Der als Motto diesem Vortrag vorangeschickte Ausspruch eines älteren Weisen mag vielleicht nicht ganz unbestritten dastehen; wenig- stens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll- kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondrisch, alle Blinde dagegen heiter und fröhlich sind; das Auge führt uns nur in die Körperwelt ein, das Ohr aber in unsere eigentliche Heimath, in die Gemeinschaft geistiger Wesen. Nichts desto weniger läßt sich nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner ist, dem wir theils wirklich so viel Elemente unserer Kenntniß der uns umgebenden Welt verdanken, theils so viel von dem, was wir wissen, wenn auch mit Unrecht, zuschreiben, als der Sinn des Gesichts. Insbesondere aber ist er es, der unser ganzes Wissen um die Körperwelt zuerst einleitet und fortwährend erweitert und so mag man ihn wohl recht eigentlich den Sinn des Naturforschers nennen. Ohne ihn wäre die Naturwissenschaft kaum denkbar und so verdient er sicher vor allen andern eine genauere Erwägung, die um so fruchtbarer ist, da das meiste, was wir bei Betrachtung desselben als allgemein Gesetzliches finden nicht nur auf ihn, sondern mit Berücksichtigung der eigen- thümlichen Unterschiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne überhaupt seine Anwendung findet.
Durchlaufen wir die Geschichte der allmäligen Entwicklung unse- rer Naturwissenschaften, so tritt uns eine Erscheinung entgegen, welche von dem größten Einfluß gewesen ist, fast immer hemmend, verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Gesetzlichkeit trübend, sich in die Forschungen eingemischt hat. -- Der Mensch, wenn er über sich selbst nachdenkt, fühlt sich alsbald als Bürger
Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig- ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll- kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen- thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne überhaupt ſeine Anwendung findet.
Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe- rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen, welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend, verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch, wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0029"n="[13]"/><p>Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines<lb/>
älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig-<lb/>ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll-<lb/>
kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde<lb/>
dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die<lb/>
Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in<lb/>
die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich<lb/>
nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils<lb/>
wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt<lb/>
verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit<lb/>
Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere<lb/>
aber iſt <hirendition="#g">er</hi> es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt<lb/>
einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht<lb/>
eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die<lb/>
Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen<lb/>
andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das<lb/>
meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches<lb/>
finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen-<lb/>
thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne<lb/>
überhaupt ſeine Anwendung findet.</p><lb/><p>Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe-<lb/>
rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen,<lb/>
welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend,<lb/>
verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit<lb/>
trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch,<lb/>
wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[13]/0029]
Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines
älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig-
ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll-
kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde
dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die
Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in
die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich
nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils
wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt
verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit
Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere
aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt
einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht
eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die
Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen
andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das
meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches
finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen-
thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne
überhaupt ſeine Anwendung findet.
Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe-
rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen,
welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend,
verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit
trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch,
wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. [13]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/29>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.