Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.Jnbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu überschauen. Der Dichter mag seinem eigenthümlichen Geschmacke folgen, und selbst für den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntniß gelangen will, muß das Bestreben fühlen, den Dichter selbst zu verstehen, d. h. die Geschichte seines Geistes, so weit dieß möglich ist, zu ergründen. Es kann dieses freylich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklärt und aufhellt. Es ist nicht möglich, einen Theil für sich zu verstehen; d. h. es ist unverständig, ihn nur im Einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntniß dieser Art nur Annäherung und Stückwerk. Aber ganz aufgeben dürfen und können wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annäherung, dieses Stückwerk ein wesentlicher Bestandtheil zur Ausbildung des Künstlers ist. Es muß diese nothwendige Unvollständigkeit um so mehr eintreten bey der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Künstler als Künstler zu verstehen streben, und dieß kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so müssen wir ihn eben so beurtheilen, als ob er ein Alter wäre; ja er muß es für uns im Augenblick der Beurtheilung gewissermaßen werden. Unwürdig aber wäre es, den Jnbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu uͤberschauen. Der Dichter mag seinem eigenthuͤmlichen Geschmacke folgen, und selbst fuͤr den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntniß gelangen will, muß das Bestreben fuͤhlen, den Dichter selbst zu verstehen, d. h. die Geschichte seines Geistes, so weit dieß moͤglich ist, zu ergruͤnden. Es kann dieses freylich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklaͤrt und aufhellt. Es ist nicht moͤglich, einen Theil fuͤr sich zu verstehen; d. h. es ist unverstaͤndig, ihn nur im Einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntniß dieser Art nur Annaͤherung und Stuͤckwerk. Aber ganz aufgeben duͤrfen und koͤnnen wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annaͤherung, dieses Stuͤckwerk ein wesentlicher Bestandtheil zur Ausbildung des Kuͤnstlers ist. Es muß diese nothwendige Unvollstaͤndigkeit um so mehr eintreten bey der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Kuͤnstler als Kuͤnstler zu verstehen streben, und dieß kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so muͤssen wir ihn eben so beurtheilen, als ob er ein Alter waͤre; ja er muß es fuͤr uns im Augenblick der Beurtheilung gewissermaßen werden. Unwuͤrdig aber waͤre es, den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0183" n="171"/> Jnbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu uͤberschauen.</p><lb/> <p>Der Dichter mag seinem eigenthuͤmlichen Geschmacke folgen, und selbst fuͤr den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntniß gelangen will, muß das Bestreben fuͤhlen, den Dichter selbst zu verstehen, d. h. die Geschichte seines Geistes, so weit dieß moͤglich ist, zu ergruͤnden. Es kann dieses freylich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklaͤrt und aufhellt. Es ist nicht moͤglich, einen Theil fuͤr sich zu verstehen; d. h. es ist unverstaͤndig, ihn nur im Einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntniß dieser Art nur Annaͤherung und Stuͤckwerk. Aber ganz aufgeben duͤrfen und koͤnnen wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annaͤherung, dieses Stuͤckwerk ein wesentlicher Bestandtheil zur Ausbildung des Kuͤnstlers ist.</p><lb/> <p>Es muß diese nothwendige Unvollstaͤndigkeit um so mehr eintreten bey der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Kuͤnstler als Kuͤnstler zu verstehen streben, und dieß kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so muͤssen wir ihn eben so beurtheilen, als ob er ein Alter waͤre; ja er muß es fuͤr uns im Augenblick der Beurtheilung gewissermaßen werden. Unwuͤrdig aber waͤre es, den </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [171/0183]
Jnbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu uͤberschauen.
Der Dichter mag seinem eigenthuͤmlichen Geschmacke folgen, und selbst fuͤr den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntniß gelangen will, muß das Bestreben fuͤhlen, den Dichter selbst zu verstehen, d. h. die Geschichte seines Geistes, so weit dieß moͤglich ist, zu ergruͤnden. Es kann dieses freylich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklaͤrt und aufhellt. Es ist nicht moͤglich, einen Theil fuͤr sich zu verstehen; d. h. es ist unverstaͤndig, ihn nur im Einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntniß dieser Art nur Annaͤherung und Stuͤckwerk. Aber ganz aufgeben duͤrfen und koͤnnen wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annaͤherung, dieses Stuͤckwerk ein wesentlicher Bestandtheil zur Ausbildung des Kuͤnstlers ist.
Es muß diese nothwendige Unvollstaͤndigkeit um so mehr eintreten bey der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Kuͤnstler als Kuͤnstler zu verstehen streben, und dieß kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so muͤssen wir ihn eben so beurtheilen, als ob er ein Alter waͤre; ja er muß es fuͤr uns im Augenblick der Beurtheilung gewissermaßen werden. Unwuͤrdig aber waͤre es, den
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/183>, abgerufen am 27.07.2024. |