macht habe, jenes aber sei verloren gegangen, und nur diese noch vorhanden. Weiß ich das nicht, so wird man über den Verfasser schwerlich ein richtiges Urtheil gewinnen. Man wird sagen, das Werk sei unvollkommen, einseitig gearbeitet. Das ist aber ein falsches Urtheil und das Verstehen der Schrift als Thatsache wird dadurch wesentlich alterirt. Oder ein Anderer wird urthei- len, es sei durchaus keine Harmonie in jener Produktion und man könne daraus schließen, der Verf. habe kein gleiches Interesse an der Bearbeitung der ganzen Gattung gezeigt, nur einzelne Theile bearbeitet. Dieß Urtheil wäre aber eben so falsch. Das eine wie das andere ist der hermeneutischen Behandlung nachtheilig, beide beruhen aber auf der Unkenntniß von der Gesammtthätigkeit des Verfassers. Nehmen wir den Gegensaz zwischen Werken und ge- legentlichen Produktionen, so ist klar, daß in jenen der Verfasser sich weit klarer aussprechen muß als in diesen. Diese beruhen nemlich auf einfachen Impulsen und sind für sich bestehende Ele- mente. Es ist in ihnen eine gewisse Selbstverläugnung und die Thätigkeit des Verf. bestimmt sich mehr durch sein Verhältniß zu dem, von dem der Impuls ausgegangen. Er muß sich auch rich- ten nach dem Geschmack des Kreises, in welchem seine Produktion entstanden ist. Die Materie wird ihre Erklärung finden aus einem bestimmten Kreise des Gesammtlebens, auf den es sich bezieht, nicht aus dem Verfasser selbst. Was eine Gelegenheitsschrift ist, hätte auch können ein Werk werden, aber dann wäre es ein ganz anderes geworden. Es giebt ein Beispiel von hohem Kunstwerthe, an dem jener Unterschied schwer zu erkennen ist, das sind die Pindarischen Oden. Auf der einen Seite erscheinen sie als Ge- legenheitsstücke, auf der andern sind sie vollendete Kunstwerke, und so erscheint was das entgegengesezteste schien hier in gegensei- tiger Durchdringung. Das Räthsel löst sich, wenn man sagt, der Dichter habe jene Gelegenheitsstücke zu seinem Beruf gemacht, d. h. der Dichter will eben in diesem bestimmten Lebenskreise, worauf das Gedicht sich bezieht, sich manifestiren, und so nöthigt er das Gelegenheitswerk als solches auch Kunstwerk zu werden.
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macht habe, jenes aber ſei verloren gegangen, und nur dieſe noch vorhanden. Weiß ich das nicht, ſo wird man uͤber den Verfaſſer ſchwerlich ein richtiges Urtheil gewinnen. Man wird ſagen, das Werk ſei unvollkommen, einſeitig gearbeitet. Das iſt aber ein falſches Urtheil und das Verſtehen der Schrift als Thatſache wird dadurch weſentlich alterirt. Oder ein Anderer wird urthei- len, es ſei durchaus keine Harmonie in jener Produktion und man koͤnne daraus ſchließen, der Verf. habe kein gleiches Intereſſe an der Bearbeitung der ganzen Gattung gezeigt, nur einzelne Theile bearbeitet. Dieß Urtheil waͤre aber eben ſo falſch. Das eine wie das andere iſt der hermeneutiſchen Behandlung nachtheilig, beide beruhen aber auf der Unkenntniß von der Geſammtthaͤtigkeit des Verfaſſers. Nehmen wir den Gegenſaz zwiſchen Werken und ge- legentlichen Produktionen, ſo iſt klar, daß in jenen der Verfaſſer ſich weit klarer ausſprechen muß als in dieſen. Dieſe beruhen nemlich auf einfachen Impulſen und ſind fuͤr ſich beſtehende Ele- mente. Es iſt in ihnen eine gewiſſe Selbſtverlaͤugnung und die Thaͤtigkeit des Verf. beſtimmt ſich mehr durch ſein Verhaͤltniß zu dem, von dem der Impuls ausgegangen. Er muß ſich auch rich- ten nach dem Geſchmack des Kreiſes, in welchem ſeine Produktion entſtanden iſt. Die Materie wird ihre Erklaͤrung finden aus einem beſtimmten Kreiſe des Geſammtlebens, auf den es ſich bezieht, nicht aus dem Verfaſſer ſelbſt. Was eine Gelegenheitsſchrift iſt, haͤtte auch koͤnnen ein Werk werden, aber dann waͤre es ein ganz anderes geworden. Es giebt ein Beiſpiel von hohem Kunſtwerthe, an dem jener Unterſchied ſchwer zu erkennen iſt, das ſind die Pindariſchen Oden. Auf der einen Seite erſcheinen ſie als Ge- legenheitsſtuͤcke, auf der andern ſind ſie vollendete Kunſtwerke, und ſo erſcheint was das entgegengeſezteſte ſchien hier in gegenſei- tiger Durchdringung. Das Raͤthſel loͤſt ſich, wenn man ſagt, der Dichter habe jene Gelegenheitsſtuͤcke zu ſeinem Beruf gemacht, d. h. der Dichter will eben in dieſem beſtimmten Lebenskreiſe, worauf das Gedicht ſich bezieht, ſich manifeſtiren, und ſo noͤthigt er das Gelegenheitswerk als ſolches auch Kunſtwerk zu werden.
