Wissenschaft, giebt es ein freies Spiel der Gedanken, welches der künstlerischen Produktion in gewissem Grade vorbereitend vorausgeht.
Sehr mit Unrecht würde man jenes freie Spiel aus dem litterärischen Gebiete verbannen. Die Geschichtforschung z. B. käme zu kurz ohne die kunstlosen Denkwürdigkeitenschreiber. Ja dieß gilt selbst auf dem Gebiete der Wissenschaft im engeren Sinne. In einem philosophischen Kunstwerke kann ich, je strenger wissen- schaftlich es ist, desto weniger die Genesis der Gedanken des Verf. erkennen. Diese ist versteckt. Was an der Spize des Systems steht, hat der Verf. nicht unmittelbar gefunden, sondern ist das Produkt einer großen Menge von Gedankenreihen. Um ein sol- ches Werk in seiner Genesis als Thatsache des Gemüths seines Verf. zu verstehen, muß etwas anderes gegeben sein, ein Werk freierer Mittheilung. Ohne das kann die Aufgabe nur durch eine Menge von Analogien gelöst werden. So ist es schwer, den Aristoteles aus seinen Werken psychologisch kennen zu lernen, weil ein Werk des freien Gedankenspiels von ihm fehlt. Plato ist in dieser Hin- sicht schon leichter zu erkennen, weil seine Werke die Form der freien Darstellung haben. Diese ist freilich nur Maske, aber man sieht leichter hindurch, als bei Aristoteles. Dasselbe gilt sogar von der Mathematik. Die Elementen des Euklid hat man lange als ein Lehrbuch der Geometrie angesehen, bis andere gesagt haben, sein Zweck sei die Einschließung der regelmäßigen Körper in der Kugel zu demonstriren, er gehe dabei von den Elementen aus, schreite aber so fort, daß er jenen Punkt immer im Auge habe. Über diese subjective Seite des Euklid würde nur möglich sein zu entscheiden, wenn wir von ihm ein Werk der andern Art hätten.
Die Verschiedenheit der Gedankenerzeugung ist nicht bloß bedingt durch den Gegenstand und die Individualität des Redenden, son- dern auch durch die Verschiedenheit der Kunstformen. Pindar hat z. B. den Argonautenzug besungen, dieß ist ganz etwas anders, als die epischen Gedichte über denselben Stoff. Ja Pindar selbst rde denselben ganz anders episch dargestellt haben, als er ihn
Wiſſenſchaft, giebt es ein freies Spiel der Gedanken, welches der kuͤnſtleriſchen Produktion in gewiſſem Grade vorbereitend vorausgeht.
Sehr mit Unrecht wuͤrde man jenes freie Spiel aus dem litteraͤriſchen Gebiete verbannen. Die Geſchichtforſchung z. B. kaͤme zu kurz ohne die kunſtloſen Denkwuͤrdigkeitenſchreiber. Ja dieß gilt ſelbſt auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft im engeren Sinne. In einem philoſophiſchen Kunſtwerke kann ich, je ſtrenger wiſſen- ſchaftlich es iſt, deſto weniger die Geneſis der Gedanken des Verf. erkennen. Dieſe iſt verſteckt. Was an der Spize des Syſtems ſteht, hat der Verf. nicht unmittelbar gefunden, ſondern iſt das Produkt einer großen Menge von Gedankenreihen. Um ein ſol- ches Werk in ſeiner Geneſis als Thatſache des Gemuͤths ſeines Verf. zu verſtehen, muß etwas anderes gegeben ſein, ein Werk freierer Mittheilung. Ohne das kann die Aufgabe nur durch eine Menge von Analogien geloͤſt werden. So iſt es ſchwer, den Ariſtoteles aus ſeinen Werken pſychologiſch kennen zu lernen, weil ein Werk des freien Gedankenſpiels von ihm fehlt. Plato iſt in dieſer Hin- ſicht ſchon leichter zu erkennen, weil ſeine Werke die Form der freien Darſtellung haben. Dieſe iſt freilich nur Maske, aber man ſieht leichter hindurch, als bei Ariſtoteles. Daſſelbe gilt ſogar von der Mathematik. Die Elementen des Euklid hat man lange als ein Lehrbuch der Geometrie angeſehen, bis andere geſagt haben, ſein Zweck ſei die Einſchließung der regelmaͤßigen Koͤrper in der Kugel zu demonſtriren, er gehe dabei von den Elementen aus, ſchreite aber ſo fort, daß er jenen Punkt immer im Auge habe. Über dieſe ſubjective Seite des Euklid wuͤrde nur moͤglich ſein zu entſcheiden, wenn wir von ihm ein Werk der andern Art haͤtten.
