Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

die Anwendung jener allgemeinen Grundsätze verhalten könne,
endlich aber diese Methodenlehre so durchführt, daß nir-
gends eine theologische Hemmung mehr entsteht und das
theologische und philologische Moment wahrhaft organisch zu-
sammenwachsen. Er hat dadurch zunächst den Theologen
einen großen Dienst geleistet, und diese werden sich auch
vorzugsweise sein Werk zueignen. Allein die classischen wie
die orientalischen Philologen haben gleichen Anspruch, und
auch wohl gleiche Pflicht, von ihm zu lernen, wie man es
anzufangen habe, um die allgemeinen Grundsätze und Regeln
der Auslegung und Kritik auf ein bestimmtes litterarisches
Gebiet mit wissenschaftlicher Methode in Anwendung zu brin-
gen. Vielleicht hat es selbst für die Philologen im engeren Sinn
einen Vortheil, daß Schleiermacher gerade an dem neu-
testamentlichen Gebiete die Methode anschaulich gemacht hat,
weil nicht leicht ein anderes ein so abgeschlossenes Ganzes
bildet, und doch mit allen andern in mehr und weniger ge-
genseitiger Berührung steht, so voll eigenthümlicher Erschei-
nungen und Probleme ist, und dabei mitten in der Anoma-
lie so viel Regelmäßigkeit hat. So eignet es sich gerade
am meisten dazu, alle irgend wesentlichen hermeneutischen und
kritischen Operationen in ihren Schwierigkeiten und mannig-
faltigen Verwicklungen zur Sprache zu bringen. Wer den
Zusammenhang und die Gründe der exegetischen Operationen
auf diesem Gebiete theoretisch versteht, wird keine große
Mühe haben, auf dem regelmäßigeren classischen Gebiete sich
methodisch zurecht zu finden.

Betrachten wir nun die systematische Construction selbst,
so scheint mir das Hauptverdienst Schleiermachers zuerst dieß
zu sein, daß er mit Ausscheidung alles Fremdartigen beide

die Anwendung jener allgemeinen Grundſaͤtze verhalten koͤnne,
endlich aber dieſe Methodenlehre ſo durchfuͤhrt, daß nir-
gends eine theologiſche Hemmung mehr entſteht und das
theologiſche und philologiſche Moment wahrhaft organiſch zu-
ſammenwachſen. Er hat dadurch zunaͤchſt den Theologen
einen großen Dienſt geleiſtet, und dieſe werden ſich auch
vorzugsweiſe ſein Werk zueignen. Allein die claſſiſchen wie
die orientaliſchen Philologen haben gleichen Anſpruch, und
auch wohl gleiche Pflicht, von ihm zu lernen, wie man es
anzufangen habe, um die allgemeinen Grundſaͤtze und Regeln
der Auslegung und Kritik auf ein beſtimmtes litterariſches
Gebiet mit wiſſenſchaftlicher Methode in Anwendung zu brin-
gen. Vielleicht hat es ſelbſt fuͤr die Philologen im engeren Sinn
einen Vortheil, daß Schleiermacher gerade an dem neu-
teſtamentlichen Gebiete die Methode anſchaulich gemacht hat,
weil nicht leicht ein anderes ein ſo abgeſchloſſenes Ganzes
bildet, und doch mit allen andern in mehr und weniger ge-
genſeitiger Beruͤhrung ſteht, ſo voll eigenthuͤmlicher Erſchei-
nungen und Probleme iſt, und dabei mitten in der Anoma-
lie ſo viel Regelmaͤßigkeit hat. So eignet es ſich gerade
am meiſten dazu, alle irgend weſentlichen hermeneutiſchen und
kritiſchen Operationen in ihren Schwierigkeiten und mannig-
faltigen Verwicklungen zur Sprache zu bringen. Wer den
Zuſammenhang und die Gruͤnde der exegetiſchen Operationen
auf dieſem Gebiete theoretiſch verſteht, wird keine große
Muͤhe haben, auf dem regelmaͤßigeren claſſiſchen Gebiete ſich
methodiſch zurecht zu finden.

Betrachten wir nun die ſyſtematiſche Conſtruction ſelbſt,
ſo ſcheint mir das Hauptverdienſt Schleiermachers zuerſt dieß
zu ſein, daß er mit Ausſcheidung alles Fremdartigen beide

