Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Streben beseelt werden. Jn dieser Art hat Winkelmann einige große Blicke gethan, er war dem Genius der bildenden Kunst und Poesie zugleich auf die Spur gekommen. Allein wie die Zeit ihren vortrefflichen Krebsgang immer nicht ganz verlernen kann, so ist auch kürzlich ein Archäologe aufgetreten, der beyde gleich vollkommen mißversteht, und deswegen Winkelmann darüber zurecht weisen will. Er hat entdeckt, das Wesen der alten Kunst bestehe bloß in treuer Charakteristik; um Schönheit, edle Einfalt und stille Größe sey es dabey gar nicht zu thun gewesen. Wir geben das ganze Argument zu: für einen Kenner, den die Natur zu etwas gröberen Geschäften bestimmt zu haben scheint, als Myrons berühmte Kuh zu weiden, sind diese Dinge allerdings gar nicht vorhanden. Er ist mit einer so schweren unbeholfenen Oberflächlichkeit (ich bilde diese Beywörter nach dem Muster der "rohen rastlosen Ruhe," die eben dieser Antiquar*) am Herkules bewundert) auf die Denkmäler der griechischen Kunst hineingetappt, daß er ihren Geist gewiß todt gedrückt hätte, wenn Geister nicht unsterblich wären. Man könnte seine, in so fern wirklich neue, Betrachtungsart der Kunstwerke die chirurgische nennen, denn sie geht überall auf Leibesgebrechen und Unförmlichkeiten aus, und nach seiner Versicherung**), erscheint "das klassische Alterthum bald *) Horen 1797. St. X. S. 19. **) Berlin. Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. 1798. St. XI. S. 439.
Streben beseelt werden. Jn dieser Art hat Winkelmann einige große Blicke gethan, er war dem Genius der bildenden Kunst und Poesie zugleich auf die Spur gekommen. Allein wie die Zeit ihren vortrefflichen Krebsgang immer nicht ganz verlernen kann, so ist auch kuͤrzlich ein Archaͤologe aufgetreten, der beyde gleich vollkommen mißversteht, und deswegen Winkelmann daruͤber zurecht weisen will. Er hat entdeckt, das Wesen der alten Kunst bestehe bloß in treuer Charakteristik; um Schoͤnheit, edle Einfalt und stille Groͤße sey es dabey gar nicht zu thun gewesen. Wir geben das ganze Argument zu: fuͤr einen Kenner, den die Natur zu etwas groͤberen Geschaͤften bestimmt zu haben scheint, als Myrons beruͤhmte Kuh zu weiden, sind diese Dinge allerdings gar nicht vorhanden. Er ist mit einer so schweren unbeholfenen Oberflaͤchlichkeit (ich bilde diese Beywoͤrter nach dem Muster der “rohen rastlosen Ruhe,” die eben dieser Antiquar*) am Herkules bewundert) auf die Denkmaͤler der griechischen Kunst hineingetappt, daß er ihren Geist gewiß todt gedruͤckt haͤtte, wenn Geister nicht unsterblich waͤren. Man koͤnnte seine, in so fern wirklich neue, Betrachtungsart der Kunstwerke die chirurgische nennen, denn sie geht uͤberall auf Leibesgebrechen und Unfoͤrmlichkeiten aus, und nach seiner Versicherung**), erscheint “das klassische Alterthum bald *) Horen 1797. St. X. S. 19. **) Berlin. Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. 1798. St. XI. S. 439.
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Streben beseelt werden. Jn dieser Art hat Winkelmann einige große Blicke gethan, er war dem Genius der bildenden Kunst und Poesie zugleich auf die Spur gekommen. Allein wie die Zeit ihren vortrefflichen Krebsgang immer nicht ganz verlernen kann, so ist auch kuͤrzlich ein Archaͤologe aufgetreten, der beyde gleich vollkommen mißversteht, und deswegen Winkelmann daruͤber zurecht weisen will. Er hat entdeckt, das Wesen der alten Kunst bestehe bloß in treuer Charakteristik; um Schoͤnheit, edle Einfalt und stille Groͤße sey es dabey gar nicht zu thun gewesen. Wir geben das ganze Argument zu: fuͤr einen Kenner, den die Natur zu etwas groͤberen Geschaͤften bestimmt zu haben scheint, als Myrons beruͤhmte Kuh zu weiden, sind diese Dinge allerdings gar nicht vorhanden. Er ist mit einer so schweren unbeholfenen Oberflaͤchlichkeit (ich bilde diese Beywoͤrter nach dem Muster der “rohen rastlosen Ruhe,” die eben dieser Antiquar *) am Herkules bewundert) auf die Denkmaͤler der griechischen Kunst hineingetappt, daß er ihren Geist gewiß todt gedruͤckt haͤtte, wenn Geister nicht unsterblich waͤren. Man koͤnnte seine, in so fern wirklich neue, Betrachtungsart der Kunstwerke die chirurgische nennen, denn sie geht uͤberall auf Leibesgebrechen und Unfoͤrmlichkeiten aus, und nach seiner Versicherung **), erscheint “das klassische Alterthum bald
*) Horen 1797. St. X. S. 19.
**) Berlin. Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. 1798. St. XI. S. 439.
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