lassen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen dürfen, daß ihn an der Aufnahme des Früheren entweder Mangel an Notiz oder an Raum hinderte.
Betrachten wir die streitige Frage von einer andern Seite, nemlich, wie eine historische Produktion, die wir Biographie nen- nen, sich gestalten müsse.
Es ist nicht möglich, eine Continuität von Zeiterfüllun- gen darzustellen. Wäre es möglich, so könnte es nur unter der Form der strengen Chronik geschehen, denn da theilt sich die Zeit in fortlaufende Abschnitte. Abstrahirt man davon und sezt in den biographischen Inhalt eine Differenz zwischen dem, was eben wegen seines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was nicht, so werden Lücken entstehen. Eine solche Produktion würde dann als Aggregat von Einzelheiten anzusehen sein. Der Idee der Lebensbeschreibung liegt die Continuität zum Grunde, weil das Leben Eins ist. Wiewol nun die Continuität nicht unmit- telbar darstellbar ist, sondern nur in der Form des Einzelnen, das sich sondert, so darf doch die Beziehung des Einzelnen auf die Continuität nicht fehlen. Diese Beziehung liegt nicht in der Identität des Subjects, sondern im Zeitverlauf. Es müssen also die Einzelheiten der Zeit nach so gestellt werden, daß der Leser die Continuität erkennen kann. Bloße Zusammenstellungen von Einzelheiten ohne jene Continuität sind nur Materialien, Elemente zur Biographie. Daraus läßt sich auch unmittelbar keine Bio- graphie bilden; es bleibt, selbst wenn man das Einzelne der Zeit nach stellt und mit Verbindungsformeln versieht, ein bloßes Aggregat, dem der innere Zusammenhang im Zeitverlauf fehlt.
Was nun unsere Evangelien betrifft, so zerfällt jedes in zwei in dieser Beziehung ganz verschiedene Theile; der eine Theil, die Beschreibung der öffentlichen Wirksamkeit, besteht aus lauter mehr und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzählungen, wogegen der zweite Theil, die Leidensgeschichte, überwiegend als ein Conti- nuum erscheint. Hier war die Continuität kaum zu vermeiden. Vergleichen wir nun unsere Evangelien in Beziehung auf den
laſſen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen duͤrfen, daß ihn an der Aufnahme des Fruͤheren entweder Mangel an Notiz oder an Raum hinderte.
Betrachten wir die ſtreitige Frage von einer andern Seite, nemlich, wie eine hiſtoriſche Produktion, die wir Biographie nen- nen, ſich geſtalten muͤſſe.
Es iſt nicht moͤglich, eine Continuitaͤt von Zeiterfuͤllun- gen darzuſtellen. Waͤre es moͤglich, ſo koͤnnte es nur unter der Form der ſtrengen Chronik geſchehen, denn da theilt ſich die Zeit in fortlaufende Abſchnitte. Abſtrahirt man davon und ſezt in den biographiſchen Inhalt eine Differenz zwiſchen dem, was eben wegen ſeines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was nicht, ſo werden Luͤcken entſtehen. Eine ſolche Produktion wuͤrde dann als Aggregat von Einzelheiten anzuſehen ſein. Der Idee der Lebensbeſchreibung liegt die Continuitaͤt zum Grunde, weil das Leben Eins iſt. Wiewol nun die Continuitaͤt nicht unmit- telbar darſtellbar iſt, ſondern nur in der Form des Einzelnen, das ſich ſondert, ſo darf doch die Beziehung des Einzelnen auf die Continuitaͤt nicht fehlen. Dieſe Beziehung liegt nicht in der Identitaͤt des Subjects, ſondern im Zeitverlauf. Es muͤſſen alſo die Einzelheiten der Zeit nach ſo geſtellt werden, daß der Leſer die Continuitaͤt erkennen kann. Bloße Zuſammenſtellungen von Einzelheiten ohne jene Continuitaͤt ſind nur Materialien, Elemente zur Biographie. Daraus laͤßt ſich auch unmittelbar keine Bio- graphie bilden; es bleibt, ſelbſt wenn man das Einzelne der Zeit nach ſtellt und mit Verbindungsformeln verſieht, ein bloßes Aggregat, dem der innere Zuſammenhang im Zeitverlauf fehlt.
Was nun unſere Evangelien betrifft, ſo zerfaͤllt jedes in zwei in dieſer Beziehung ganz verſchiedene Theile; der eine Theil, die Beſchreibung der oͤffentlichen Wirkſamkeit, beſteht aus lauter mehr und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzaͤhlungen, wogegen der zweite Theil, die Leidensgeſchichte, uͤberwiegend als ein Conti- nuum erſcheint. Hier war die Continuitaͤt kaum zu vermeiden. Vergleichen wir nun unſere Evangelien in Beziehung auf den
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laſſen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen duͤrfen, daß
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Betrachten wir die ſtreitige Frage von einer andern Seite,
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nen, ſich geſtalten muͤſſe.
Es iſt nicht moͤglich, eine Continuitaͤt von Zeiterfuͤllun-
gen darzuſtellen. Waͤre es moͤglich, ſo koͤnnte es nur unter der
Form der ſtrengen Chronik geſchehen, denn da theilt ſich die
Zeit in fortlaufende Abſchnitte. Abſtrahirt man davon und ſezt
in den biographiſchen Inhalt eine Differenz zwiſchen dem, was eben
wegen ſeines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was
nicht, ſo werden Luͤcken entſtehen. Eine ſolche Produktion wuͤrde
dann als Aggregat von Einzelheiten anzuſehen ſein. Der Idee
der Lebensbeſchreibung liegt die Continuitaͤt zum Grunde, weil
das Leben Eins iſt. Wiewol nun die Continuitaͤt nicht unmit-
telbar darſtellbar iſt, ſondern nur in der Form des Einzelnen,
das ſich ſondert, ſo darf doch die Beziehung des Einzelnen auf
die Continuitaͤt nicht fehlen. Dieſe Beziehung liegt nicht in der
Identitaͤt des Subjects, ſondern im Zeitverlauf. Es muͤſſen alſo
die Einzelheiten der Zeit nach ſo geſtellt werden, daß der Leſer
die Continuitaͤt erkennen kann. Bloße Zuſammenſtellungen von
Einzelheiten ohne jene Continuitaͤt ſind nur Materialien, Elemente
zur Biographie. Daraus laͤßt ſich auch unmittelbar keine Bio-
graphie bilden; es bleibt, ſelbſt wenn man das Einzelne der Zeit nach
ſtellt und mit Verbindungsformeln verſieht, ein bloßes Aggregat,
dem der innere Zuſammenhang im Zeitverlauf fehlt.
Was nun unſere Evangelien betrifft, ſo zerfaͤllt jedes in zwei
in dieſer Beziehung ganz verſchiedene Theile; der eine Theil, die
Beſchreibung der oͤffentlichen Wirkſamkeit, beſteht aus lauter mehr
und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzaͤhlungen, wogegen
der zweite Theil, die Leidensgeſchichte, uͤberwiegend als ein Conti-
nuum erſcheint. Hier war die Continuitaͤt kaum zu vermeiden.
Vergleichen wir nun unſere Evangelien in Beziehung auf den
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/197>, abgerufen am 05.12.2024.
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