Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, -- eine bewußtlose Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träu- merisches Daseyn -- wie nah muß dieser Vergleich liegen, der so oft schon von Dichtern ausgesprochen ist:
Holde Blumen schauen uns Mit ihren Kinderaugen freundlich an. --
Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An- schauen von Kindern und Blumen in unserer Seele hervorgerufen wird. Nun aber wird jeder gewiß sogleich zugeben, daß diese Aehnlichkeit sich nur auf gewisse Blumen einschränkt. Niemand wird dasselbe von der weißen Lilie, von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauber- haften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn- liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den sinnigen Menschen macht vielmehr dieses einen äußerst verschiedenen Eindruck nach seinen man- nigfachen Erscheinungsweisen, aber immer einen so unabweislichen, daß kaum der roheste Mensch sich überall demselben entziehen kann. Wie die ganze Natur, so ist auch die Pflanzenwelt uns eine Hiero- glyphe des Ewigen; in den irdischen Gestaltungen suchen und finden wir Deutungen auf ein überirdisches Daseyn. Wohl ließe sich dafür eine eigne Disciplin denken, die Aesthetik der Pflanzen (XII.), in welcher diese nach ihrem Verhältniß zum menschlichen Geiste betrachtet werden. Aber leider besitzen wir diese Lehre noch gar nicht, einige Andeutungen und Bruchstücke müssen ihre Stelle vertreten.
Dies mag genügen, um das Band aufzuweisen, welches den In- halt der einzelnen Vorlesungen zu einem gewissen Ganzen verknüpft; es wird aber noch einiges über das Gewand nachzutragen nöthig seyn, in welchem diese Vorlesungen vor dem Publicum erscheinen. "Kleider machen Leute", sagt man, weshalb sollten Kleider denn nicht auch Vorlesungen machen können. Dies ist in der That nur zum Theil Scherz, in gewisser Weise aber bitterer Ernst. -- Die Auf- sätze, welche hier vorliegend, wurden nicht für das lesende, abwesende Publicum, sondern für das hörende und sehende, gegenwärtige auf-
Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, — eine bewußtloſe Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träu- meriſches Daſeyn — wie nah muß dieſer Vergleich liegen, der ſo oft ſchon von Dichtern ausgeſprochen iſt:
Holde Blumen ſchauen uns Mit ihren Kinderaugen freundlich an. —
Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An- ſchauen von Kindern und Blumen in unſerer Seele hervorgerufen wird. Nun aber wird jeder gewiß ſogleich zugeben, daß dieſe Aehnlichkeit ſich nur auf gewiſſe Blumen einſchränkt. Niemand wird daſſelbe von der weißen Lilie, von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauber- haften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn- liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den ſinnigen Menſchen macht vielmehr dieſes einen äußerſt verſchiedenen Eindruck nach ſeinen man- nigfachen Erſcheinungsweiſen, aber immer einen ſo unabweislichen, daß kaum der roheſte Menſch ſich überall demſelben entziehen kann. Wie die ganze Natur, ſo iſt auch die Pflanzenwelt uns eine Hiero- glyphe des Ewigen; in den irdiſchen Geſtaltungen ſuchen und finden wir Deutungen auf ein überirdiſches Daſeyn. Wohl ließe ſich dafür eine eigne Disciplin denken, die Aeſthetik der Pflanzen (XII.), in welcher dieſe nach ihrem Verhältniß zum menſchlichen Geiſte betrachtet werden. Aber leider beſitzen wir dieſe Lehre noch gar nicht, einige Andeutungen und Bruchſtücke müſſen ihre Stelle vertreten.
Dies mag genügen, um das Band aufzuweiſen, welches den In- halt der einzelnen Vorleſungen zu einem gewiſſen Ganzen verknüpft; es wird aber noch einiges über das Gewand nachzutragen nöthig ſeyn, in welchem dieſe Vorleſungen vor dem Publicum erſcheinen. „Kleider machen Leute“, ſagt man, weshalb ſollten Kleider denn nicht auch Vorleſungen machen können. Dies iſt in der That nur zum Theil Scherz, in gewiſſer Weiſe aber bitterer Ernſt. — Die Auf- ſätze, welche hier vorliegend, wurden nicht für das leſende, abweſende Publicum, ſondern für das hörende und ſehende, gegenwärtige auf-
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Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind
denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, — eine
bewußtloſe Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träu-
meriſches Daſeyn — wie nah muß dieſer Vergleich liegen, der ſo
oft ſchon von Dichtern ausgeſprochen iſt:
Holde Blumen ſchauen uns
Mit ihren Kinderaugen freundlich an. —
Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An-
ſchauen von Kindern und Blumen in unſerer Seele hervorgerufen
wird. Nun aber wird jeder gewiß ſogleich zugeben, daß dieſe Aehnlichkeit
ſich nur auf gewiſſe Blumen einſchränkt. Niemand wird daſſelbe von
der weißen Lilie, von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauber-
haften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn-
liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den ſinnigen Menſchen macht
vielmehr dieſes einen äußerſt verſchiedenen Eindruck nach ſeinen man-
nigfachen Erſcheinungsweiſen, aber immer einen ſo unabweislichen,
daß kaum der roheſte Menſch ſich überall demſelben entziehen kann.
Wie die ganze Natur, ſo iſt auch die Pflanzenwelt uns eine Hiero-
glyphe des Ewigen; in den irdiſchen Geſtaltungen ſuchen und finden
wir Deutungen auf ein überirdiſches Daſeyn. Wohl ließe ſich dafür
eine eigne Disciplin denken, die Aeſthetik der Pflanzen (XII.), in
welcher dieſe nach ihrem Verhältniß zum menſchlichen Geiſte betrachtet
werden. Aber leider beſitzen wir dieſe Lehre noch gar nicht, einige
Andeutungen und Bruchſtücke müſſen ihre Stelle vertreten.
Dies mag genügen, um das Band aufzuweiſen, welches den In-
halt der einzelnen Vorleſungen zu einem gewiſſen Ganzen verknüpft;
es wird aber noch einiges über das Gewand nachzutragen nöthig
ſeyn, in welchem dieſe Vorleſungen vor dem Publicum erſcheinen.
„Kleider machen Leute“, ſagt man, weshalb ſollten Kleider denn
nicht auch Vorleſungen machen können. Dies iſt in der That nur
zum Theil Scherz, in gewiſſer Weiſe aber bitterer Ernſt. — Die Auf-
ſätze, welche hier vorliegend, wurden nicht für das leſende, abweſende
Publicum, ſondern für das hörende und ſehende, gegenwärtige auf-
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/25>, abgerufen am 16.02.2025.
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