Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.lesen können. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vielem Behagen und Vergnügen in den Verdauungsstunden genießen können, und auch zu den härtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker bedürfen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die Didaktischen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden. Es wird sich auch hier bewähren, was ich in prophetischem Geiste in den ersten Fragmenten als Maxime aufgestellt habe: "Eine classische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen." Die große Scheidung des Verstandes und des Unverstandes wird immer allgemeiner, heftiger und klarer werden. Noch viel verborgne Unverständlichkeit wird ausbrechen müssen. Aber auch der Verstand wird seine Allmacht zeigen; er der das Gemüth zum Charakter, das Talent zum Genie adelt, das Gefühl und die Anschauung zur Kunst läutert; er selbst wird verstanden werden, und man wird es endlich einsehen und eingestehen müssen, daß jeder das Höchste erwerben kann und daß die Menschheit bis jetzt weder boshaft noch dumm, sondern nur ungeschickt und neu war. Jch thue mir Einhalt um die Verehrung der höchsten Gottheit nicht vor der Zeit zu entweihen. Aber die großen Grundsätze, die Gesinnungen, worauf es dabey ankommt, dürfen ohne Entweihung mitgetheilt lesen koͤnnen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vielem Behagen und Vergnuͤgen in den Verdauungsstunden genießen koͤnnen, und auch zu den haͤrtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker beduͤrfen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die Didaktischen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden. Es wird sich auch hier bewaͤhren, was ich in prophetischem Geiste in den ersten Fragmenten als Maxime aufgestellt habe: “Eine classische Schrift muß nie ganz verstanden werden koͤnnen. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, muͤssen immer mehr draus lernen wollen.” Die große Scheidung des Verstandes und des Unverstandes wird immer allgemeiner, heftiger und klarer werden. Noch viel verborgne Unverstaͤndlichkeit wird ausbrechen muͤssen. Aber auch der Verstand wird seine Allmacht zeigen; er der das Gemuͤth zum Charakter, das Talent zum Genie adelt, das Gefuͤhl und die Anschauung zur Kunst laͤutert; er selbst wird verstanden werden, und man wird es endlich einsehen und eingestehen muͤssen, daß jeder das Hoͤchste erwerben kann und daß die Menschheit bis jetzt weder boshaft noch dumm, sondern nur ungeschickt und neu war. Jch thue mir Einhalt um die Verehrung der hoͤchsten Gottheit nicht vor der Zeit zu entweihen. Aber die großen Grundsaͤtze, die Gesinnungen, worauf es dabey ankommt, duͤrfen ohne Entweihung mitgetheilt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0364" n="352"/> lesen koͤnnen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vielem Behagen und Vergnuͤgen in den Verdauungsstunden genießen koͤnnen, und auch zu den haͤrtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker beduͤrfen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die Didaktischen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden. Es wird sich auch hier bewaͤhren, was ich in prophetischem Geiste in den ersten Fragmenten als Maxime aufgestellt habe:</p><lb/> <p> <hi rendition="#et">“Eine classische Schrift muß nie ganz verstanden werden koͤnnen. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, muͤssen immer mehr draus lernen wollen.”</hi> </p><lb/> <p>Die große Scheidung des Verstandes und des Unverstandes wird immer allgemeiner, heftiger und klarer werden. Noch viel verborgne Unverstaͤndlichkeit wird ausbrechen muͤssen. Aber auch der Verstand wird seine Allmacht zeigen; er der das Gemuͤth zum Charakter, das Talent zum Genie adelt, das Gefuͤhl und die Anschauung zur Kunst laͤutert; er selbst wird verstanden werden, und man wird es endlich einsehen und eingestehen muͤssen, daß jeder das Hoͤchste erwerben kann und daß die Menschheit bis jetzt weder boshaft noch dumm, sondern nur ungeschickt und neu war. Jch thue mir Einhalt um die Verehrung der hoͤchsten Gottheit nicht vor der Zeit zu entweihen. Aber die großen Grundsaͤtze, die Gesinnungen, worauf es dabey ankommt, duͤrfen ohne Entweihung mitgetheilt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [352/0364]
lesen koͤnnen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vielem Behagen und Vergnuͤgen in den Verdauungsstunden genießen koͤnnen, und auch zu den haͤrtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker beduͤrfen. Jm neunzehnten Jahrhundert wird jeder Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die Didaktischen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden. Es wird sich auch hier bewaͤhren, was ich in prophetischem Geiste in den ersten Fragmenten als Maxime aufgestellt habe:
“Eine classische Schrift muß nie ganz verstanden werden koͤnnen. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, muͤssen immer mehr draus lernen wollen.”
Die große Scheidung des Verstandes und des Unverstandes wird immer allgemeiner, heftiger und klarer werden. Noch viel verborgne Unverstaͤndlichkeit wird ausbrechen muͤssen. Aber auch der Verstand wird seine Allmacht zeigen; er der das Gemuͤth zum Charakter, das Talent zum Genie adelt, das Gefuͤhl und die Anschauung zur Kunst laͤutert; er selbst wird verstanden werden, und man wird es endlich einsehen und eingestehen muͤssen, daß jeder das Hoͤchste erwerben kann und daß die Menschheit bis jetzt weder boshaft noch dumm, sondern nur ungeschickt und neu war. Jch thue mir Einhalt um die Verehrung der hoͤchsten Gottheit nicht vor der Zeit zu entweihen. Aber die großen Grundsaͤtze, die Gesinnungen, worauf es dabey ankommt, duͤrfen ohne Entweihung mitgetheilt
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/364>, abgerufen am 16.02.2025. |