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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unserer Auf-
gabe selbst zurück? -- Ich meine auf folgendem Wege. Die
ganze Natur zeigt sich uns in Raum und Zeit gebunden und
eben deshalb erscheint sie uns auch mit Nothwendigkeit als nich-
tig und unwürdig. In unserm Herzen selbst lebt unabweisbar
die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir
fühlen uns zu dem Ausspruch berechtigt: "nur das Vollkom-
mene
besteht wirklich"; aber was im Raum ist, ist auch wie der
Raum selbst ohne Grenzen, nirgends abgeschlossen, nirgends fertig, un-
endlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit ist, gehorcht dem Gesetz
der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verschiedener Zustände.
In Raum und Zeit dürfen wir also Das nicht suchen, was unserem
Herzen Befriedigung gewähren soll, das wahrhaft Seyende, Vollendete;
die allein wirkliche Gotteswelt ist nicht die uns umgebende Natur. --
Nun denn, so wäre Alles, was uns anschaulich entgegentritt, nichts
als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, wesenloser Schein? -- Wohl
hat es Leute gegeben, welche zu diesem seltsamen Schlusse gekommen
sind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für
sich zu haben scheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangel-
haft über sich selbst verständigten Menschen. Forschen wir nämlich
weiter, so kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit
überall nichts den Dingen selbst Angehöriges sind, sondern nur zu
der Art und Weise gehören, wie wir menschlich beschränkt die Dinge
auffassen und, so lange wir eben Menschen bleiben, auch aufzufassen
gezwungen sind. Raum und Zeit sind gleichsam die gefärbte Brille,
welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne sie jemals
ablegen zu können, was der Macht auch des Gebildetsten unmöglich
ist. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzu-
sehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht so zeigt
und nicht so zeigen kann, wie sie in der That an sich sind. -- Nun,
dann schließen wir weiter: so ist es doch das Reich Gottes, welches
uns umgiebt und aufnimmt und nur unserem menschlich beschränkten
Standpuncte, unseren umdüsterten Blicken ist es zuzuschreiben, daß

Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unſerer Auf-
gabe ſelbſt zurück? — Ich meine auf folgendem Wege. Die
ganze Natur zeigt ſich uns in Raum und Zeit gebunden und
eben deshalb erſcheint ſie uns auch mit Nothwendigkeit als nich-
tig und unwürdig. In unſerm Herzen ſelbſt lebt unabweisbar
die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir
fühlen uns zu dem Ausſpruch berechtigt: „nur das Vollkom-
mene
beſteht wirklich“; aber was im Raum iſt, iſt auch wie der
Raum ſelbſt ohne Grenzen, nirgends abgeſchloſſen, nirgends fertig, un-
endlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit iſt, gehorcht dem Geſetz
der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verſchiedener Zuſtände.
In Raum und Zeit dürfen wir alſo Das nicht ſuchen, was unſerem
Herzen Befriedigung gewähren ſoll, das wahrhaft Seyende, Vollendete;
die allein wirkliche Gotteswelt iſt nicht die uns umgebende Natur. —
Nun denn, ſo wäre Alles, was uns anſchaulich entgegentritt, nichts
als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, weſenloſer Schein? — Wohl
hat es Leute gegeben, welche zu dieſem ſeltſamen Schluſſe gekommen
ſind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für
ſich zu haben ſcheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangel-
haft über ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen. Forſchen wir nämlich
weiter, ſo kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit
überall nichts den Dingen ſelbſt Angehöriges ſind, ſondern nur zu
der Art und Weiſe gehören, wie wir menſchlich beſchränkt die Dinge
auffaſſen und, ſo lange wir eben Menſchen bleiben, auch aufzufaſſen
gezwungen ſind. Raum und Zeit ſind gleichſam die gefärbte Brille,
welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne ſie jemals
ablegen zu können, was der Macht auch des Gebildetſten unmöglich
iſt. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzu-
ſehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht ſo zeigt
und nicht ſo zeigen kann, wie ſie in der That an ſich ſind. — Nun,
dann ſchließen wir weiter: ſo iſt es doch das Reich Gottes, welches
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[293/0309] Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unſerer Auf- gabe ſelbſt zurück? — Ich meine auf folgendem Wege. Die ganze Natur zeigt ſich uns in Raum und Zeit gebunden und eben deshalb erſcheint ſie uns auch mit Nothwendigkeit als nich- tig und unwürdig. In unſerm Herzen ſelbſt lebt unabweisbar die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir fühlen uns zu dem Ausſpruch berechtigt: „nur das Vollkom- mene beſteht wirklich“; aber was im Raum iſt, iſt auch wie der Raum ſelbſt ohne Grenzen, nirgends abgeſchloſſen, nirgends fertig, un- endlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit iſt, gehorcht dem Geſetz der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verſchiedener Zuſtände. In Raum und Zeit dürfen wir alſo Das nicht ſuchen, was unſerem Herzen Befriedigung gewähren ſoll, das wahrhaft Seyende, Vollendete; die allein wirkliche Gotteswelt iſt nicht die uns umgebende Natur. — Nun denn, ſo wäre Alles, was uns anſchaulich entgegentritt, nichts als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, weſenloſer Schein? — Wohl hat es Leute gegeben, welche zu dieſem ſeltſamen Schluſſe gekommen ſind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für ſich zu haben ſcheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangel- haft über ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen. Forſchen wir nämlich weiter, ſo kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit überall nichts den Dingen ſelbſt Angehöriges ſind, ſondern nur zu der Art und Weiſe gehören, wie wir menſchlich beſchränkt die Dinge auffaſſen und, ſo lange wir eben Menſchen bleiben, auch aufzufaſſen gezwungen ſind. Raum und Zeit ſind gleichſam die gefärbte Brille, welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne ſie jemals ablegen zu können, was der Macht auch des Gebildetſten unmöglich iſt. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzu- ſehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht ſo zeigt und nicht ſo zeigen kann, wie ſie in der That an ſich ſind. — Nun, dann ſchließen wir weiter: ſo iſt es doch das Reich Gottes, welches uns umgiebt und aufnimmt und nur unſerem menſchlich beſchränkten Standpuncte, unſeren umdüſterten Blicken iſt es zuzuſchreiben, daß

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/309>, abgerufen am 25.11.2024.