Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.

Bild:
<< vorherige Seite

Gesellschaft mehrere Jahre lang: es wird aber doch sehr künstlicher Weise so eingerichtet, daß sie immerwährend gesehn und beobachtet wird; sie ist unaufhörlich von einem ihrer geheimen Anbeter unsichtbar umgeben, der ihre geheimsten Bewegungen sogar des Nachts in ihrem Zimmer bemerkt. Zwar liegt dieses so hoch, daß man von draußen nicht gradezu hinein sehn kann: aber der Liebhaber der Jahre lang weder schläft noch ißt, um in immer neuen Verkleidungen unaufhörlich um das Schloß zu schleichen, kann doch wenigstens am Schatten ihrer Gestalt und ihrer langen Haare, der am Plafond sichtbar ist, wahrnehmen, daß sie unruhig auf und abgehe. Auf jedem noch so einsamen Spaziergang muß sie entdeckt und gesehn werden. -- Diese Eitelkeit ist mit der devotesten Ehrfurcht dargestellt und der Schleyer der ausgelassensten Prüderie über sie gehängt. Und welche Prätensionen an die Männer! Es ist naiv so etwas zu gestehen, als wäre es sehr tugendhaft. Die Darstellung in einzelnen Szenen ist von hinreißender Lebhaftigkeit: aber Thränenströme durchwässern das ganze Buch auf eine höchst traurige Art. Alles ist auf gut Parisisch künstlich darin: Felder und Wälder, Wasser und Brücken, Bauern und Bauernhochzeiten, sogar die Kühe dieser Bauern und die ganze Natur. Jn dieser Krankenluft der Verhältnisse athmet die Liebe nur mit großer Beängstigung, und verwegen ist in dem Buche nichts so sehr, als daß es sich an die Liebe wagte. Seine moralische Absicht ist übrigens nur zu zeigen: daß es für einen Mann gefährlich sey, ein Maltheserritter

