Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwischen den besagten beiden End- und Grenzpunkten, von
denen wir den ersteren allgemeiner als Poesie den zweiten als
Prosa bezeichnen können, liegen alle verschiedenen Arten der Com-
position und die dadurch bestimmten Modificationen des hermeneu-
tischen Verfahrens. Der allgemeine hermeneutische Unterschied zwi-
schen Poesie und Prosa ist der, daß dort das Einzelne als solches
seinen besonderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im
Ganzen, in Beziehung auf den Hauptgedanken. Von den da-
zwischen liegenden Arten der Composition grenzt unter den poe-
tischen die dramatische am meisten an die Prosa und in ihr will
alles als Eins und so gewissermaßen auf einmal verstanden wer-
den. Die eigentliche Mitte bildet von der poetischen Seite die
epische Poesie. Hier ist immer ein Zusammenwirken mehrerer, aber
jeder ist da in seiner Einzelheit. Da haben wir das Gebiet des
Hauptgedankens, so wie sich derselbe aber im Einzelnen darstellt
entsteht das Gebiet der Nebengedanken, aber um diese herum ist
ein allgemeines poetisches Leben und da sind im engeren Sinn die
Gedanken Darstellungsmittel. Ebenso giebt es in der Prosa eine
Form, welche der lyrischen Poesie am nächsten liegt, die episto-
larische. Hier ist das freie Aneinanderreihen der Gedanken, die
kein Band weiter haben als das Selbstbewußtsein des Subjects,
das bald so bald so erregt wird. Ihr eigentliches Gebiet ist in
dem Verhältniß gegenseitiger Bekanntschaft. Wo das nicht ist,
oder nur fingirt, da geht der Brief aus seinem Gebiet heraus.
Die historische Darstellung bildet wieder die Mitte von der Prosa
aus. Hier sind die Hauptgedanken Theile der Darstellung, die
dem Factum was dargestellt werden soll wesentlich sind. Säze
welche sich während jenes dargestellt wird darbieten sind Neben-
gedanken und Darstellungsmittel. Das didaktische kann sich dem
strengsystematischen nähern, aber wenn die Darstellung rhetorisch
wird läßt es eine Fülle von Nebengedanken und Darstellungs-
mitteln zu.

Die Frage aber auf die es hier zunächst ankam war die, wie
weit, wo solche Unterschiede und Abstufungen stattfinden, das her-

Zwiſchen den beſagten beiden End- und Grenzpunkten, von
denen wir den erſteren allgemeiner als Poeſie den zweiten als
Proſa bezeichnen koͤnnen, liegen alle verſchiedenen Arten der Com-
poſition und die dadurch beſtimmten Modificationen des hermeneu-
tiſchen Verfahrens. Der allgemeine hermeneutiſche Unterſchied zwi-
ſchen Poeſie und Proſa iſt der, daß dort das Einzelne als ſolches
ſeinen beſonderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im
Ganzen, in Beziehung auf den Hauptgedanken. Von den da-
zwiſchen liegenden Arten der Compoſition grenzt unter den poe-
tiſchen die dramatiſche am meiſten an die Proſa und in ihr will
alles als Eins und ſo gewiſſermaßen auf einmal verſtanden wer-
den. Die eigentliche Mitte bildet von der poetiſchen Seite die
epiſche Poeſie. Hier iſt immer ein Zuſammenwirken mehrerer, aber
jeder iſt da in ſeiner Einzelheit. Da haben wir das Gebiet des
Hauptgedankens, ſo wie ſich derſelbe aber im Einzelnen darſtellt
entſteht das Gebiet der Nebengedanken, aber um dieſe herum iſt
ein allgemeines poetiſches Leben und da ſind im engeren Sinn die
Gedanken Darſtellungsmittel. Ebenſo giebt es in der Proſa eine
Form, welche der lyriſchen Poeſie am naͤchſten liegt, die epiſto-
lariſche. Hier iſt das freie Aneinanderreihen der Gedanken, die
kein Band weiter haben als das Selbſtbewußtſein des Subjects,
das bald ſo bald ſo erregt wird. Ihr eigentliches Gebiet iſt in
dem Verhaͤltniß gegenſeitiger Bekanntſchaft. Wo das nicht iſt,
oder nur fingirt, da geht der Brief aus ſeinem Gebiet heraus.
