Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Als 1) Zusammengehörigkeit und Harmonie der Gedanken des
N. T. ist die Analogie des Glaubens allerdings ein wahrer Begriff.

30. Die Analogie des Glaubens kann also nur aus
der richtigen Auslegung hervorgehen, und der Kanon kann
als ein wahrhaft hermeneutischer nur heißen: Es ist irgend-
wo falsch erklärt wenn aus allen zusammengehörigen Stellen
nichts gemeinsames übereinstimmend hervorgeht.

Man kann also nur sagen, die Wahrscheinlichkeit der unrich-
tigen Erklärung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein
der Ausmittlung eines solchen gemeinsamen sich widersezt.

31. Die Einheit und Differenz des N. Testam. kann
verglichen werden mit der Einheit und Differenz der Sokra-
tischen Schule.

Auch 2) Sokrates der Meister schreibt nichts selbst. Seine An-
sichten sind nur in den Schriften seiner Schüler überliefert.
Diese gestalteten sich zwar nach seinem Tode eigenthümlich, aber
die Sokratische Grundfarbe blieb allen. Niemand bezweifelt die
Identität und die Eigenthümlichkeit der Sokratiker. Eben so das
Verhältniß der Jünger zu Christo. Aber die Verwandtschaft ist
in den neutest. Schriftstellern größer, als unter den Sokratikern,
weil die Kraft der Einheit, die von Christo ausging, an sich
größer war, und selbst bei denjenigen Aposteln, die eine bedeu-
tende Eigenthümlichkeit hatten, wie bei Paulus, so mächtig, daß
sie sich in ihrem Lehren ausschließlich auf Christus beriefen. Selbst
daß z. B. Paulus als Heidenbekehrer in einem andern und wei-
teren Kreise wirkte, als Christus, schwächte das Übergewicht der

dasjenige klar nenne, was einen bestimmten Sinn gebe, so sei in jedem
gegebenen schwierigen Zusammenhange für die allmählige Genesis des
Verstehens ursprünglich nur Eins klar.
1) Aus der Vorles. v. 1826.
2) Aus der Vorles. v. 1826.

Als 1) Zuſammengehoͤrigkeit und Harmonie der Gedanken des
N. T. iſt die Analogie des Glaubens allerdings ein wahrer Begriff.

30. Die Analogie des Glaubens kann alſo nur aus
der richtigen Auslegung hervorgehen, und der Kanon kann
als ein wahrhaft hermeneutiſcher nur heißen: Es iſt irgend-
wo falſch erklaͤrt wenn aus allen zuſammengehoͤrigen Stellen
nichts gemeinſames uͤbereinſtimmend hervorgeht.

Man kann alſo nur ſagen, die Wahrſcheinlichkeit der unrich-
tigen Erklaͤrung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein
der Ausmittlung eines ſolchen gemeinſamen ſich widerſezt.

31. Die Einheit und Differenz des N. Teſtam. kann
verglichen werden mit der Einheit und Differenz der Sokra-
tiſchen Schule.

Auch 2) Sokrates der Meiſter ſchreibt nichts ſelbſt. Seine An-
ſichten ſind nur in den Schriften ſeiner Schuͤler uͤberliefert.
Dieſe geſtalteten ſich zwar nach ſeinem Tode eigenthuͤmlich, aber
die Sokratiſche Grundfarbe blieb allen. Niemand bezweifelt die
Identitaͤt und die Eigenthuͤmlichkeit der Sokratiker. Eben ſo das
Verhaͤltniß der Juͤnger zu Chriſto. Aber die Verwandtſchaft iſt
in den neuteſt. Schriftſtellern groͤßer, als unter den Sokratikern,
weil die Kraft der Einheit, die von Chriſto ausging, an ſich
groͤßer war, und ſelbſt bei denjenigen Apoſteln, die eine bedeu-
tende Eigenthuͤmlichkeit hatten, wie bei Paulus, ſo maͤchtig, daß
ſie ſich in ihrem Lehren ausſchließlich auf Chriſtus beriefen. Selbſt
daß z. B. Paulus als Heidenbekehrer in einem andern und wei-
teren Kreiſe wirkte, als Chriſtus, ſchwaͤchte das Übergewicht der

