Einheit, die von Christus ausging, wesentlich nicht. Denn, wenn auch die Idee der Heidenbekehrung vorzugsweise durch Paulus erst recht klar unter den Aposteln wurde, so war sich doch Pau- lus dabei keiner andern Kraft als der Christi bewußt, und wenn die Idee nicht in der Lehre Jesu gelegen hätte, würden die an- dern Apostel ihn gar nicht als Christen anerkannt haben, ge- schweige als Apostel. Bei den Sokratikern finden wir dagegen, daß sie sich oft mit Gegenständen beschäftigten, die Sokrates nie berührte, und da trat eben ihre Eigenthümlichkeit und Differenz freier hervor.
32. Die philologische Erklärung muß dem zusammen- stellenden Gebrauch des N. T. vorangehen.
Ohne 1) das leztere (die dogmatische Auslegung) ist die theolo- gische Aufgabe nicht vollständig gelös't, aber ohne die voraufge- hende philologische Erklärung, die jeden Gedanken und Ausdruck aus seinem Zusammenhange zu verstehen sucht, kann man dabei kein gutes Gewissen haben.
33. Die Grundsäze des Parallelismus sind für beide verschieden wegen der Möglichkeit des gleichen Inhalts bei ganz verschiedenem Sprachgebrauch.
34. Wesentlich ist gänzliche Scheidung des Verfahrens (des philologischen und dogmatischen) und der Ausleger muß ein bestimmtes Bewußtsein darüber haben in welchem er ist.
35. Wenn die Auslegung unter vorausgesezter Sprach- kenntniß eben so betrieben werden muß, wie die durch welche die Sprachkenntniß zu Stande kommt, so muß durch den Ge- brauch der Parallelstellen in dem Kreise eines Wortes ein bestimmtes Sprachgebiet abgesteckt werden.
1) Aus der Vorles. v. 1826.
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Einheit, die von Chriſtus ausging, weſentlich nicht. Denn, wenn auch die Idee der Heidenbekehrung vorzugsweiſe durch Paulus erſt recht klar unter den Apoſteln wurde, ſo war ſich doch Pau- lus dabei keiner andern Kraft als der Chriſti bewußt, und wenn die Idee nicht in der Lehre Jeſu gelegen haͤtte, wuͤrden die an- dern Apoſtel ihn gar nicht als Chriſten anerkannt haben, ge- ſchweige als Apoſtel. Bei den Sokratikern finden wir dagegen, daß ſie ſich oft mit Gegenſtaͤnden beſchaͤftigten, die Sokrates nie beruͤhrte, und da trat eben ihre Eigenthuͤmlichkeit und Differenz freier hervor.
32. Die philologiſche Erklaͤrung muß dem zuſammen- ſtellenden Gebrauch des N. T. vorangehen.
Ohne 1) das leztere (die dogmatiſche Auslegung) iſt die theolo- giſche Aufgabe nicht vollſtaͤndig geloͤſ't, aber ohne die voraufge- hende philologiſche Erklaͤrung, die jeden Gedanken und Ausdruck aus ſeinem Zuſammenhange zu verſtehen ſucht, kann man dabei kein gutes Gewiſſen haben.
33. Die Grundſaͤze des Parallelismus ſind fuͤr beide verſchieden wegen der Moͤglichkeit des gleichen Inhalts bei ganz verſchiedenem Sprachgebrauch.
34. Weſentlich iſt gaͤnzliche Scheidung des Verfahrens (des philologiſchen und dogmatiſchen) und der Ausleger muß ein beſtimmtes Bewußtſein daruͤber haben in welchem er iſt.
35. Wenn die Auslegung unter vorausgeſezter Sprach- kenntniß eben ſo betrieben werden muß, wie die durch welche die Sprachkenntniß zu Stande kommt, ſo muß durch den Ge- brauch der Parallelſtellen in dem Kreiſe eines Wortes ein beſtimmtes Sprachgebiet abgeſteckt werden.
1) Aus der Vorleſ. v. 1826.
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[83/0107]
Einheit, die von Chriſtus ausging, weſentlich nicht. Denn, wenn
auch die Idee der Heidenbekehrung vorzugsweiſe durch Paulus
erſt recht klar unter den Apoſteln wurde, ſo war ſich doch Pau-
lus dabei keiner andern Kraft als der Chriſti bewußt, und wenn
die Idee nicht in der Lehre Jeſu gelegen haͤtte, wuͤrden die an-
dern Apoſtel ihn gar nicht als Chriſten anerkannt haben, ge-
ſchweige als Apoſtel. Bei den Sokratikern finden wir dagegen,
daß ſie ſich oft mit Gegenſtaͤnden beſchaͤftigten, die Sokrates nie
beruͤhrte, und da trat eben ihre Eigenthuͤmlichkeit und Differenz
freier hervor.
32. Die philologiſche Erklaͤrung muß dem zuſammen-
ſtellenden Gebrauch des N. T. vorangehen.
Ohne 1) das leztere (die dogmatiſche Auslegung) iſt die theolo-
giſche Aufgabe nicht vollſtaͤndig geloͤſ't, aber ohne die voraufge-
hende philologiſche Erklaͤrung, die jeden Gedanken und Ausdruck
aus ſeinem Zuſammenhange zu verſtehen ſucht, kann man dabei
kein gutes Gewiſſen haben.
33. Die Grundſaͤze des Parallelismus ſind fuͤr beide
verſchieden wegen der Moͤglichkeit des gleichen Inhalts bei
ganz verſchiedenem Sprachgebrauch.
34. Weſentlich iſt gaͤnzliche Scheidung des Verfahrens
(des philologiſchen und dogmatiſchen) und der Ausleger muß
ein beſtimmtes Bewußtſein daruͤber haben in welchem er iſt.
35. Wenn die Auslegung unter vorausgeſezter Sprach-
kenntniß eben ſo betrieben werden muß, wie die durch welche
die Sprachkenntniß zu Stande kommt, ſo muß durch den Ge-
brauch der Parallelſtellen in dem Kreiſe eines Wortes ein
beſtimmtes Sprachgebiet abgeſteckt werden.
1) Aus der Vorleſ. v. 1826.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/107>, abgerufen am 05.12.2024.
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