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macht habe, jenes aber ſei verloren gegangen, und nur dieſe
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Verfaſſer ſchwerlich ein richtiges Urtheil gewinnen. Man wird
ſagen, das Werk ſei unvollkommen, einſeitig gearbeitet. Das iſt
aber ein falſches Urtheil und das Verſtehen der Schrift als Thatſache
wird dadurch weſentlich alterirt. Oder ein Anderer wird urthei-
len, es ſei durchaus keine Harmonie in jener Produktion und
man koͤnne daraus ſchließen, der Verf. habe kein gleiches Intereſſe
an der Bearbeitung der ganzen Gattung gezeigt, nur einzelne
Theile bearbeitet. Dieß Urtheil waͤre aber eben ſo falſch. Das eine
wie das andere iſt der hermeneutiſchen Behandlung nachtheilig,
beide beruhen aber auf der Unkenntniß von der Geſammtthaͤtigkeit des
Verfaſſers. Nehmen wir den Gegenſaz zwiſchen Werken und ge-
legentlichen Produktionen, ſo iſt klar, daß in jenen der Verfaſſer
ſich weit klarer ausſprechen muß als in dieſen. Dieſe beruhen
nemlich auf einfachen Impulſen und ſind fuͤr ſich beſtehende Ele-
mente. Es iſt in ihnen eine gewiſſe Selbſtverlaͤugnung und die
Thaͤtigkeit des Verf. beſtimmt ſich mehr durch ſein Verhaͤltniß zu
dem, von dem der Impuls ausgegangen. Er muß ſich auch rich-
ten nach dem Geſchmack des Kreiſes, in welchem ſeine Produktion
entſtanden iſt. Die Materie wird ihre Erklaͤrung finden aus einem
beſtimmten Kreiſe des Geſammtlebens, auf den es ſich bezieht,
nicht aus dem Verfaſſer ſelbſt. Was eine Gelegenheitsſchrift iſt,
haͤtte auch koͤnnen ein Werk werden, aber dann waͤre es ein ganz
anderes geworden. Es giebt ein Beiſpiel von hohem Kunſtwerthe,
an dem jener Unterſchied ſchwer zu erkennen iſt, das ſind die
Pindariſchen Oden. Auf der einen Seite erſcheinen ſie als Ge-
legenheitsſtuͤcke, auf der andern ſind ſie vollendete Kunſtwerke,
und ſo erſcheint was das entgegengeſezteſte ſchien hier in gegenſei-
tiger Durchdringung. Das Raͤthſel loͤſt ſich, wenn man ſagt, der
Dichter habe jene Gelegenheitsſtuͤcke zu ſeinem Beruf gemacht,
d. h. der Dichter will eben in dieſem beſtimmten Lebenskreiſe,
worauf das Gedicht ſich bezieht, ſich manifeſtiren, und ſo noͤthigt
er das Gelegenheitswerk als ſolches auch Kunſtwerk zu werden.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/185>, abgerufen am 05.12.2024.
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