Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.Dritte Vorlesung. sich offenbar auf ein Ding oder ein Wesen beziehen, welches nicht fürdie Sinne erfaßbar gegenwärtig ist. Dieser Trieb zu den (im weitesten Sinne des Worts sogenannten) religiösen Gebräuchen ist wohl ebenso¬ wenig ursprünglich wie der vorige, würde den Menschen aber ebenso¬ wenig als vom Thier wesentlich verschieden charakterisiren, als die Biene wegen des Honigbereitens, der Stichling (Fisch) wegen seines Nestbaues aufhört, Thier zu sein. Wir haben den Menschen jetzt betrachtet und beurtheilt, wie wir Dritte Vorleſung. ſich offenbar auf ein Ding oder ein Weſen beziehen, welches nicht fürdie Sinne erfaßbar gegenwärtig iſt. Dieſer Trieb zu den (im weiteſten Sinne des Worts ſogenannten) religiöſen Gebräuchen iſt wohl ebenſo¬ wenig urſprünglich wie der vorige, würde den Menſchen aber ebenſo¬ wenig als vom Thier weſentlich verſchieden charakteriſiren, als die Biene wegen des Honigbereitens, der Stichling (Fiſch) wegen ſeines Neſtbaues aufhört, Thier zu ſein. Wir haben den Menſchen jetzt betrachtet und beurtheilt, wie wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0066" n="56"/><fw place="top" type="header">Dritte Vorleſung.<lb/></fw> ſich offenbar auf ein Ding oder ein Weſen beziehen, welches nicht für<lb/> die Sinne erfaßbar gegenwärtig iſt. Dieſer Trieb zu den (im weiteſten<lb/> Sinne des Worts ſogenannten) religiöſen Gebräuchen iſt wohl ebenſo¬<lb/> wenig urſprünglich wie der vorige, würde den Menſchen aber ebenſo¬<lb/> wenig als vom Thier weſentlich verſchieden charakteriſiren, als die<lb/> Biene wegen des Honigbereitens, der Stichling (Fiſch) wegen ſeines<lb/> Neſtbaues aufhört, Thier zu ſein.</p><lb/> <p>Wir haben den Menſchen jetzt betrachtet und beurtheilt, wie wir<lb/> alles, was uns vorkommt in der Raumwelt allein betrachten können,<lb/> nämlich ganz objectiv, wie er uns, den Beobachtern, äußerlich gegen¬<lb/> übertritt. Sind wir damit am Ende? Giebt es keinen anderen Stand¬<lb/> punct der Betrachtung? Hätten wir einen Weltkörper, einen Kryſtall,<lb/> eine Pflanze, ein Thier zu beurtheilen, ſo lautete die Antwort: nein,<lb/> es giebt keinen anderen Standpunct, wir ſind am Ende. Mit dem<lb/> Menſchen iſt das aber anders, wir ſelbſt ſind Menſchen, und wir kön¬<lb/> nen unſeresgleichen nicht allein ſo auffaſſen, wie ſie uns äußerlich ge¬<lb/> genübertreten, ſondern wir können, ja wir müſſen ſogar den Menſchen<lb/> in uns ſelbſt, in unſerem eigenen Inneren beobachten und zu erkennen<lb/> ſuchen und da eröffnet ſich uns eine ganz neue Welt. Es iſt gewiß,<lb/> daß wir zunächſt und unmittelbar durch unſere Vorſtellungen zur Er¬<lb/> kenntniß der Außenwelt gelangen, erſt eine <hi rendition="#g">zweite</hi> Frage iſt die, ob<lb/> und inwiefern wir durch die Außenwelt zu unſeren Vorſtellungen kom¬<lb/> men. Zunächſt und unmittelbar findet ſich jeder Menſch nur in der<lb/> Welt ſeiner Vorſtellungen, wie weit dieſelben einer Außenwelt entſpre¬<lb/> chen, gehört einer folgenden und ſehr ſchwierigen Unterſuchung an,<lb/> denn es bedarf keiner großen Erfahrung, um einzuſehen, daß meine<lb/> Vorſtellungen durchaus nicht immer mit dem Sein der Außenwelt<lb/> übereinſtimmen und daß der Fehler bald hier bald dort liegt. Da ich<lb/> aber nur durch meine Vorſtellungen von der Außenwelt zur Kenntniß<lb/> derſelben komme, immer nur eine Vorſtellung von derſelben durch eine<lb/> andere (durch die Kritik einer durch die übrigen) unmittelbar verbeſſern<lb/> kann, nie durch die Unterſuchung der Außenwelt ſelbſt, von der ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [56/0066]
Dritte Vorleſung.
ſich offenbar auf ein Ding oder ein Weſen beziehen, welches nicht für
die Sinne erfaßbar gegenwärtig iſt. Dieſer Trieb zu den (im weiteſten
Sinne des Worts ſogenannten) religiöſen Gebräuchen iſt wohl ebenſo¬
wenig urſprünglich wie der vorige, würde den Menſchen aber ebenſo¬
wenig als vom Thier weſentlich verſchieden charakteriſiren, als die
Biene wegen des Honigbereitens, der Stichling (Fiſch) wegen ſeines
Neſtbaues aufhört, Thier zu ſein.
Wir haben den Menſchen jetzt betrachtet und beurtheilt, wie wir
alles, was uns vorkommt in der Raumwelt allein betrachten können,
nämlich ganz objectiv, wie er uns, den Beobachtern, äußerlich gegen¬
übertritt. Sind wir damit am Ende? Giebt es keinen anderen Stand¬
punct der Betrachtung? Hätten wir einen Weltkörper, einen Kryſtall,
eine Pflanze, ein Thier zu beurtheilen, ſo lautete die Antwort: nein,
es giebt keinen anderen Standpunct, wir ſind am Ende. Mit dem
Menſchen iſt das aber anders, wir ſelbſt ſind Menſchen, und wir kön¬
nen unſeresgleichen nicht allein ſo auffaſſen, wie ſie uns äußerlich ge¬
genübertreten, ſondern wir können, ja wir müſſen ſogar den Menſchen
in uns ſelbſt, in unſerem eigenen Inneren beobachten und zu erkennen
ſuchen und da eröffnet ſich uns eine ganz neue Welt. Es iſt gewiß,
daß wir zunächſt und unmittelbar durch unſere Vorſtellungen zur Er¬
kenntniß der Außenwelt gelangen, erſt eine zweite Frage iſt die, ob
und inwiefern wir durch die Außenwelt zu unſeren Vorſtellungen kom¬
men. Zunächſt und unmittelbar findet ſich jeder Menſch nur in der
Welt ſeiner Vorſtellungen, wie weit dieſelben einer Außenwelt entſpre¬
chen, gehört einer folgenden und ſehr ſchwierigen Unterſuchung an,
denn es bedarf keiner großen Erfahrung, um einzuſehen, daß meine
Vorſtellungen durchaus nicht immer mit dem Sein der Außenwelt
übereinſtimmen und daß der Fehler bald hier bald dort liegt. Da ich
aber nur durch meine Vorſtellungen von der Außenwelt zur Kenntniß
derſelben komme, immer nur eine Vorſtellung von derſelben durch eine
andere (durch die Kritik einer durch die übrigen) unmittelbar verbeſſern
kann, nie durch die Unterſuchung der Außenwelt ſelbſt, von der ich
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Zitationshilfe: | Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/66>, abgerufen am 16.02.2025. |