo es noͤthig iſt ſelbſtſtaͤndig entſcheiden kann.
In dem Grade aber wird man finden, daß jeder von ihnen ge-
fehlt hat und keinem vollkommen zu vertrauen iſt. So muß alſo
jeder um ſo mehr die kritiſchen Operationen ſelbſt machen.
Was bei einem ſolchen Verfahren nebenbei ſich von ſelbſt
verſteht, iſt daß man die deutſche Überſezung ganz vergißt. So
lange man dieſe noch im Sinne hat, giebt es keine Selbſtſtaͤndig-
keit im Gebrauch des N. T. Das determinirende Bewußtſein der-
ſelben iſt immer das zu corrigirende, es ruͤckt die wahren Analo-
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Die allgemeine Aufgabe nun, ſich ein eigenes kritiſches Ur-
theil zu verſchaffen, beſchraͤnkt ſich auf das Nothwendige zum
Behuf der hermeneutiſchen Aufgabe. Aber die Arbeiten dazu ſind
ſchon Voruͤbungen zur kritiſchen Virtuoſitaͤt, und es giebt dabei Ver-
anlaſſungen genug, uͤber jenes nothwendige Minimum hinaus-
zugehen. Nur daß groͤßere Neigung und Anlage den Einen wei-
ter fuͤhrt als den Andern, — worin ſich dann eben ſchon die
Virtuoſitaͤt kund thut.
Zu der Bildung des kritiſchen Urtheils koͤnnen alle kritiſchen
Arbeiten Voruͤbungen ſein, nicht bloß die Übung im N. T. Auch
an andern Schriftſtellern, und ſelbſt im gewoͤhnlichen Leben koͤnnen
dergleichen Übungen gemacht werden.
Es liegt im Charakter des Philologiſchen, daß die kritiſche
Richtung uͤberall hin begleitend iſt, und ſo liegt ſie auch im
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/377>, abgerufen am 18.07.2024.
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