Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

so hat die Reihe ein Ende. Im ersten Falle ist das Individuelle,
rein Psychologische vorherrschend, in dem zweiten das Bewußt-
sein eines bestimmten Fortschreitens nach einem Ziel, das Resultat
ein vorbedachtes, methodisches, technisches. Darnach zerfällt die
hermeneutische Aufgabe auf dieser Seite in die rein psycholo-
gische und in die technische.

Jeder Mensch ist bisweilen wenn auch nur innerlich in einem
solchen Vorstellungszustande, den wir, auf den eigentlichen Lebens-
gehalt gesehen, für Null rechnen. Nehmen solche Zustände über-
hand, so wird dadurch der reale Lebensgehalt des Subjects ver-
ringert. Man nennt einen solchen zerstreuet, er ist, sagt man,
in Gedanken, d. h. in solchen die sich eigentlich auf Null redu-
ciren. So lange ein solcher Zustand ein innerlicher ist, ist er
natürlich kein Gegenstand für unsere Theorie. Allein wie steht es
um unser, gewöhnliches Umgangsgespräch? Wenn dasselbe nicht
irgend ein Geschäft ist, so daß ein bestimmter Gegenstand erörtert
wird und somit eine Tendenz entsteht, werden eben nur Vorstel-
lungen ausgetauscht, oft ohne unmittelbare Beziehung, so daß
was der eine sagt keinen nothwendigen Einfluß hat auf die Ge-
dankenentstehung in dem andern, man spricht mehr neben, als
zu einander. Aber selbst ein so freies, loses Gespräch ist schon
Gegenstand der Auslegung und gerade in Beziehung auf un-
sere Aufgabe ein sehr intricates. Je mehr einer aus sich selbst
redet, und der Grund seiner Combinationen rein in ihm selbst
liegt, desto mehr entsteht die Frage, wie derselbe wol dazu ge-
kommen sei. Es kommt vor, daß man zu wissen meint, wie der
andere wol auf das, was man zu ihm sagt, antworten werde.
Es ist etwas bedeutendes, wenn Jemand die Fertigkeit hat, die
Succession der Vorstellungen eines Andern als Thatsache seiner
Individualität zu verstehen. Litterarisch betrachtet hat dieß frei-
lich keinen Werth, weil das rein freie Gedankenspiel nicht leicht
litterarisch wird. Allein analog ist auf dem litterarischen Gebiete
der rein freundschaftliche Brief. Solche Briefe von bedeutenden
Männern machen keinen kleinen Theil unserer Litteratur aus.

ſo hat die Reihe ein Ende. Im erſten Falle iſt das Individuelle,
rein Pſychologiſche vorherrſchend, in dem zweiten das Bewußt-
ſein eines beſtimmten Fortſchreitens nach einem Ziel, das Reſultat
ein vorbedachtes, methodiſches, techniſches. Darnach zerfaͤllt die
hermeneutiſche Aufgabe auf dieſer Seite in die rein pſycholo-
giſche und in die techniſche.

Jeder Menſch iſt bisweilen wenn auch nur innerlich in einem
ſolchen Vorſtellungszuſtande, den wir, auf den eigentlichen Lebens-
gehalt geſehen, fuͤr Null rechnen. Nehmen ſolche Zuſtaͤnde uͤber-
hand, ſo wird dadurch der reale Lebensgehalt des Subjects ver-
ringert. Man nennt einen ſolchen zerſtreuet, er iſt, ſagt man,
in Gedanken, d. h. in ſolchen die ſich eigentlich auf Null redu-
ciren. So lange ein ſolcher Zuſtand ein innerlicher iſt, iſt er
natuͤrlich kein Gegenſtand fuͤr unſere Theorie. Allein wie ſteht es
um unſer, gewoͤhnliches Umgangsgeſpraͤch? Wenn daſſelbe nicht
irgend ein Geſchaͤft iſt, ſo daß ein beſtimmter Gegenſtand eroͤrtert
wird und ſomit eine Tendenz entſteht, werden eben nur Vorſtel-
lungen ausgetauſcht, oft ohne unmittelbare Beziehung, ſo daß
was der eine ſagt keinen nothwendigen Einfluß hat auf die Ge-
dankenentſtehung in dem andern, man ſpricht mehr neben, als
zu einander. Aber ſelbſt ein ſo freies, loſes Geſpraͤch iſt ſchon
Gegenſtand der Auslegung und gerade in Beziehung auf un-
ſere Aufgabe ein ſehr intricates. Je mehr einer aus ſich ſelbſt
redet, und der Grund ſeiner Combinationen rein in ihm ſelbſt
liegt, deſto mehr entſteht die Frage, wie derſelbe wol dazu ge-
kommen ſei. Es kommt vor, daß man zu wiſſen meint, wie der
andere wol auf das, was man zu ihm ſagt, antworten werde.