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0022" n="XVI"/>
die Anwendung jener allgemeinen Grund&#x017F;a&#x0364;tze verhalten ko&#x0364;nne,<lb/>
endlich aber die&#x017F;e Methodenlehre &#x017F;o durchfu&#x0364;hrt, daß nir-<lb/>
gends eine theologi&#x017F;che Hemmung mehr ent&#x017F;teht und das<lb/>
theologi&#x017F;che und philologi&#x017F;che Moment wahrhaft organi&#x017F;ch zu-<lb/>
&#x017F;ammenwach&#x017F;en. Er hat dadurch zuna&#x0364;ch&#x017F;t den Theologen<lb/>
einen großen Dien&#x017F;t gelei&#x017F;tet, und die&#x017F;e werden &#x017F;ich auch<lb/>
vorzugswei&#x017F;e &#x017F;ein Werk zueignen. Allein die cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen wie<lb/>
die orientali&#x017F;chen Philologen haben gleichen An&#x017F;pruch, und<lb/>
auch wohl gleiche Pflicht, von ihm zu lernen, wie man es<lb/>
anzufangen habe, um die allgemeinen Grund&#x017F;a&#x0364;tze und Regeln<lb/>
der Auslegung und Kritik auf ein be&#x017F;timmtes litterari&#x017F;ches<lb/>
Gebiet mit wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Methode in Anwendung zu brin-<lb/>
gen. Vielleicht hat es &#x017F;elb&#x017F;t fu&#x0364;r die Philologen im engeren Sinn<lb/>
einen Vortheil, daß Schleiermacher gerade an dem neu-<lb/>
te&#x017F;tamentlichen Gebiete die Methode an&#x017F;chaulich gemacht hat,<lb/>
weil nicht leicht ein anderes ein &#x017F;o abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Ganzes<lb/>
bildet, und doch mit allen andern in mehr und weniger ge-<lb/>
gen&#x017F;eitiger Beru&#x0364;hrung &#x017F;teht, &#x017F;o voll eigenthu&#x0364;mlicher Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen und Probleme i&#x017F;t, und dabei mitten in der Anoma-<lb/>
lie &#x017F;o viel Regelma&#x0364;ßigkeit hat. So eignet es &#x017F;ich gerade<lb/>
am mei&#x017F;ten dazu, alle irgend we&#x017F;entlichen hermeneuti&#x017F;chen und<lb/>
kriti&#x017F;chen Operationen in ihren Schwierigkeiten und mannig-<lb/>
faltigen Verwicklungen zur Sprache zu bringen. Wer den<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang und die Gru&#x0364;nde der exegeti&#x017F;chen Operationen<lb/>
auf die&#x017F;em Gebiete theoreti&#x017F;ch ver&#x017F;teht, wird keine große<lb/>
Mu&#x0364;he haben, auf dem regelma&#x0364;ßigeren cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Gebiete &#x017F;ich<lb/>
methodi&#x017F;ch zurecht zu finden.</p><lb/>
        <p>Betrachten wir nun die &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Con&#x017F;truction &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;cheint mir das Hauptverdien&#x017F;t Schleiermachers zuer&#x017F;t dieß<lb/>
zu &#x017F;ein, daß er mit Aus&#x017F;cheidung alles Fremdartigen beide<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XVI/0022] die Anwendung jener allgemeinen Grundſaͤtze verhalten koͤnne, endlich aber dieſe Methodenlehre ſo durchfuͤhrt, daß nir- gends eine theologiſche Hemmung mehr entſteht und das theologiſche und philologiſche Moment wahrhaft organiſch zu- ſammenwachſen. Er hat dadurch zunaͤchſt den Theologen einen großen Dienſt geleiſtet, und dieſe werden ſich auch vorzugsweiſe ſein Werk zueignen. Allein die claſſiſchen wie die orientaliſchen Philologen haben gleichen Anſpruch, und auch wohl gleiche Pflicht, von ihm zu lernen, wie man es anzufangen habe, um die allgemeinen Grundſaͤtze und Regeln der Auslegung und Kritik auf ein beſtimmtes litterariſches Gebiet mit wiſſenſchaftlicher Methode in Anwendung zu brin- gen. Vielleicht hat es ſelbſt fuͤr die Philologen im engeren Sinn einen Vortheil, daß Schleiermacher gerade an dem neu- teſtamentlichen Gebiete die Methode anſchaulich gemacht hat, weil nicht leicht ein anderes ein ſo abgeſchloſſenes Ganzes bildet, und doch mit allen andern in mehr und weniger ge- genſeitiger Beruͤhrung ſteht, ſo voll eigenthuͤmlicher Erſchei- nungen und Probleme iſt, und dabei mitten in der Anoma- lie ſo viel Regelmaͤßigkeit hat. So eignet es ſich gerade am meiſten dazu, alle irgend weſentlichen hermeneutiſchen und kritiſchen Operationen in ihren Schwierigkeiten und mannig- faltigen Verwicklungen zur Sprache zu bringen. Wer den Zuſammenhang und die Gruͤnde der exegetiſchen Operationen auf dieſem Gebiete theoretiſch verſteht, wird keine große Muͤhe haben, auf dem regelmaͤßigeren claſſiſchen Gebiete ſich methodiſch zurecht zu finden. Betrachten wir nun die ſyſtematiſche Conſtruction ſelbſt, ſo ſcheint mir das Hauptverdienſt Schleiermachers zuerſt dieß zu ſein, daß er mit Ausſcheidung alles Fremdartigen beide

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/22
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/22>, abgerufen am 04.12.2024.