aber ist dieß bloß Theilnahme, ohne daß die eigene Persönlichkeit afficirt wird, und kommen nur Gedanken hervor, die durch das Mitgefühl bestimmt sind, so ist doch das Ganze aus dem Zustande des Schreibenden hervorgegangen. Es kann in diesem Falle scheinen, als spräche er aus dem Zustande des Empfängers, aber es wäre falsch, wenn man bei der Auslegung diesem Scheine folgen wollte. Es ist, wenn mir nichts weiteres gegeben ist, gleich möglich, das Rechte wie das Falsche zu finden, es sind oft nur leise Andeutungen, worauf die Entscheidung beruht. Ein Anderes ist, wenn man eine genaue Kenntniß des Lebenskreises des Schrei- benden und Empfangenden hat. Da kann nie Zweifel entstehen, ob Jemand von anderswoher aufgeregt ist, oder nur aus sei- nem eigenen Zustande heraus geschrieben hat. Doch entscheidet oft nur der stärkere oder schwächere Ton.
Im N. T. liegt die größte Schwierigkeit der Auslegung nach dieser Seite eben darin, daß die Notizen über Verfasser und Empfänger fehlen, und erst aus den Briefen selbst geschöpft wer- den müssen. Solche Aufgaben nennen die Mathematiker unbe- stimmte, wenn nemlich, um eine unbekannte Größe zu finden, nicht bekannte genug vorhanden sind und die Lösung durch Sup- position geschehen muß. Im N. T. giebt es Briefe, wo die Indicationen ziemlich deutlich sind. So die Briefe an die Korin- thier. So wie man bei der ersten Übersicht dieser Briefe die In- dicationen findet, lassen sich die Hauptpunkte für die Interpre- tation fixiren und eben so die Art und Weise, die Einheit festzu- stellen. Der erste Brief an die Korinthier z. B. ist didaktisch, hat aber keine objective Einheit. Diese liegt nur in der Gesammtheit der Notizen, die wir aus ihm bekommen. Der Apostel konnte nicht umhin, die Thatsachen selbst darzustellen, durch welche er in Bewegung gesezt worden. Daraus folgt freilich nicht, daß der Brief ein einfacher Gegenstand der Auslegung ist. Paulus konnte auch von andern Seiten her erregt sein und so durch Digressio- nen manches hineingekommen sein, was durch die Korinthier nicht angeregt wurde. Dieß wird indeß einen andern Ton und Cha-
aber iſt dieß bloß Theilnahme, ohne daß die eigene Perſoͤnlichkeit afficirt wird, und kommen nur Gedanken hervor, die durch das Mitgefuͤhl beſtimmt ſind, ſo iſt doch das Ganze aus dem Zuſtande des Schreibenden hervorgegangen. Es kann in dieſem Falle ſcheinen, als ſpraͤche er aus dem Zuſtande des Empfaͤngers, aber es waͤre falſch, wenn man bei der Auslegung dieſem Scheine folgen wollte. Es iſt, wenn mir nichts weiteres gegeben iſt, gleich moͤglich, das Rechte wie das Falſche zu finden, es ſind oft nur leiſe Andeutungen, worauf die Entſcheidung beruht. Ein Anderes iſt, wenn man eine genaue Kenntniß des Lebenskreiſes des Schrei- benden und Empfangenden hat. Da kann nie Zweifel entſtehen, ob Jemand von anderswoher aufgeregt iſt, oder nur aus ſei- nem eigenen Zuſtande heraus geſchrieben hat. Doch entſcheidet oft nur der ſtaͤrkere oder ſchwaͤchere Ton.
