von Vorder- und Nachsaz ist. Die aneinandergereihten Säze ste- hen im Verhältniß der Coordination. Wenn auch der eine Saz eine längere Periode ist und der andere ein einfacher Saz, sie sind doch nur coordinirte Theile eines Ganzen. Die Sprachen sind in dieser Hinsicht verschieden. Es giebt solche, die gar kei- nes Periodenbaus fähig sind, oder in denen die Fähigkeit dazu ein Minimum ist, und wiederum solche, die dazu im größeren Maaße fähig sind u. s. w. Daß aber der Gegensaz zwischen or- ganischer (periodischer) und anreihender Verknüpfung nur ein re- lativer ist, erhellt daraus, daß wenn z. B. eine sehr zusammenhän- gende Periode aus dem Lateinischen in eine Sprache übertragen werden soll, welche eine solche Fähigkeit nicht hat, nichts übrig bleibt, als was dort organisch verbunden ist möglichst sachgemäß in so kleine Ganze zu zerlegen, als jene Sprache gestattet. Die Periode hat auf die Weise ihre organische Einheit verloren, aber es ist bis auf einen gewissen Grad möglich zu erreichen, daß die Leser dasselbe Verhältniß der Theile, wie es in der organischen Periode gewollt war, zu denken im Stande sind. Wäre der Ge- gensaz absolut, so wäre dieß undenkbar. Es müßten sonst ganz verschiedene Weltverhältnisse existiren. Sind wir uns aber bei aller Differenz der Sprachen doch der Identität unserer Weltver- hältnisse und Denkgeseze bewußt, so kann auch nicht die bloße Aneinanderreihung in der Sprache die organische Verknüpfung als absoluten Gegensaz ausschließen. Ja wir haben diesen rela- tiven Gegensaz in einer und derselben Sprache. Was der Eine in großen organischen Perioden darstellt, zerfällt der Andere gern, er reihet lieber aneinander.
Soll als möglich gedacht werden, daß eine bloß aneinander- reihende Form dieselbe Wirkung hervorbringt, wie die organisch verbindende, so müssen wir annehmen, daß die einzelnen verbin- denden Sprachelemente bisweilen auch bloß aneinanderreihenden Werth bekommen. Beide Bewegungen correspondiren einander in der Sprache, so daß die eine nicht ohne die andere zu denken ist. Allerdings ist ein bedeutender Unterschied zwischen Sprachen
von Vorder- und Nachſaz iſt. Die aneinandergereihten Saͤze ſte- hen im Verhaͤltniß der Coordination. Wenn auch der eine Saz eine laͤngere Periode iſt und der andere ein einfacher Saz, ſie ſind doch nur coordinirte Theile eines Ganzen. Die Sprachen ſind in dieſer Hinſicht verſchieden. Es giebt ſolche, die gar kei- nes Periodenbaus faͤhig ſind, oder in denen die Faͤhigkeit dazu ein Minimum iſt, und wiederum ſolche, die dazu im groͤßeren Maaße faͤhig ſind u. ſ. w. Daß aber der Gegenſaz zwiſchen or- ganiſcher (periodiſcher) und anreihender Verknuͤpfung nur ein re- lativer iſt, erhellt daraus, daß wenn z. B. eine ſehr zuſammenhaͤn- gende Periode aus dem Lateiniſchen in eine Sprache uͤbertragen werden ſoll, welche eine ſolche Faͤhigkeit nicht hat, nichts uͤbrig bleibt, als was dort organiſch verbunden iſt moͤglichſt ſachgemaͤß in ſo kleine Ganze zu zerlegen, als jene Sprache geſtattet. Die Periode hat auf die Weiſe ihre organiſche Einheit verloren, aber es iſt bis auf einen gewiſſen Grad moͤglich zu erreichen, daß die Leſer daſſelbe Verhaͤltniß der Theile, wie es in der organiſchen Periode gewollt war, zu denken im Stande ſind. Waͤre der Ge- genſaz abſolut, ſo waͤre dieß undenkbar. Es muͤßten ſonſt ganz verſchiedene Weltverhaͤltniſſe exiſtiren. Sind wir uns aber bei aller Differenz der Sprachen doch der Identitaͤt unſerer Weltver- haͤltniſſe und Denkgeſeze bewußt, ſo kann auch nicht die bloße Aneinanderreihung in der Sprache die organiſche Verknuͤpfung als abſoluten Gegenſaz ausſchließen. Ja wir haben dieſen rela- tiven Gegenſaz in einer und derſelben Sprache. Was der Eine in großen organiſchen Perioden darſtellt, zerfaͤllt der Andere gern, er reihet lieber aneinander.