Es iſt etwas bedeutendes, wenn Jemand die Fertigkeit hat, die
Succeſſion der Vorſtellungen eines Andern als Thatſache ſeiner
Individualitaͤt zu verſtehen. Litterariſch betrachtet hat dieß frei-
lich keinen Werth, weil das rein freie Gedankenſpiel nicht leicht
litterariſch wird. Allein analog iſt auf dem litterariſchen Gebiete
der rein freundſchaftliche Brief. Solche Briefe von bedeutenden
Maͤnnern machen keinen kleinen Theil unſerer Litteratur aus.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0173" n="149"/>
&#x017F;o hat die Reihe ein Ende. Im er&#x017F;ten Falle i&#x017F;t das Individuelle,<lb/>
rein P&#x017F;ychologi&#x017F;che vorherr&#x017F;chend, in dem zweiten das Bewußt-<lb/>
&#x017F;ein eines be&#x017F;timmten Fort&#x017F;chreitens nach einem Ziel, das Re&#x017F;ultat<lb/>
ein vorbedachtes, methodi&#x017F;ches, techni&#x017F;ches. Darnach zerfa&#x0364;llt die<lb/>
hermeneuti&#x017F;che Aufgabe auf die&#x017F;er Seite in die <hi rendition="#g">rein p&#x017F;ycholo</hi>-<lb/><hi rendition="#g">gi&#x017F;che</hi> und in die <hi rendition="#g">techni&#x017F;che</hi>.</p><lb/>
            <p>Jeder Men&#x017F;ch i&#x017F;t bisweilen wenn auch nur innerlich in einem<lb/>
&#x017F;olchen Vor&#x017F;tellungszu&#x017F;tande, den wir, auf den eigentlichen Lebens-<lb/>
gehalt ge&#x017F;ehen, fu&#x0364;r Null rechnen. Nehmen &#x017F;olche Zu&#x017F;ta&#x0364;nde u&#x0364;ber-<lb/>
hand, &#x017F;o wird dadurch der reale Lebensgehalt des Subjects ver-<lb/>
ringert. Man nennt einen &#x017F;olchen zer&#x017F;treuet, er i&#x017F;t, &#x017F;agt man,<lb/>
in Gedanken, d. h. in &#x017F;olchen die &#x017F;ich eigentlich auf Null redu-<lb/>
ciren. So lange ein &#x017F;olcher Zu&#x017F;tand ein innerlicher i&#x017F;t, i&#x017F;t er<lb/>
natu&#x0364;rlich kein Gegen&#x017F;tand fu&#x0364;r un&#x017F;ere Theorie. Allein wie &#x017F;teht es<lb/>
um un&#x017F;er, gewo&#x0364;hnliches Umgangsge&#x017F;pra&#x0364;ch? Wenn da&#x017F;&#x017F;elbe nicht<lb/>
irgend ein Ge&#x017F;cha&#x0364;ft i&#x017F;t, &#x017F;o daß ein be&#x017F;timmter Gegen&#x017F;tand ero&#x0364;rtert<lb/>
wird und &#x017F;omit eine Tendenz ent&#x017F;teht, werden eben nur Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen ausgetau&#x017F;cht, oft ohne unmittelbare Beziehung, &#x017F;o daß<lb/>
was der eine &#x017F;agt keinen nothwendigen Einfluß hat auf die Ge-<lb/>
dankenent&#x017F;tehung in dem andern, man &#x017F;pricht mehr <hi rendition="#g">neben</hi>, als<lb/>
zu einander. Aber &#x017F;elb&#x017F;t ein &#x017F;o freies, lo&#x017F;es Ge&#x017F;pra&#x0364;ch i&#x017F;t &#x017F;chon<lb/>
Gegen&#x017F;tand der Auslegung und gerade in Beziehung auf un-<lb/>
&#x017F;ere Aufgabe ein &#x017F;ehr intricates. Je mehr einer aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
redet, und der Grund &#x017F;einer Combinationen rein in ihm &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
liegt, de&#x017F;to mehr ent&#x017F;teht die Frage, wie der&#x017F;elbe wol dazu ge-<lb/>
kommen &#x017F;ei. Es kommt vor, daß man zu wi&#x017F;&#x017F;en meint, wie der<lb/>
