und Entfernung von dem gemeinschaftlichen Ur- quell, entstand der Begriff von der Seelen- wanderung. Noch verwandt damit und eben- falls ein wesentlicher Bestandtheil desselben Sy- stems ist die Lehre von einem vorigen Leben, von der Präexistenz der Seelen, und von den Ideen oder höheren Gedanken aus dunkler Er- innerung der im vorigen Zustande angeschauten göttlichen Vollkommenheit, die besonders beim Anblick des Schönen wieder rege wird; eine Leh- re, auf die sich Kalidas in der Sokuntola, einem Volks-Schauspiele, als auf eine allgemein be- kannte, und ganz populäre Vorstellungsart be- zieht und anspielt. Wo diese Seelenwanderung nicht bloß physisch gemeint, sondern mit der Mei- nung von der moralischen Verderbniß und Un- seeligkeit aller Wesen, und nothwendigen Rei- nigung und Rückkehr zu Gott verbunden ist, da ist sie sicher aus diesem System entlehnt, und also indischen Ursprungs. Auf diese Weise fin- den wir in der Lehre des Pythagoras den Be- griff der Metempsychose mit allen seinen orien- talischen Nebenbestimmungen zum sichern Be- weise, daß es keine hellenische Erfindung war,
und Entfernung von dem gemeinſchaftlichen Ur- quell, entſtand der Begriff von der Seelen- wanderung. Noch verwandt damit und eben- falls ein weſentlicher Beſtandtheil deſſelben Sy- ſtems iſt die Lehre von einem vorigen Leben, von der Praͤexiſtenz der Seelen, und von den Ideen oder hoͤheren Gedanken aus dunkler Er- innerung der im vorigen Zuſtande angeſchauten goͤttlichen Vollkommenheit, die beſonders beim Anblick des Schoͤnen wieder rege wird; eine Leh- re, auf die ſich Kalidas in der Sokuntola, einem Volks-Schauſpiele, als auf eine allgemein be- kannte, und ganz populaͤre Vorſtellungsart be- zieht und anſpielt. Wo dieſe Seelenwanderung nicht bloß phyſiſch gemeint, ſondern mit der Mei- nung von der moraliſchen Verderbniß und Un- ſeeligkeit aller Weſen, und nothwendigen Rei- nigung und Ruͤckkehr zu Gott verbunden iſt, da iſt ſie ſicher aus dieſem Syſtem entlehnt, und alſo indiſchen Urſprungs. Auf dieſe Weiſe fin- den wir in der Lehre des Pythagoras den Be- griff der Metempſychoſe mit allen ſeinen orien- taliſchen Nebenbeſtimmungen zum ſichern Be- weiſe, daß es keine helleniſche Erfindung war,
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und Entfernung von dem gemeinſchaftlichen Ur-
quell, entſtand der Begriff von der Seelen-
wanderung. Noch verwandt damit und eben-
falls ein weſentlicher Beſtandtheil deſſelben Sy-
ſtems iſt die Lehre von einem vorigen Leben,
von der Praͤexiſtenz der Seelen, und von den
Ideen oder hoͤheren Gedanken aus dunkler Er-
innerung der im vorigen Zuſtande angeſchauten
goͤttlichen Vollkommenheit, die beſonders beim
Anblick des Schoͤnen wieder rege wird; eine Leh-
re, auf die ſich Kalidas in der Sokuntola, einem
Volks-Schauſpiele, als auf eine allgemein be-
kannte, und ganz populaͤre Vorſtellungsart be-
zieht und anſpielt. Wo dieſe Seelenwanderung
nicht bloß phyſiſch gemeint, ſondern mit der Mei-
nung von der moraliſchen Verderbniß und Un-
ſeeligkeit aller Weſen, und nothwendigen Rei-
nigung und Ruͤckkehr zu Gott verbunden iſt,
da iſt ſie ſicher aus dieſem Syſtem entlehnt, und
alſo indiſchen Urſprungs. Auf dieſe Weiſe fin-
den wir in der Lehre des Pythagoras den Be-
griff der Metempſychoſe mit allen ſeinen orien-
taliſchen Nebenbeſtimmungen zum ſichern Be-
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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/130>, abgerufen am 23.11.2024.
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