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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Menschen, sondern vielfach modificirt, nach unzähligen Abstufungen
in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünstigungen. Sie
ist deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade
umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu lösenden
Fragen, das bei Weitem Schwierigste ist und natürlich nur von dem
eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig gestellte
Frage vorlag. Insbesondere gilt dies nun aber für alle naturwissen-
schaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung
sagen, fragt nur richtig, so bleibt die Naturwissenschaft keine Antwort
schuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch so be-
schränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen so schwierig
richtig zu stellen sind. Es sammeln sich Reihen von Thatsachen, die
sichtbar verwandter Natur sind; wird ihre Menge bedeutend so faßt
man sie in systematischer Ordnung zu einer sogenannten Wissenschaft
zusammen, aber die Forscher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort-
hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wissen-
schaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie
begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünstigter
Glücklicher dazwischen und nennt das Räthsel, um dessen Lösung man
sich schon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich
richtet sich alle geistige Kraft der Forscher diesem einen Punct zu,
Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Riefenschritten geht
die Wissenschaft vorwärts bis sie wieder überall den Ausweg ver-
schlossen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer sich ent-
gegengestellt sieht und nun auf höherer Stufe dieselbe Entwicklungs-
geschichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer
Führer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und
dadurch die Möglichkeit eines weitern Fortschritts verräth. So haben
wir auf dem ethisch-religiösen Gebiet Aufgaben, aber wir suchen die
Wissenschaften, die ihre Lösung sichern; -- auf der andern Seite, da-
gegen haben wir zahlreiche Wissenschaftrn, die sich aber stets im Kreise
herumdrehen, bis bald dieser, bald jener von der Vorsehung eine neue
Aufgabe genannt und sie so zu einem Fortschritt befähigt wird.

Menſchen, ſondern vielfach modificirt, nach unzähligen Abſtufungen
in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünſtigungen. Sie
iſt deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade
umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu löſenden
Fragen, das bei Weitem Schwierigſte iſt und natürlich nur von dem
eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig geſtellte
Frage vorlag. Insbeſondere gilt dies nun aber für alle naturwiſſen-
ſchaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung
ſagen, fragt nur richtig, ſo bleibt die Naturwiſſenſchaft keine Antwort
ſchuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch ſo be-
ſchränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen ſo ſchwierig
richtig zu ſtellen ſind. Es ſammeln ſich Reihen von Thatſachen, die
ſichtbar verwandter Natur ſind; wird ihre Menge bedeutend ſo faßt
man ſie in ſyſtematiſcher Ordnung zu einer ſogenannten Wiſſenſchaft
zuſammen, aber die Forſcher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort-
hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wiſſen-
ſchaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie
begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünſtigter
Glücklicher dazwiſchen und nennt das Räthſel, um deſſen Löſung man
ſich ſchon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich
richtet ſich alle geiſtige Kraft der Forſcher dieſem einen Punct zu,
Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Riefenſchritten geht
die Wiſſenſchaft vorwärts bis ſie wieder überall den Ausweg ver-
ſchloſſen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer ſich ent-
gegengeſtellt ſieht und nun auf höherer Stufe dieſelbe Entwicklungs-
geſchichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer
Führer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und
dadurch die Möglichkeit eines weitern Fortſchritts verräth. So haben
wir auf dem ethiſch-religiöſen Gebiet Aufgaben, aber wir ſuchen die
Wiſſenſchaften, die ihre Löſung ſichern; — auf der andern Seite, da-
gegen haben wir zahlreiche Wiſſenſchaftrn, die ſich aber ſtets im Kreiſe
herumdrehen, bis bald dieſer, bald jener von der Vorſehung eine neue
Aufgabe genannt und ſie ſo zu einem Fortſchritt befähigt wird.

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[221/0237] Menſchen, ſondern vielfach modificirt, nach unzähligen Abſtufungen in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünſtigungen. Sie iſt deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu löſenden Fragen, das bei Weitem Schwierigſte iſt und natürlich nur von dem eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig geſtellte Frage vorlag. Insbeſondere gilt dies nun aber für alle naturwiſſen- ſchaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung ſagen, fragt nur richtig, ſo bleibt die Naturwiſſenſchaft keine Antwort ſchuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch ſo be- ſchränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen ſo ſchwierig richtig zu ſtellen ſind. Es ſammeln ſich Reihen von Thatſachen, die ſichtbar verwandter Natur ſind; wird ihre Menge bedeutend ſo faßt man ſie in ſyſtematiſcher Ordnung zu einer ſogenannten Wiſſenſchaft zuſammen, aber die Forſcher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort- hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wiſſen- ſchaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünſtigter Glücklicher dazwiſchen und nennt das Räthſel, um deſſen Löſung man ſich ſchon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich richtet ſich alle geiſtige Kraft der Forſcher dieſem einen Punct zu, Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Riefenſchritten geht die Wiſſenſchaft vorwärts bis ſie wieder überall den Ausweg ver- ſchloſſen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer ſich ent- gegengeſtellt ſieht und nun auf höherer Stufe dieſelbe Entwicklungs- geſchichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer Führer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und dadurch die Möglichkeit eines weitern Fortſchritts verräth. So haben wir auf dem ethiſch-religiöſen Gebiet Aufgaben, aber wir ſuchen die Wiſſenſchaften, die ihre Löſung ſichern; — auf der andern Seite, da- gegen haben wir zahlreiche Wiſſenſchaftrn, die ſich aber ſtets im Kreiſe herumdrehen, bis bald dieſer, bald jener von der Vorſehung eine neue Aufgabe genannt und ſie ſo zu einem Fortſchritt befähigt wird.

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/237>, abgerufen am 24.11.2024.