Die hiſtoriſche Darſtellung bildet wieder die Mitte von der Proſa
aus. Hier ſind die Hauptgedanken Theile der Darſtellung, die
dem Factum was dargeſtellt werden ſoll weſentlich ſind. Saͤze
welche ſich waͤhrend jenes dargeſtellt wird darbieten ſind Neben-
gedanken und Darſtellungsmittel. Das didaktiſche kann ſich dem
ſtrengſyſtematiſchen naͤhern, aber wenn die Darſtellung rhetoriſch
wird laͤßt es eine Fuͤlle von Nebengedanken und Darſtellungs-
mitteln zu.

Die Frage aber auf die es hier zunaͤchſt ankam war die, wie
weit, wo ſolche Unterſchiede und Abſtufungen ſtattfinden, das her-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0122" n="98"/>
            <p>Zwi&#x017F;chen den be&#x017F;agten beiden End- und Grenzpunkten, von<lb/>
denen wir den er&#x017F;teren allgemeiner als Poe&#x017F;ie den zweiten als<lb/>
Pro&#x017F;a bezeichnen ko&#x0364;nnen, liegen alle ver&#x017F;chiedenen Arten der Com-<lb/>
po&#x017F;ition und die dadurch be&#x017F;timmten Modificationen des hermeneu-<lb/>
ti&#x017F;chen Verfahrens. Der allgemeine hermeneuti&#x017F;che Unter&#x017F;chied zwi-<lb/>
&#x017F;chen Poe&#x017F;ie und Pro&#x017F;a i&#x017F;t der, daß dort das Einzelne als &#x017F;olches<lb/>
&#x017F;einen be&#x017F;onderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im<lb/>
Ganzen, in Beziehung auf den Hauptgedanken. Von den da-<lb/>
zwi&#x017F;chen liegenden Arten der Compo&#x017F;ition grenzt unter den poe-<lb/>
ti&#x017F;chen die dramati&#x017F;che am mei&#x017F;ten an die Pro&#x017F;a und in ihr will<lb/>
alles als Eins und &#x017F;o gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen auf einmal ver&#x017F;tanden wer-<lb/>
den. Die eigentliche Mitte bildet von der poeti&#x017F;chen Seite die<lb/>
epi&#x017F;che Poe&#x017F;ie. Hier i&#x017F;t immer ein Zu&#x017F;ammenwirken mehrerer, aber<lb/>
jeder i&#x017F;t da in &#x017F;einer Einzelheit. Da haben wir das Gebiet des<lb/>
Hauptgedankens, &#x017F;o wie &#x017F;ich der&#x017F;elbe aber im Einzelnen dar&#x017F;tellt<lb/>
ent&#x017F;teht das Gebiet der Nebengedanken, aber um die&#x017F;e herum i&#x017F;t<lb/>
ein allgemeines poeti&#x017F;ches Leben und da &#x017F;ind im engeren Sinn die<lb/>
Gedanken Dar&#x017F;tellungsmittel. Eben&#x017F;o giebt es in der Pro&#x017F;a eine<lb/>
Form, welche der lyri&#x017F;chen Poe&#x017F;ie am na&#x0364;ch&#x017F;ten liegt, die epi&#x017F;to-<lb/>
lari&#x017F;che. Hier i&#x017F;t das freie Aneinanderreihen der Gedanken, die<lb/>
kein Band weiter haben als das Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein des Subjects,<lb/>
das bald &#x017F;o bald &#x017F;o erregt wird. Ihr eigentliches Gebiet i&#x017F;t in<lb/>
dem Verha&#x0364;ltniß gegen&#x017F;eitiger Bekannt&#x017F;chaft. Wo das nicht i&#x017F;t,<lb/>
oder nur fingirt, da geht der Brief aus &#x017F;einem Gebiet heraus.<lb/>
Die hi&#x017F;tori&#x017F;che Dar&#x017F;tellung bildet wieder die Mitte von der Pro&#x017F;a<lb/>
aus. Hier &#x017F;ind die Hauptgedanken Theile der Dar&#x017F;tellung, die<lb/>