Gesellschaft mehrere Jahre lang: es wird aber doch sehr kuͤnstlicher Weise so eingerichtet, daß sie immerwaͤhrend gesehn und beobachtet wird; sie ist unaufhoͤrlich von einem ihrer geheimen Anbeter unsichtbar umgeben, der ihre geheimsten Bewegungen sogar des Nachts in ihrem Zimmer bemerkt. Zwar liegt dieses so hoch, daß man von draußen nicht gradezu hinein sehn kann: aber der Liebhaber der Jahre lang weder schlaͤft noch ißt, um in immer neuen Verkleidungen unaufhoͤrlich um das Schloß zu schleichen, kann doch wenigstens am Schatten ihrer Gestalt und ihrer langen Haare, der am Plafond sichtbar ist, wahrnehmen, daß sie unruhig auf und abgehe. Auf jedem noch so einsamen Spaziergang muß sie entdeckt und gesehn werden. — Diese Eitelkeit ist mit der devotesten Ehrfurcht dargestellt und der Schleyer der ausgelassensten Pruͤderie uͤber sie gehaͤngt. Und welche Praͤtensionen an die Maͤnner! Es ist naiv so etwas zu gestehen, als waͤre es sehr tugendhaft. Die Darstellung in einzelnen Szenen ist von hinreißender Lebhaftigkeit: aber Thraͤnenstroͤme durchwaͤssern das ganze Buch auf eine hoͤchst traurige Art. Alles ist auf gut Parisisch kuͤnstlich darin: Felder und Waͤlder, Wasser und Bruͤcken, Bauern und Bauernhochzeiten, sogar die Kuͤhe dieser Bauern und die ganze Natur. Jn dieser Krankenluft der Verhaͤltnisse athmet die Liebe nur mit großer Beaͤngstigung, und verwegen ist in dem Buche nichts so sehr, als daß es sich an die Liebe wagte. Seine moralische Absicht ist uͤbrigens nur zu zeigen: daß es fuͤr einen Mann gefaͤhrlich sey, ein Maltheserritter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0333" n="323"/>
Gesellschaft mehrere Jahre lang: es wird aber doch sehr ku&#x0364;nstlicher Weise so eingerichtet, daß sie immerwa&#x0364;hrend gesehn und beobachtet wird; sie ist unaufho&#x0364;rlich von einem ihrer geheimen Anbeter unsichtbar umgeben, der ihre geheimsten Bewegungen sogar des Nachts in ihrem Zimmer bemerkt. Zwar liegt dieses so hoch, daß man von draußen nicht gradezu hinein sehn kann: aber der Liebhaber der Jahre lang weder schla&#x0364;ft noch ißt, um in immer neuen Verkleidungen unaufho&#x0364;rlich um das Schloß zu schleichen, kann doch wenigstens am Schatten ihrer Gestalt und ihrer langen Haare, der am Plafond sichtbar ist, wahrnehmen, daß sie unruhig auf und abgehe. Auf jedem noch so einsamen Spaziergang muß sie entdeckt und gesehn werden. &#x2014; Diese Eitelkeit ist mit der devotesten Ehrfurcht dargestellt und der Schleyer der ausgelassensten Pru&#x0364;derie u&#x0364;ber sie geha&#x0364;ngt. Und welche Pra&#x0364;tensionen an die Ma&#x0364;nner! Es ist naiv so etwas zu gestehen, als wa&#x0364;re es sehr tugendhaft. Die Darstellung in einzelnen Szenen ist von hinreißender Lebhaftigkeit: aber Thra&#x0364;nenstro&#x0364;me durchwa&#x0364;ssern das ganze Buch auf eine ho&#x0364;chst traurige Art. Alles ist auf gut Parisisch ku&#x0364;nstlich darin: Felder und Wa&#x0364;lder, Wasser und Bru&#x0364;cken, Bauern und Bauernhochzeiten, sogar die Ku&#x0364;he dieser Bauern und die ganze Natur. Jn dieser Krankenluft der Verha&#x0364;ltnisse athmet die Liebe nur mit großer Bea&#x0364;ngstigung, und verwegen ist in dem Buche nichts so sehr, als daß es sich an die Liebe wagte. Seine moralische Absicht ist u&#x0364;brigens nur zu zeigen: daß es fu&#x0364;r einen Mann gefa&#x0364;hrlich sey, ein Maltheserritter
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0333] Gesellschaft mehrere Jahre lang: es wird aber doch sehr kuͤnstlicher Weise so eingerichtet, daß sie immerwaͤhrend gesehn und beobachtet wird; sie ist unaufhoͤrlich von einem ihrer geheimen Anbeter unsichtbar umgeben, der ihre geheimsten Bewegungen sogar des Nachts in ihrem Zimmer bemerkt. Zwar liegt dieses so hoch, daß man von draußen nicht gradezu hinein sehn kann: aber der Liebhaber der Jahre lang weder schlaͤft noch ißt, um in immer neuen Verkleidungen unaufhoͤrlich um das Schloß zu schleichen, kann doch wenigstens am Schatten ihrer Gestalt und ihrer langen Haare, der am Plafond sichtbar ist, wahrnehmen, daß sie unruhig auf und abgehe. Auf jedem noch so einsamen Spaziergang muß sie entdeckt und gesehn werden. — Diese Eitelkeit ist mit der devotesten Ehrfurcht dargestellt und der Schleyer der ausgelassensten Pruͤderie uͤber sie gehaͤngt. Und welche Praͤtensionen an die Maͤnner! Es ist naiv so etwas zu gestehen, als waͤre es sehr tugendhaft. Die Darstellung in einzelnen Szenen ist von hinreißender Lebhaftigkeit: aber Thraͤnenstroͤme durchwaͤssern das ganze Buch auf eine hoͤchst traurige Art. Alles ist auf gut Parisisch kuͤnstlich darin: Felder und Waͤlder, Wasser und Bruͤcken, Bauern und Bauernhochzeiten, sogar die Kuͤhe dieser Bauern und die ganze Natur. Jn dieser Krankenluft der Verhaͤltnisse athmet die Liebe nur mit großer Beaͤngstigung, und verwegen ist in dem Buche nichts so sehr, als daß es sich an die Liebe wagte. Seine moralische Absicht ist uͤbrigens nur zu zeigen: daß es fuͤr einen Mann gefaͤhrlich sey, ein Maltheserritter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/333
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/333>, abgerufen am 16.07.2024.