Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Factum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Factum, und eben darum ists leere Arbeit, es motiviren zu wollen, es müßte denn das Motiv selbst ein neues Factum oder eine nähere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch für die Wirkung nach Außen, wo eben nichts übrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturtheil nicht möglich wäre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegentheil aller Kunst und alles Urtheils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so künstlich zubereiteten Mittheilung eines Kunsturtheils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck eben so rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgetheilten der Mühe werth achte, darüber zu reflectiren, ob er damit übereinstimmen könne, um ihn in diesem Falle frey- und bereitwillig anzuerkennen. Antonio. Und wenn wir nun nicht übereinstimmen, so heißt es am Ende: Jch liebe das Süße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegentheil, mir schmeckt das Bittre besser. Lothario. Es darf über manches Einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr möglich. Und ich denke, wenn jene historische ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Factum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Factum, und eben darum ists leere Arbeit, es motiviren zu wollen, es muͤßte denn das Motiv selbst ein neues Factum oder eine naͤhere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch fuͤr die Wirkung nach Außen, wo eben nichts uͤbrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturtheil nicht moͤglich waͤre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegentheil aller Kunst und alles Urtheils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so kuͤnstlich zubereiteten Mittheilung eines Kunsturtheils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck eben so rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgetheilten der Muͤhe werth achte, daruͤber zu reflectiren, ob er damit uͤbereinstimmen koͤnne, um ihn in diesem Falle frey- und bereitwillig anzuerkennen. Antonio. Und wenn wir nun nicht uͤbereinstimmen, so heißt es am Ende: Jch liebe das Suͤße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegentheil, mir schmeckt das Bittre besser. Lothario. Es darf uͤber manches Einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr moͤglich. Und ich denke, wenn jene historische <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0196" n="184"/> ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Factum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Factum, und eben darum ists leere Arbeit, es motiviren zu wollen, es muͤßte denn das Motiv selbst ein neues Factum oder eine naͤhere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch fuͤr die Wirkung nach Außen, wo eben nichts uͤbrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturtheil nicht moͤglich waͤre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegentheil aller Kunst und alles Urtheils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so kuͤnstlich zubereiteten Mittheilung eines Kunsturtheils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck eben so rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgetheilten der Muͤhe werth achte, daruͤber zu reflectiren, ob er damit uͤbereinstimmen koͤnne, um ihn in diesem Falle frey- und bereitwillig anzuerkennen.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Antonio</hi>. Und wenn wir nun nicht uͤbereinstimmen, so heißt es am Ende: Jch liebe das Suͤße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegentheil, mir schmeckt das Bittre besser.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Lothario</hi>. Es darf uͤber manches Einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr moͤglich. Und ich denke, wenn jene historische </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [184/0196]
ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Factum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Factum, und eben darum ists leere Arbeit, es motiviren zu wollen, es muͤßte denn das Motiv selbst ein neues Factum oder eine naͤhere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch fuͤr die Wirkung nach Außen, wo eben nichts uͤbrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturtheil nicht moͤglich waͤre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegentheil aller Kunst und alles Urtheils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so kuͤnstlich zubereiteten Mittheilung eines Kunsturtheils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck eben so rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgetheilten der Muͤhe werth achte, daruͤber zu reflectiren, ob er damit uͤbereinstimmen koͤnne, um ihn in diesem Falle frey- und bereitwillig anzuerkennen.
Antonio. Und wenn wir nun nicht uͤbereinstimmen, so heißt es am Ende: Jch liebe das Suͤße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegentheil, mir schmeckt das Bittre besser.
Lothario. Es darf uͤber manches Einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr moͤglich. Und ich denke, wenn jene historische
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/196>, abgerufen am 16.02.2025. |