dem Factum was darge&#x017F;tellt werden &#x017F;oll we&#x017F;entlich &#x017F;ind. Sa&#x0364;ze<lb/>
welche &#x017F;ich wa&#x0364;hrend jenes darge&#x017F;tellt wird darbieten &#x017F;ind Neben-<lb/>
gedanken und Dar&#x017F;tellungsmittel. Das didakti&#x017F;che kann &#x017F;ich dem<lb/>
&#x017F;treng&#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen na&#x0364;hern, aber wenn die Dar&#x017F;tellung rhetori&#x017F;ch<lb/>
wird la&#x0364;ßt es eine Fu&#x0364;lle von Nebengedanken und Dar&#x017F;tellungs-<lb/>
mitteln zu.</p><lb/>
            <p>Die Frage aber auf die es hier zuna&#x0364;ch&#x017F;t ankam war die, wie<lb/>
weit, wo &#x017F;olche Unter&#x017F;chiede und Ab&#x017F;tufungen &#x017F;tattfinden, das her-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0122] Zwiſchen den beſagten beiden End- und Grenzpunkten, von denen wir den erſteren allgemeiner als Poeſie den zweiten als Proſa bezeichnen koͤnnen, liegen alle verſchiedenen Arten der Com- poſition und die dadurch beſtimmten Modificationen des hermeneu- tiſchen Verfahrens. Der allgemeine hermeneutiſche Unterſchied zwi- ſchen Poeſie und Proſa iſt der, daß dort das Einzelne als ſolches ſeinen beſonderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im Ganzen, in Beziehung auf den Hauptgedanken. Von den da- zwiſchen liegenden Arten der Compoſition grenzt unter den poe- tiſchen die dramatiſche am meiſten an die Proſa und in ihr will alles als Eins und ſo gewiſſermaßen auf einmal verſtanden wer- den. Die eigentliche Mitte bildet von der poetiſchen Seite die epiſche Poeſie. Hier iſt immer ein Zuſammenwirken mehrerer, aber jeder iſt da in ſeiner Einzelheit. Da haben wir das Gebiet des Hauptgedankens, ſo wie ſich derſelbe aber im Einzelnen darſtellt entſteht das Gebiet der Nebengedanken, aber um dieſe herum iſt ein allgemeines poetiſches Leben und da ſind im engeren Sinn die Gedanken Darſtellungsmittel. Ebenſo giebt es in der Proſa eine Form, welche der lyriſchen Poeſie am naͤchſten liegt, die epiſto- lariſche. Hier iſt das freie Aneinanderreihen der Gedanken, die kein Band weiter haben als das Selbſtbewußtſein des Subjects, das bald ſo bald ſo erregt wird. Ihr eigentliches Gebiet iſt in dem Verhaͤltniß gegenſeitiger Bekanntſchaft. Wo das nicht iſt, oder nur fingirt, da geht der Brief aus ſeinem Gebiet heraus. Die hiſtoriſche Darſtellung bildet wieder die Mitte von der Proſa aus. Hier ſind die Hauptgedanken Theile der Darſtellung, die dem Factum was dargeſtellt werden ſoll weſentlich ſind. Saͤze welche ſich waͤhrend jenes dargeſtellt wird darbieten ſind Neben- gedanken und Darſtellungsmittel. Das didaktiſche kann ſich dem ſtrengſyſtematiſchen naͤhern, aber wenn die Darſtellung rhetoriſch wird laͤßt es eine Fuͤlle von Nebengedanken und Darſtellungs- mitteln zu. Die Frage aber auf die es hier zunaͤchſt ankam war die, wie weit, wo ſolche Unterſchiede und Abſtufungen ſtattfinden, das her-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/122
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/122>, abgerufen am 05.12.2024.