dasjenige klar nenne, was einen beſtimmten Sinn gebe, ſo ſei in jedem
gegebenen ſchwierigen Zuſammenhange fuͤr die allmaͤhlige Geneſis des
Verſtehens urſpruͤnglich nur Eins klar.
1) Aus der Vorleſ. v. 1826.
2) Aus der Vorleſ. v. 1826.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0106" n="82"/>
            <p>Als <note place="foot" n="1)">Aus der Vorle&#x017F;. v. 1826.</note> Zu&#x017F;ammengeho&#x0364;rigkeit und Harmonie der Gedanken des<lb/>
N. T. i&#x017F;t die Analogie des Glaubens allerdings ein wahrer Begriff.</p><lb/>
            <p>30. Die Analogie des Glaubens kann al&#x017F;o nur aus<lb/>
der richtigen Auslegung hervorgehen, und der Kanon kann<lb/>
als ein wahrhaft hermeneuti&#x017F;cher nur heißen: Es i&#x017F;t irgend-<lb/>
wo fal&#x017F;ch erkla&#x0364;rt wenn aus allen zu&#x017F;ammengeho&#x0364;rigen Stellen<lb/>
nichts gemein&#x017F;ames u&#x0364;berein&#x017F;timmend hervorgeht.</p><lb/>
            <p>Man kann al&#x017F;o nur &#x017F;agen, die Wahr&#x017F;cheinlichkeit der unrich-<lb/>
tigen Erkla&#x0364;rung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein<lb/>
der Ausmittlung eines &#x017F;olchen gemein&#x017F;amen &#x017F;ich wider&#x017F;ezt.</p><lb/>
            <p>31. Die Einheit und Differenz des N. Te&#x017F;tam. kann<lb/>
verglichen werden mit der Einheit und Differenz der Sokra-<lb/>
ti&#x017F;chen Schule.</p><lb/>
            <p>Auch <note place="foot" n="2)">Aus der Vorle&#x017F;. v. 1826.</note> Sokrates der Mei&#x017F;ter &#x017F;chreibt nichts &#x017F;elb&#x017F;t. Seine An-<lb/>
&#x017F;ichten &#x017F;ind nur in den Schriften &#x017F;einer Schu&#x0364;ler u&#x0364;berliefert.<lb/>
Die&#x017F;e ge&#x017F;talteten &#x017F;ich zwar nach &#x017F;einem Tode eigenthu&#x0364;mlich, aber<lb/>
die Sokrati&#x017F;che Grundfarbe blieb allen. Niemand bezweifelt die<lb/>
Identita&#x0364;t und die Eigenthu&#x0364;mlichkeit der Sokratiker. Eben &#x017F;o das<lb/>
Verha&#x0364;ltniß der Ju&#x0364;nger zu Chri&#x017F;to. Aber die Verwandt&#x017F;chaft i&#x017F;t<lb/>
in den neute&#x017F;t. Schrift&#x017F;tellern gro&#x0364;ßer, als unter den Sokratikern,<lb/>
weil die Kraft der Einheit, die von Chri&#x017F;to ausging, an &#x017F;ich<lb/>
gro&#x0364;ßer war, und &#x017F;elb&#x017F;t bei denjenigen Apo&#x017F;teln, die eine bedeu-<lb/>
tende Eigenthu&#x0364;mlichkeit hatten, wie bei Paulus, &#x017F;o ma&#x0364;chtig, daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich in ihrem Lehren aus&#x017F;chließlich auf Chri&#x017F;tus beriefen. Selb&#x017F;t<lb/>
daß z. B. Paulus als Heidenbekehrer in einem andern und wei-<lb/>
teren Krei&#x017F;e wirkte, als Chri&#x017F;tus, &#x017F;chwa&#x0364;chte das Übergewicht der<lb/><note xml:id="note-0106" prev="#note-0105" place="foot" n="1)">dasjenige klar nenne, was einen be&#x017F;timmten Sinn gebe, &#x017F;o &#x017F;ei in jedem<lb/>
gegebenen &#x017F;chwierigen Zu&#x017F;ammenhange fu&#x0364;r die allma&#x0364;hlige Gene&#x017F;is des<lb/>
Ver&#x017F;tehens ur&#x017F;pru&#x0364;nglich nur Eins klar.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0106] Als 1) Zuſammengehoͤrigkeit und Harmonie der Gedanken des N. T. iſt die Analogie des Glaubens allerdings ein wahrer Begriff. 30. Die Analogie des Glaubens kann alſo nur aus der richtigen Auslegung hervorgehen, und der Kanon kann als ein wahrhaft hermeneutiſcher nur heißen: Es iſt irgend- wo falſch erklaͤrt wenn aus allen zuſammengehoͤrigen Stellen nichts gemeinſames uͤbereinſtimmend hervorgeht. Man kann alſo nur ſagen, die Wahrſcheinlichkeit der unrich- tigen Erklaͤrung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein der Ausmittlung eines ſolchen gemeinſamen ſich widerſezt. 31. Die Einheit und Differenz des N. Teſtam. kann verglichen werden mit der Einheit und Differenz der Sokra- tiſchen Schule. Auch 2) Sokrates der Meiſter ſchreibt nichts ſelbſt. Seine An- ſichten ſind nur in den Schriften ſeiner Schuͤler uͤberliefert. Dieſe geſtalteten ſich zwar nach ſeinem Tode eigenthuͤmlich, aber die Sokratiſche Grundfarbe blieb allen. Niemand bezweifelt die Identitaͤt und die Eigenthuͤmlichkeit der Sokratiker. Eben ſo das Verhaͤltniß der Juͤnger zu Chriſto. Aber die Verwandtſchaft iſt in den neuteſt. Schriftſtellern groͤßer, als unter den Sokratikern, weil die Kraft der Einheit, die von Chriſto ausging, an ſich groͤßer war, und ſelbſt bei denjenigen Apoſteln, die eine bedeu- tende Eigenthuͤmlichkeit hatten, wie bei Paulus, ſo maͤchtig, daß ſie ſich in ihrem Lehren ausſchließlich auf Chriſtus beriefen. Selbſt daß z. B. Paulus als Heidenbekehrer in einem andern und wei- teren Kreiſe wirkte, als Chriſtus, ſchwaͤchte das Übergewicht der 1) 1) Aus der Vorleſ. v. 1826. 2) Aus der Vorleſ. v. 1826. 1) dasjenige klar nenne, was einen beſtimmten Sinn gebe, ſo ſei in jedem gegebenen ſchwierigen Zuſammenhange fuͤr die allmaͤhlige Geneſis des Verſtehens urſpruͤnglich nur Eins klar.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/106
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/106>, abgerufen am 05.12.2024.