andere wol auf das, was man zu ihm &#x017F;agt, antworten werde.<lb/>
Es i&#x017F;t etwas bedeutendes, wenn Jemand die Fertigkeit hat, die<lb/>
Succe&#x017F;&#x017F;ion der Vor&#x017F;tellungen eines Andern als That&#x017F;ache &#x017F;einer<lb/>
Individualita&#x0364;t zu ver&#x017F;tehen. Litterari&#x017F;ch betrachtet hat dieß frei-<lb/>
lich keinen Werth, weil das rein freie Gedanken&#x017F;piel nicht leicht<lb/>
litterari&#x017F;ch wird. Allein analog i&#x017F;t auf dem litterari&#x017F;chen Gebiete<lb/>
der rein freund&#x017F;chaftliche Brief. Solche Briefe von bedeutenden<lb/>
Ma&#x0364;nnern machen keinen kleinen Theil un&#x017F;erer Litteratur aus.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0173] ſo hat die Reihe ein Ende. Im erſten Falle iſt das Individuelle, rein Pſychologiſche vorherrſchend, in dem zweiten das Bewußt- ſein eines beſtimmten Fortſchreitens nach einem Ziel, das Reſultat ein vorbedachtes, methodiſches, techniſches. Darnach zerfaͤllt die hermeneutiſche Aufgabe auf dieſer Seite in die rein pſycholo- giſche und in die techniſche. Jeder Menſch iſt bisweilen wenn auch nur innerlich in einem ſolchen Vorſtellungszuſtande, den wir, auf den eigentlichen Lebens- gehalt geſehen, fuͤr Null rechnen. Nehmen ſolche Zuſtaͤnde uͤber- hand, ſo wird dadurch der reale Lebensgehalt des Subjects ver- ringert. Man nennt einen ſolchen zerſtreuet, er iſt, ſagt man, in Gedanken, d. h. in ſolchen die ſich eigentlich auf Null redu- ciren. So lange ein ſolcher Zuſtand ein innerlicher iſt, iſt er natuͤrlich kein Gegenſtand fuͤr unſere Theorie. Allein wie ſteht es um unſer, gewoͤhnliches Umgangsgeſpraͤch? Wenn daſſelbe nicht irgend ein Geſchaͤft iſt, ſo daß ein beſtimmter Gegenſtand eroͤrtert wird und ſomit eine Tendenz entſteht, werden eben nur Vorſtel- lungen ausgetauſcht, oft ohne unmittelbare Beziehung, ſo daß was der eine ſagt keinen nothwendigen Einfluß hat auf die Ge- dankenentſtehung in dem andern, man ſpricht mehr neben, als zu einander. Aber ſelbſt ein ſo freies, loſes Geſpraͤch iſt ſchon Gegenſtand der Auslegung und gerade in Beziehung auf un- ſere Aufgabe ein ſehr intricates. Je mehr einer aus ſich ſelbſt redet, und der Grund ſeiner Combinationen rein in ihm ſelbſt liegt, deſto mehr entſteht die Frage, wie derſelbe wol dazu ge- kommen ſei. Es kommt vor, daß man zu wiſſen meint, wie der andere wol auf das, was man zu ihm ſagt, antworten werde. Es iſt etwas bedeutendes, wenn Jemand die Fertigkeit hat, die Succeſſion der Vorſtellungen eines Andern als Thatſache ſeiner Individualitaͤt zu verſtehen. Litterariſch betrachtet hat dieß frei- lich keinen Werth, weil das rein freie Gedankenſpiel nicht leicht litterariſch wird. Allein analog iſt auf dem litterariſchen Gebiete der rein freundſchaftliche Brief. Solche Briefe von bedeutenden Maͤnnern machen keinen kleinen Theil unſerer Litteratur aus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/173
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/173>, abgerufen am 05.12.2024.