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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Mit einem Blick übersehen wir den fröhlichen Tahitier, den stum-
pfen Feuerländer, den förmlichen Chinesen, den ungebundenen Be-
duinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den ab-
stracten Deutschen, den materiellen Yankee und alle diese und neben
ihnen die tausend andern Nüancirungen der menschlichen Natur sind
in ihren letzten Gründen abhängig, oder doch gefördert vom
Wetter. --

Ist es denn nur möglich, daß der Mensch diese seine Abhängig-
keit für längere Zeit vergessen kann? Und diese ungeheure Macht,
die Körper und Geist, das Leben des Einzelnen wie die Geschichte
der Menschheit beherrscht, sollte nicht ein würdiger Gegenstand des
Nachdenkens, der Unterhaltung seyn? -- Aber können wir wirklich
in diese Werkstatt der Natur eindringen, oder ist etwa der Gegen-
stand deshalb des Interesse's unwürdig, weil wir eben verdammt
sind bei ihm stets auf der Oberfläche zu bleiben? Unsere heiligen
Schriften sagen: Du hörst wohl des Windes Rauschen, aber du
weist nicht von wannen er kommt und wohin er fährt!

Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweisen, daß wir
Naturforscher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich ist es da-
bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das
Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb
richtiger auffassen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich
muß allerdings zugeben, daß, so weit es naturwissenschaftliche Fra-
gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen
können, vielmehr behaupten müssen, daß sie sich dabei auf einer
menschlich höchst beschränkten Stufe eines unwissenden und ungebil-
deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl
zu wissen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt.

Doch zunächst müssen wir bestimmter sagen, was wir unter
Wetter verstehen. Den Hauptpunkt habe ich schon genannt. Für un-
sere Gegenden ist es der Wind, der abwechselnd nach seinen verschie-
denen Richtungen uns Wolken und Sonnenschein, Wärme und Kälte,
Regen und Schnee, Ruhe und Gewittersturm bringt und durch al-

Mit einem Blick überſehen wir den fröhlichen Tahitier, den ſtum-
pfen Feuerländer, den förmlichen Chineſen, den ungebundenen Be-
duinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den ab-
ſtracten Deutſchen, den materiellen Yankee und alle dieſe und neben
ihnen die tauſend andern Nüancirungen der menſchlichen Natur ſind
in ihren letzten Gründen abhängig, oder doch gefördert vom
Wetter. —

Iſt es denn nur möglich, daß der Menſch dieſe ſeine Abhängig-
keit für längere Zeit vergeſſen kann? Und dieſe ungeheure Macht,
die Körper und Geiſt, das Leben des Einzelnen wie die Geſchichte
der Menſchheit beherrſcht, ſollte nicht ein würdiger Gegenſtand des
Nachdenkens, der Unterhaltung ſeyn? — Aber können wir wirklich
in dieſe Werkſtatt der Natur eindringen, oder iſt etwa der Gegen-
ſtand deshalb des Intereſſe's unwürdig, weil wir eben verdammt
ſind bei ihm ſtets auf der Oberfläche zu bleiben? Unſere heiligen
Schriften ſagen: Du hörſt wohl des Windes Rauſchen, aber du
weiſt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt!

Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweiſen, daß wir
Naturforſcher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich iſt es da-
bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das
Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb
richtiger auffaſſen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich
muß allerdings zugeben, daß, ſo weit es naturwiſſenſchaftliche Fra-
gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen
können, vielmehr behaupten müſſen, daß ſie ſich dabei auf einer
menſchlich höchſt beſchränkten Stufe eines unwiſſenden und ungebil-
deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl
zu wiſſen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt.

Doch zunächſt müſſen wir beſtimmter ſagen, was wir unter
Wetter verſtehen. Den Hauptpunkt habe ich ſchon genannt. Für un-
ſere Gegenden iſt es der Wind, der abwechſelnd nach ſeinen verſchie-
denen Richtungen uns Wolken und Sonnenſchein, Wärme und Kälte,
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[107/0123] Mit einem Blick überſehen wir den fröhlichen Tahitier, den ſtum- pfen Feuerländer, den förmlichen Chineſen, den ungebundenen Be- duinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den ab- ſtracten Deutſchen, den materiellen Yankee und alle dieſe und neben ihnen die tauſend andern Nüancirungen der menſchlichen Natur ſind in ihren letzten Gründen abhängig, oder doch gefördert vom Wetter. — Iſt es denn nur möglich, daß der Menſch dieſe ſeine Abhängig- keit für längere Zeit vergeſſen kann? Und dieſe ungeheure Macht, die Körper und Geiſt, das Leben des Einzelnen wie die Geſchichte der Menſchheit beherrſcht, ſollte nicht ein würdiger Gegenſtand des Nachdenkens, der Unterhaltung ſeyn? — Aber können wir wirklich in dieſe Werkſtatt der Natur eindringen, oder iſt etwa der Gegen- ſtand deshalb des Intereſſe's unwürdig, weil wir eben verdammt ſind bei ihm ſtets auf der Oberfläche zu bleiben? Unſere heiligen Schriften ſagen: Du hörſt wohl des Windes Rauſchen, aber du weiſt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt! Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweiſen, daß wir Naturforſcher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich iſt es da- bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb richtiger auffaſſen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich muß allerdings zugeben, daß, ſo weit es naturwiſſenſchaftliche Fra- gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen können, vielmehr behaupten müſſen, daß ſie ſich dabei auf einer menſchlich höchſt beſchränkten Stufe eines unwiſſenden und ungebil- deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl zu wiſſen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt. Doch zunächſt müſſen wir beſtimmter ſagen, was wir unter Wetter verſtehen. Den Hauptpunkt habe ich ſchon genannt. Für un- ſere Gegenden iſt es der Wind, der abwechſelnd nach ſeinen verſchie- denen Richtungen uns Wolken und Sonnenſchein, Wärme und Kälte, Regen und Schnee, Ruhe und Gewitterſturm bringt und durch al-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/123>, abgerufen am 24.11.2024.