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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.

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vortrefflich seyn, und keinen einzigen tauglichen Moment für die mahlerische Darstellung enthalten. Es würde hingegen keine sonderliche Tiefe verrathen, wenn sich alles darin sichtbar machen ließe. Grade das bedeutendste kann oft in der äußern Erscheinung am wenigsten mit Evidenz hervortreten. Der Roman ist bestimmt, die zarteren Geheimnisse des Lebens, die nie vollständig ausgesprochen werden können, in reizenden Sinnbildern errathen zu lassen. Die Poesie schmiegt sich hier vertraulich an die Wirklichkeit an, und haucht ihr eine höhere Seele ein. Es ist nicht mehr die bloße Wirklichkeit, aber sie soll es noch scheinen. Es giebt keine Brücke, die den bildenden Künstler aus seinem Gebiet in den Mittelpunkt einer solchen Dichtung hinüberführen könnte, und so sollte er sich auch für zu gut halten, um an ihren äußersten Gränzen herumzuschleichen.

Wo der Dichter dem Zeichner eigentlich die Hand bietet, wo bestimmter Umriß und Gruppirung für die Fantasie ist, wo sich schöne kräftige Gestalten, nicht von zweifelhafter oder verwickelter Deutung, in idealischem Kostum entschieden bewegen: da wird der Wink selten verstanden und benutzt. Welch eine Reihe von Bildern ließe sich nach dem neuen Pausias und seinem Blumenmädchen entwerfen! Das Getümmel des Gastmahls könnte von der ruhigeren Gruppe des Sängers und seiner Geliebten eingefaßt werden, wie er von ihren Blumenketten umstrickt ihr zu Füßen sitzt; und selbst in dieser Gruppe würde der empfindsame Blick eine Mannichfaltigkeit von Wendungen und Abstufungen sehn, die ohne Wiederhohlung in mehrern Bildern entfaltet

vortrefflich seyn, und keinen einzigen tauglichen Moment fuͤr die mahlerische Darstellung enthalten. Es wuͤrde hingegen keine sonderliche Tiefe verrathen, wenn sich alles darin sichtbar machen ließe. Grade das bedeutendste kann oft in der aͤußern Erscheinung am wenigsten mit Evidenz hervortreten. Der Roman ist bestimmt, die zarteren Geheimnisse des Lebens, die nie vollstaͤndig ausgesprochen werden koͤnnen, in reizenden Sinnbildern errathen zu lassen. Die Poesie schmiegt sich hier vertraulich an die Wirklichkeit an, und haucht ihr eine hoͤhere Seele ein. Es ist nicht mehr die bloße Wirklichkeit, aber sie soll es noch scheinen. Es giebt keine Bruͤcke, die den bildenden Kuͤnstler aus seinem Gebiet in den Mittelpunkt einer solchen Dichtung hinuͤberfuͤhren koͤnnte, und so sollte er sich auch fuͤr zu gut halten, um an ihren aͤußersten Graͤnzen herumzuschleichen.

Wo der Dichter dem Zeichner eigentlich die Hand bietet, wo bestimmter Umriß und Gruppirung fuͤr die Fantasie ist, wo sich schoͤne kraͤftige Gestalten, nicht von zweifelhafter oder verwickelter Deutung, in idealischem Kostum entschieden bewegen: da wird der Wink selten verstanden und benutzt. Welch eine Reihe von Bildern ließe sich nach dem neuen Pausias und seinem Blumenmaͤdchen entwerfen! Das Getuͤmmel des Gastmahls koͤnnte von der ruhigeren Gruppe des Saͤngers und seiner Geliebten eingefaßt werden, wie er von ihren Blumenketten umstrickt ihr zu Fuͤßen sitzt; und selbst in dieser Gruppe wuͤrde der empfindsame Blick eine Mannichfaltigkeit von Wendungen und Abstufungen sehn, die ohne Wiederhohlung in mehrern Bildern entfaltet

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[201/0211] vortrefflich seyn, und keinen einzigen tauglichen Moment fuͤr die mahlerische Darstellung enthalten. Es wuͤrde hingegen keine sonderliche Tiefe verrathen, wenn sich alles darin sichtbar machen ließe. Grade das bedeutendste kann oft in der aͤußern Erscheinung am wenigsten mit Evidenz hervortreten. Der Roman ist bestimmt, die zarteren Geheimnisse des Lebens, die nie vollstaͤndig ausgesprochen werden koͤnnen, in reizenden Sinnbildern errathen zu lassen. Die Poesie schmiegt sich hier vertraulich an die Wirklichkeit an, und haucht ihr eine hoͤhere Seele ein. Es ist nicht mehr die bloße Wirklichkeit, aber sie soll es noch scheinen. Es giebt keine Bruͤcke, die den bildenden Kuͤnstler aus seinem Gebiet in den Mittelpunkt einer solchen Dichtung hinuͤberfuͤhren koͤnnte, und so sollte er sich auch fuͤr zu gut halten, um an ihren aͤußersten Graͤnzen herumzuschleichen. Wo der Dichter dem Zeichner eigentlich die Hand bietet, wo bestimmter Umriß und Gruppirung fuͤr die Fantasie ist, wo sich schoͤne kraͤftige Gestalten, nicht von zweifelhafter oder verwickelter Deutung, in idealischem Kostum entschieden bewegen: da wird der Wink selten verstanden und benutzt. Welch eine Reihe von Bildern ließe sich nach dem neuen Pausias und seinem Blumenmaͤdchen entwerfen! Das Getuͤmmel des Gastmahls koͤnnte von der ruhigeren Gruppe des Saͤngers und seiner Geliebten eingefaßt werden, wie er von ihren Blumenketten umstrickt ihr zu Fuͤßen sitzt; und selbst in dieser Gruppe wuͤrde der empfindsame Blick eine Mannichfaltigkeit von Wendungen und Abstufungen sehn, die ohne Wiederhohlung in mehrern Bildern entfaltet

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/211>, abgerufen am 22.11.2024.