Die Verſchiedenheit der Gedankenerzeugung iſt nicht bloß bedingt durch den Gegenſtand und die Individualitaͤt des Redenden, ſon- dern auch durch die Verſchiedenheit der Kunſtformen. Pindar hat z. B. den Argonautenzug beſungen, dieß iſt ganz etwas anders, als die epiſchen Gedichte uͤber denſelben Stoff. Ja Pindar ſelbſt rde denſelben ganz anders epiſch dargeſtellt haben, als er ihn
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Wiſſenſchaft, giebt es ein freies Spiel der Gedanken, welches
der kuͤnſtleriſchen Produktion in gewiſſem Grade vorbereitend
vorausgeht.
Sehr mit Unrecht wuͤrde man jenes freie Spiel aus dem
litteraͤriſchen Gebiete verbannen. Die Geſchichtforſchung z. B.
kaͤme zu kurz ohne die kunſtloſen Denkwuͤrdigkeitenſchreiber. Ja
dieß gilt ſelbſt auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft im engeren Sinne.
In einem philoſophiſchen Kunſtwerke kann ich, je ſtrenger wiſſen-
ſchaftlich es iſt, deſto weniger die Geneſis der Gedanken des Verf.
erkennen. Dieſe iſt verſteckt. Was an der Spize des Syſtems
ſteht, hat der Verf. nicht unmittelbar gefunden, ſondern iſt das
Produkt einer großen Menge von Gedankenreihen. Um ein ſol-
ches Werk in ſeiner Geneſis als Thatſache des Gemuͤths ſeines
Verf. zu verſtehen, muß etwas anderes gegeben ſein, ein Werk
freierer Mittheilung. Ohne das kann die Aufgabe nur durch eine
Menge von Analogien geloͤſt werden. So iſt es ſchwer, den Ariſtoteles
aus ſeinen Werken pſychologiſch kennen zu lernen, weil ein Werk
des freien Gedankenſpiels von ihm fehlt. Plato iſt in dieſer Hin-
ſicht ſchon leichter zu erkennen, weil ſeine Werke die Form der
freien Darſtellung haben. Dieſe iſt freilich nur Maske, aber man
ſieht leichter hindurch, als bei Ariſtoteles. Daſſelbe gilt ſogar von
der Mathematik. Die Elementen des Euklid hat man lange als
ein Lehrbuch der Geometrie angeſehen, bis andere geſagt haben,
ſein Zweck ſei die Einſchließung der regelmaͤßigen Koͤrper in der
Kugel zu demonſtriren, er gehe dabei von den Elementen aus,
ſchreite aber ſo fort, daß er jenen Punkt immer im Auge habe.
Über dieſe ſubjective Seite des Euklid wuͤrde nur moͤglich ſein
zu entſcheiden, wenn wir von ihm ein Werk der andern Art haͤtten.
Die Verſchiedenheit der Gedankenerzeugung iſt nicht bloß bedingt
durch den Gegenſtand und die Individualitaͤt des Redenden, ſon-
dern auch durch die Verſchiedenheit der Kunſtformen. Pindar hat
z. B. den Argonautenzug beſungen, dieß iſt ganz etwas anders,
als die epiſchen Gedichte uͤber denſelben Stoff. Ja Pindar ſelbſt
rde denſelben ganz anders epiſch dargeſtellt haben, als er ihn
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/175>, abgerufen am 05.12.2024.
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