Im N. T. liegt die groͤßte Schwierigkeit der Auslegung nach dieſer Seite eben darin, daß die Notizen uͤber Verfaſſer und Empfaͤnger fehlen, und erſt aus den Briefen ſelbſt geſchoͤpft wer- den muͤſſen. Solche Aufgaben nennen die Mathematiker unbe- ſtimmte, wenn nemlich, um eine unbekannte Groͤße zu finden, nicht bekannte genug vorhanden ſind und die Loͤſung durch Sup- poſition geſchehen muß. Im N. T. giebt es Briefe, wo die Indicationen ziemlich deutlich ſind. So die Briefe an die Korin- thier. So wie man bei der erſten Überſicht dieſer Briefe die In- dicationen findet, laſſen ſich die Hauptpunkte fuͤr die Interpre- tation fixiren und eben ſo die Art und Weiſe, die Einheit feſtzu- ſtellen. Der erſte Brief an die Korinthier z. B. iſt didaktiſch, hat aber keine objective Einheit. Dieſe liegt nur in der Geſammtheit der Notizen, die wir aus ihm bekommen. Der Apoſtel konnte nicht umhin, die Thatſachen ſelbſt darzuſtellen, durch welche er in Bewegung geſezt worden. Daraus folgt freilich nicht, daß der Brief ein einfacher Gegenſtand der Auslegung iſt. Paulus konnte auch von andern Seiten her erregt ſein und ſo durch Digreſſio- nen manches hineingekommen ſein, was durch die Korinthier nicht angeregt wurde. Dieß wird indeß einen andern Ton und Cha-
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aber iſt dieß bloß Theilnahme, ohne daß die eigene Perſoͤnlichkeit
afficirt wird, und kommen nur Gedanken hervor, die durch das
Mitgefuͤhl beſtimmt ſind, ſo iſt doch das Ganze aus dem Zuſtande
des Schreibenden hervorgegangen. Es kann in dieſem Falle
ſcheinen, als ſpraͤche er aus dem Zuſtande des Empfaͤngers, aber
es waͤre falſch, wenn man bei der Auslegung dieſem Scheine
folgen wollte. Es iſt, wenn mir nichts weiteres gegeben iſt, gleich
moͤglich, das Rechte wie das Falſche zu finden, es ſind oft nur
leiſe Andeutungen, worauf die Entſcheidung beruht. Ein Anderes
iſt, wenn man eine genaue Kenntniß des Lebenskreiſes des Schrei-
benden und Empfangenden hat. Da kann nie Zweifel entſtehen,
ob Jemand von anderswoher aufgeregt iſt, oder nur aus ſei-
nem eigenen Zuſtande heraus geſchrieben hat. Doch entſcheidet oft
nur der ſtaͤrkere oder ſchwaͤchere Ton.
Im N. T. liegt die groͤßte Schwierigkeit der Auslegung nach
dieſer Seite eben darin, daß die Notizen uͤber Verfaſſer und
Empfaͤnger fehlen, und erſt aus den Briefen ſelbſt geſchoͤpft wer-
den muͤſſen. Solche Aufgaben nennen die Mathematiker unbe-
ſtimmte, wenn nemlich, um eine unbekannte Groͤße zu finden,
nicht bekannte genug vorhanden ſind und die Loͤſung durch Sup-
poſition geſchehen muß. Im N. T. giebt es Briefe, wo die
Indicationen ziemlich deutlich ſind. So die Briefe an die Korin-
thier. So wie man bei der erſten Überſicht dieſer Briefe die In-
dicationen findet, laſſen ſich die Hauptpunkte fuͤr die Interpre-
tation fixiren und eben ſo die Art und Weiſe, die Einheit feſtzu-
ſtellen. Der erſte Brief an die Korinthier z. B. iſt didaktiſch, hat
aber keine objective Einheit. Dieſe liegt nur in der Geſammtheit
der Notizen, die wir aus ihm bekommen. Der Apoſtel konnte
nicht umhin, die Thatſachen ſelbſt darzuſtellen, durch welche er in
Bewegung geſezt worden. Daraus folgt freilich nicht, daß der
Brief ein einfacher Gegenſtand der Auslegung iſt. Paulus konnte
auch von andern Seiten her erregt ſein und ſo durch Digreſſio-
nen manches hineingekommen ſein, was durch die Korinthier nicht
angeregt wurde. Dieß wird indeß einen andern Ton und Cha-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/209>, abgerufen am 05.12.2024.
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