Soll als moͤglich gedacht werden, daß eine bloß aneinander- reihende Form dieſelbe Wirkung hervorbringt, wie die organiſch verbindende, ſo muͤſſen wir annehmen, daß die einzelnen verbin- denden Sprachelemente bisweilen auch bloß aneinanderreihenden Werth bekommen. Beide Bewegungen correſpondiren einander in der Sprache, ſo daß die eine nicht ohne die andere zu denken iſt. Allerdings iſt ein bedeutender Unterſchied zwiſchen Sprachen
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von Vorder- und Nachſaz iſt. Die aneinandergereihten Saͤze ſte-
hen im Verhaͤltniß der Coordination. Wenn auch der eine Saz
eine laͤngere Periode iſt und der andere ein einfacher Saz, ſie
ſind doch nur coordinirte Theile eines Ganzen. Die Sprachen
ſind in dieſer Hinſicht verſchieden. Es giebt ſolche, die gar kei-
nes Periodenbaus faͤhig ſind, oder in denen die Faͤhigkeit dazu
ein Minimum iſt, und wiederum ſolche, die dazu im groͤßeren
Maaße faͤhig ſind u. ſ. w. Daß aber der Gegenſaz zwiſchen or-
ganiſcher (periodiſcher) und anreihender Verknuͤpfung nur ein re-
lativer iſt, erhellt daraus, daß wenn z. B. eine ſehr zuſammenhaͤn-
gende Periode aus dem Lateiniſchen in eine Sprache uͤbertragen
werden ſoll, welche eine ſolche Faͤhigkeit nicht hat, nichts uͤbrig
bleibt, als was dort organiſch verbunden iſt moͤglichſt ſachgemaͤß
in ſo kleine Ganze zu zerlegen, als jene Sprache geſtattet. Die
Periode hat auf die Weiſe ihre organiſche Einheit verloren, aber
es iſt bis auf einen gewiſſen Grad moͤglich zu erreichen, daß die
Leſer daſſelbe Verhaͤltniß der Theile, wie es in der organiſchen
Periode gewollt war, zu denken im Stande ſind. Waͤre der Ge-
genſaz abſolut, ſo waͤre dieß undenkbar. Es muͤßten ſonſt ganz
verſchiedene Weltverhaͤltniſſe exiſtiren. Sind wir uns aber bei
aller Differenz der Sprachen doch der Identitaͤt unſerer Weltver-
haͤltniſſe und Denkgeſeze bewußt, ſo kann auch nicht die bloße
Aneinanderreihung in der Sprache die organiſche Verknuͤpfung
als abſoluten Gegenſaz ausſchließen. Ja wir haben dieſen rela-
tiven Gegenſaz in einer und derſelben Sprache. Was der Eine
in großen organiſchen Perioden darſtellt, zerfaͤllt der Andere gern,
er reihet lieber aneinander.
Soll als moͤglich gedacht werden, daß eine bloß aneinander-
reihende Form dieſelbe Wirkung hervorbringt, wie die organiſch
verbindende, ſo muͤſſen wir annehmen, daß die einzelnen verbin-
denden Sprachelemente bisweilen auch bloß aneinanderreihenden
Werth bekommen. Beide Bewegungen correſpondiren einander
in der Sprache, ſo daß die eine nicht ohne die andere zu denken
iſt. Allerdings iſt ein bedeutender Unterſchied zwiſchen Sprachen
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/141>, abgerufen am 05.12.2024.
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